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„Als Christen der Gesellschaft gegenüber in der Bringschuld“

Ansprache von Dr. Franz Jung bei seiner Vereidigung als 89. Bischof von Würzburg im Prinz-Carl-Palais in München am Dienstag, 5. Juni 2018

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder,

sehr geehrter Herr Kultusminister Sibler,

lieber Diözesanadministrator Weihbischof Ulrich,

liebe Mitbrüder,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

herzlich danke ich Ihnen für Ihre freundlichen Worte der Begrüßung zu diesem feierlichen Anlass und für die Würdigung meiner Person. Für mich ist es heute ein besonderer Moment. Aufgrund der seit bayerischen Zeiten traditionell guten Beziehungen des Bistums Speyer zum Erzbistum München-Freising durfte ich als Pfälzer etliche Studienjahre hier ganz in der Nähe, im Herzoglichen Georgianum, verbringen. Hier habe ich sowohl das Grundstudium als auch – nach meinen römischen Studien – das Promotionsstudium absolviert. Am eleganten Prinz-Carl-Palais ging man immer ehrfürchtig vorbei auf dem Weg zum Haus der Kunst oder zum Bayerischen Nationalmuseum. Dass ich einmal selbst hier zu Gast sein dürfte, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Als wir uns auf den 1. Juni als Termin der Vereidigung verständigt hatten und ich mich fragte, wozu ich bei diesem Anlass sprechen könnte, warf ich einen Blick ins Martyrologium, also das Verzeichnis der Heiligen der Katholischen Kirche. Für den 1. Juni verweist es uns auf den Heiligen Justinus, den Märtyrer. Ich dachte: Das passt. Nun wurde der Termin verschoben auf den heutigen Dienstag. Nichtsdestoweniger lade ich Sie im Blick auf den vergangenen Freitag, an dem Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Papst Benedikt und Papst Franziskus in Rom begegnen durften, zu einer kleinen Zeitreise ein – auch nach Rom, aber ins zweite Jahrhundert nach Christus. Gibt es doch in dieser Zeit kaum einen politischeren Heiligen als den Märtyrer Justin.

Justin der Märtyrer

Geboren ist Justin um das Jahr 100 in Flavia Neapolis, dem heutigen Nablus, in Palästina. Als leidenschaftlicher Philosoph und Wahrheitssucher hat er endlose und frustrierende Diskussionen mit den unterschiedlichsten Heilslehrern seiner Zeit hinter sich gebracht. Da entdeckt er plötzlich durch eine glückliche Fügung das Christentum, das ihn sofort überzeugt. Stolz und selbstbewusst tritt er nun für seinen Glauben ein. Sein Weg führt ihn dabei von der Peripherie des römischen Reiches in dessen Herzmitte, nach Rom. Betroffen über die Verurteilung und Tötung von Christen nur aufgrund ihres Bekenntnisses zu Christus, des Bekenntnisses zum „nomen christianum“, sieht er sich herausgefordert, Stellung zu beziehen (1 Ap 4). Unerschrocken greift er zur Feder und richtet seine Verteidigungsschrift, die berühmte erste Apologie, an keinen Geringeren als an den römischen Kaiser selbst. Es ist Kaiser Antoninus Pius, der Vater des Mark Aurel.

Christliche Aufklärung

Der Mut des Justin ist bemerkenswert. Obwohl Angehöriger einer verfolgten Minderheit, duckt er sich nicht weg und lässt sich den Mund nicht verbieten. Er sieht es als seine und der Christen heilige Pflicht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Er schreibt: „Unsere Aufgabe ist es also, allen die Sicht auf unser Leben und auf unsere Lehren zu ermöglichen, damit wir selbst nicht die Strafe auf uns laden für Leute, die mit unseren Verhältnissen unvertraut sind und aus Unwissenheit Fehler machen“ (1 Ap 3).Zugleich – so die Pointe – versteht er seine Bildungsoffensive als gutes Werk an den Verfolgern der Christen. Denn er möchte die politisch Verantwortlichen vor dem göttlichen Strafgericht bewahren. Es droht all denen, die Unschuldige verurteilen. Das gelingt allerdings nur, wenn die Herrschenden ihre Aufgabe erkennen,„uns vernünftig zuzuhören und sich dann als gerechte Richter zu zeigen. Denn, wenn ihr wohl informiert seid, dann wird es für euch bei Gott keine Entschuldigung mehr geben, wenn ihr nicht Gerechtigkeit übt“, (1 Ap 3),so Justin.

Was Justin hier formuliert, kann auch für unsere Zeit gelten. Natürlich sind die Vorzeichen gerade umgekehrt: Wir leben nicht in einer Minderheitensituation und sind nicht auf dem Weg zur Großkirche. Sondern wir leben in Zeiten einer sich langsam auflösenden Volkskirche und noch ist offen, wohin uns der Geist Gottes in den kommenden Jahren führen wird. Aber die Herausforderung ist nach wie vor dieselbe: Wir stehen als Christen der Gesellschaft gegenüber in der Bringschuld. An uns Christen ist es, klar zu machen, was wir glauben, was unsere Positionen und Standpunkte sind, und so in den Dialog mit den Menschen zu treten und damit möglichen Fehlurteilen und Missverständnissen vorzubeugen.

Dämonen, die die Wahrheitssuche erschweren

Dass sich die Wahrheit der christlichen Botschaft seinen Zeitgenossen nicht ohne weiteres erschließt, dass sie diese Wahrheit nur entstellt oder bruchstückhaft kennen, schreibt Justin den Dämonen zu (1 Ap 5). Ihr Treiben verdunkelt die Wahrheit und verhindert ein wirkliches Gespräch. Auch das ist uns heute nicht fremd. Wir kennen sehr gut die Dämonen unserer Zeit, die einen echten Dialog und eine wirkliche Verständigung unterbinden. Dazu gehört sicher die Empörungskultur unserer Tage, die oftmals reflexartig mit der Unterstellung böser Absichten und mit Schuldzuschreibungen operiert. Dazu gehört auch der Zwang, alles möglichst schnell, hart und medienwirksam zu kommentieren, auch wenn der verhandelte Sachverhalt noch gar nicht klar ist. Dazu gehört nicht zuletzt die fehlende Bereitschaft, den Anderen zu Wort kommen zu lassen, ihm zuzuhören und sich mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen. Wahrheitssuche beziehungsweise das Ringen um die Wahrheit braucht die notwendige Ruhe zur Unterscheidung. Dessen war Justin sich sehr wohl bewusst und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Christentum als Philosophie

Die Frage nach der Wahrheit bringt es mit sich, dass Justin vom Christentum immer als einer Philosophie spricht. Das mag zunächst Verwunderung hervorrufen. Es erklärt sich aber mit Blick auf das Religionsverständnis seiner Zeit. Unter Religion verstand der antike Mensch zuerst kultische Handlungen. Da es viele Götter in einem unendlich erweiterbaren Pantheon gab, konnte man seiner Frömmigkeit in den unterschiedlichsten Kulten Ausdruck verleihen. Man sah überhaupt kein Problem darin, an den Mysterienfeiern teilzunehmen und zugleich einem der traditionellen oder fremden Götter zu opfern, die durch die Ausweitung des Imperiums allenthalben Einzug gehalten hatten.Das Christentum hingegen verehrte allein den einen Gott. Und diese Verehrung beschränkte sich nicht auf fromme Kulthandlungen, sondern ging einher mit einem Wahrheitsanspruch, der auf die Änderung des persönlichen Lebens verpflichtete. Christentum ist also weit mehr als nur Religion. Gleich den Philosophien bietet es Lebensorientierungswissen. Und es hält dazu an, seine Lebensführung danach auszurichten. Eine neue Qualität. Anstößig damals wie heute, wo sich jeder seine eigene Weltanschauung patchworkartig zusammenstellte und zusammenstellt.

Die Wahrheit der Anderen wertschätzen

Auch wenn Justin stolz bekennt, die Wahrheit gefunden zu haben, sieht er dennoch die Verpflichtung zum Dialog. Mit dem stoischen Begriff der „logoi spermatikoi“, der „Samenkörner der Wahrheit (des Logos)“, sucht er nach Entsprechungen, Analogien oder möglichen Anknüpfungspunkten zur christlichen Wahrheit. Denn er ist davon überzeugt, dass im gemeinsamen Gespräch eine Annäherung und Verständigung möglich ist. Auch das ist ein wichtiger Hinweis des Justin für unsere Tage. Gerade in einer Gesellschaft, in der viele unterschiedliche Weltanschauungen und religiöse Überzeugungen miteinander konkurrieren, verpflichtet Justin uns, den Dialog nicht abreißen zu lassen. Er selbst kommt ohne jeden Kulturpessimismus und ohne die Abwertung anderer Überzeugungen aus. Justins Haltung ist von der Zuversicht getragen, durch das Gespräch das Eigene vom Anderen her besser verstehen zu können. Was wäre wichtiger für eine Kirche, die heute missionarisch sein will?

Die Kontroversen zur Zeit Justins

Schaut man auf die kontroversen Themen, mit denen Justin aufwartet, staunt man nicht schlecht. Viele beschäftigen uns bis heute. Einige zentrale Themen seien hier kurz genannt:Justin spricht vom Auferstehungsglauben und der Frage nach dem rechten Umgang mit den Toten (1 Ap 19). Er betont den Lebensschutz und wendet sich vehement gegen die römische Praxis, Kinder auszusetzen (1 Ap 27). Er verteidigt die menschliche Freiheit und kämpft für die Eigenverantwortung und gegen den Fatalismus eines paganen Schicksalsglaubens (1 Ap 43). Er tritt ein für die Heiligung und den Schutz des Sonntags (wie dies im Übrigen auch die Bayerische Verfassung tut). Justin verdanken wir in diesem Kontext eine der ersten Beschreibungen des christlichen Sonntagsgottesdienstes überhaupt (1 Ap 67). Nicht zuletzt spricht er ausführlich vom verstörendsten Symbol der Christen in der paganen Umwelt, von der Bedeutung des Kreuzes. Wie alle frühen Theologen deutet er das Kreuz als kosmisches Symbol. Es ist der Welt allenthalben eingeschrieben und in den alltäglichsten Verrichtungen neu zu entdecken: in den kreuzförmigen Rahen der Segelschiffe genauso wie im kreuzförmigen Pflug und in den ausgestreckten Flügeln der Vögel. Die ganze Welt steht unter dem Kreuz (1 Ap 55.60). Insofern ist das Kreuz ein überzeitliches Symbol, das die Menschen aller Zeiten miteinander verbindet. Im Kreuz erkennen sie ihre Fehlbarkeit und Schuld. Zugleich vermittelt ihnen das Kreuz den Zuspruch der vergebenden Liebe Gottes. Und es mahnt uns als kosmisches Symbol bis heute, in allen Leidenden und Geschundenen dieser Welt den leidenden und geschundenen Christus wiederzuerkennen, der nach unserem Mitgefühl und unserer Solidarität verlangt.

Wahrheitsanspruch und Martyrium

Gegen Beliebigkeit und Gleichgültigkeit setzt Justin auf das Lebenszeugnis. Er bekennt, auf die Wahrheit des Christentums überhaupt erst durch die Märtyrer aufmerksam geworden zu sein (1Ap 25 / 2Ap 12). Er fragt sich angesichts des gewaltsamen Todes der Christen bestürzt, ob es denn so etwas geben könne: Eine Wahrheit, die im Leben trägt und auch im Tod? Eine Wahrheit, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt? In Christus als dem ersten und vornehmsten der Märtyrer hat er diese Wahrheit gefunden. Und in seine Nachfolge und die der Märtyrer hat sich Justin selbst eingereiht, als er um 165 nach Christus für seinen christlichen Glauben in den Tod ging.

Notwendigkeit von Zeugen

In Zeiten des religiösen Terrors hören wir den Begriff des Märtyrers mit sehr gemischten Gefühlen. Denn im Kontext von Terroranschlägen ist die Zuschreibung als Märtyrer aus christlicher Sicht abzulehnen. Mörder können nie als Märtyrer und damit als Helden oder Vorbilder gelten. Und dennoch: Das griechische Wort Märtyrer heißt übersetzt nichts anderes als Zeuge. Und genau diese braucht heute unsere Gesellschaft und unsere Kirche mehr denn je. Menschen mit festen Überzeugungen. Zeugen eben, die der Beliebigkeit und Gleichgültigkeit eine Absage erteilen. Die sich selbst in die Verantwortung nehmen lassen und auch bereit sind, dafür öffentlich einzustehen. Vergessen wir darüber aber auch nicht das wirkliche Blutzeugnis so vieler Christen unserer Tage. Christen sind heute die weltweit am meisten verfolgten Angehörigen einer Religion, auch wenn diese beunruhigende Tatsache in unseren Breiten oft nur mit einem gewissen Schulterzucken zur Kenntnis genommen wird.

Der christliche Wahrheitsanspruch und die Selbstverpflichtung, gute Bürger zu sein

Ich komme zum Schluss. Gerade weil es im Christentum um Wahrheit geht und gerade weil sich Christen diesem Wahrheitsanspruch verpflichtet wissen, sind sie in der Sicht des Justin ausgezeichnete Untertanen. Ihre Zuverlässigkeit resultiert allerdings nicht zuerst aus der Verfassungstreue der Christen, so sehr Justin den Kaiser der Loyalität der Christen versichert. Sondern sie resultiert aus ihrem Glauben an ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. In ihm finden nach Justin die Christen ihre eigentliche Heimat. Der Glaube an dieses Reich Gottes und die Hoffnung auf eine bessere Welt sind es, die Christen motivieren, sich in großer Wahrhaftigkeit und Treue einzusetzen für das Gelingen des Ganzen, weit über die Grenzen der Kirche hinaus – bis in unsere Tage. Insofern sind Staat und Kirche weder identisch, noch gänzlich voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen. Der Staat – und das ist Justins feste Überzeugung – profitiert davon, dass es die Christen als Bürger zweier Reiche gibt, die mit ihrer doppelten Loyalität zum irdischen Gemeinwesen und zum himmlischen Reich ihren Beitrag zu einem menschenwürdigen Miteinander leisten. Sie tun das heute nicht mehr in einem Kaiserreich, sondern in einer Demokratie, deren gesellschaftlichen Pluralismus sie ausdrücklich bejahen und die sie als engagierte, bisweilen auch streitbare Bürgerinnen und Bürger nach christlichen Werten mitgestalten wollen. Die Erwartung des göttlichen Gerichtes macht dabei weder Justin noch uns Angst. Es erfüllt uns vielmehr mit Zuversicht, dass Gott einmal all das zurechtrückt und gerade richtet, was Menschen immer nur bruchstückhaft und ansatzweise gelingt. Ein tröstlicher und zugleich ermutigender Gedanke – heute wie vor 1900 Jahren.

„Franken/Bayern und Pfalz, Gott erhalt‘s!“

Im Geist des Heiligen Justin verspreche ich Ihnen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, und der Bayerischen Staatsregierung gerne, diese Gesellschaft als Partner mit Ihnen zusammen gestalten zu wollen. Ich bin dabei froh, nicht wie Justin in der beständigen Unsicherheit und Angst leben zu müssen, was die Bedrohung an Leib und Leben angeht. Wir dürfen von Glück reden, dass uns die bayerische Verfassung die Freiheit der Religionsausübung einräumt in einem Freistaat und einem Bundesland, das wie wenige in Deutschland auf eine lange katholische Tradition und christliche Prägung zurückblicken darf. Möge diese Tradition auch und gerade durch die Anstöße, die der Heilige Justin uns mitgibt, weiter gepflegt und vertieft werden .In diesem Sinne schließe ich mit den Worten, die mir unser Bischof emeritus Dr. Anton Schlembach, der aus Unterfranken stammt, auf den Weg von Speyer nach Würzburg mitgab: „Franken und Pfalz, Gott erhalt’s!“ Und ich darf diesen Wunsch hier und heute auf ganz Bayern ausweiten: „Bayern und Pfalz, Gott erhalt’s!“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!