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Dokumentation

Ansprache von Bischof Dr. Franz Jung bei der Gedenkfeier im Würzburger Kiliansdom am Sonntag, 27. Juni 2021

Mein erster Gruß gilt heute Ihnen, den Familien und Angehörigen der Opfer,
ebenso herzlich grüße ich Sie
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin a.D.,
sehr geehrte Herren Innenminister des Bundes und des Landes,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Dr. Schuster,
sehr geehrter Herr Bastürk,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Politik und des Öffentlichen Lebens,
liebe Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt,
liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

I.
„Du hast mich aus dem Frieden hinausgestoßen;
ich habe vergessen, was Glück ist.“

Mit dieser erschütternden Feststellung hebt das dritte Klagelied des Propheten Jeremia an, das wir eben in der Lesung gehört haben. Es kennzeichnet die Wucht dieser Worte, dass sie uns in der momentanen Situation unmittelbar anrühren, auch mit dem Abstand von 2.500 Jahren. Wir hören sie nicht nur als Klage über die zerstörte Stadt Jerusalem, sondern auch als Klage über unsere Stadt Würzburg.

„Aus dem Frieden hinausgestoßen“: Dieses Gefühl deckt sich mit unserem Empfinden, heute am zweiten Tag nach den erschreckenden Ereignissen am Würzburger Barbarossaplatz. Drei Frauen haben ihr Leben verloren, sieben Personen wurden schwer verletzt und vielen Familien ist unendliches Leid widerfahren.

„Aus dem Frieden herausgestoßen“. Mit einem Schlag wurde uns wieder ins Bewusstsein gerufen, wie brüchig unsere scheinbare Normalität ist.

Statt in ein ruhiges Wochenende überzuleiten, riss der letzte Freitagabend uns aus unserer Ruhe heraus, bescherte uns Stunden quälender Ungewissheit und hinterließ uns in Schockstarre und Angst. „Vergessen, was Glück ist“, so formuliert es der Prophet. Knapper und präziser könnte man es kaum sagen.

II.
„Ich sprach: Dahin ist mein Glanz und mein Vertrauen auf den HERRN.“

Was der Beter formuliert, trifft auch unser Empfinden. Denn wir suchen nach Erklärungen und finden sie nicht. Wir möchten verstehen und begreifen nicht. Wir wollen es nachvollziehen und bleiben doch immer wieder hängen in unserem Bemühen, das Unbegreifliche begreiflich zu machen.
Und selbst wenn es Erklärungen gäbe, und selbst wenn wir den Tathergang aufklären könnten, so bliebe doch immer noch offen, warum es genau diese drei Frauen und diese Verletzten getroffen hat.
Gerade das Irrationale macht uns Angst. Es erschüttert unser Vertrauen, wie der Prophet sagt. Es erschüttert unser Vertrauen in andere Menschen. Es erschüttert unser Vertrauen in eine stabile Ordnung menschlichen Zusammenlebens.

Im Letzten erschüttert es unser Vertrauen in Gott.

„Dahin ist mein Glanz“, so klagt der Prophet. Der Glanz ist dem Schleier der Trauer gewichen. In diese mischt sich der Zorn. Die Empörung klagt an. Der Wunsch nach Vergeltung meldet sich. Über allem aber steht am Ende das lähmende Gefühl der Ohnmacht. Das Empfinden der eigenen Hilflosigkeit tut weh – auch wenn so viele Menschen am Ende dankenswerterweise mitgeholfen, mitgesorgt, ja mitgebangt haben, so dass noch Schlimmeres verhindert werden konnte.

Die Hilflosigkeit führt uns an unsere Grenzen und zeigt uns unsere Endlichkeit. Gerade in dieser Hilflosigkeit wollen wir heute einfach Präsenz zeigen. Wir wollen aushalten. Aushalten unsere eigene Ohnmacht. Aushalten bei den Angehörigen der Toten und Verletzten, denen unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gilt in dieser so schweren Stunde.

III.
„An meine Not und Unrast denken ist Wermut und Gift.
Immer denkt meine Seele daran und ist betrübt in mir.“

An Not und Unrast denken ist bitter wie Wermut und todbringend wie Gift, so empfindet es der Prophet. Aber die Bilder des Schreckens haben sich den Augenzeugen eingebrannt. Gerne wollte man sie vergessen, weil sie das Entsetzen des Augenblicks immer wieder wachrufen. Aber wir können sie nicht vergessen. Sie verfolgen uns. Immer denkt die Seele daran und ist betrübt.

Es ist die traumatische Unrast und die seelische Not, mit dem Erlebten umgehen zu müssen. Es sind Bilder, die noch viele Menschen lange verfolgen werden, die Verletzten wie die Ersthelfer, die Augenzeugen wie die Rettungskräfte.

Mein Dank gilt allen, die Notfallseelsorge geleistet haben. Durch ihre Unterstützung haben sie dazu beigetragen und tragen weiterhin dazu bei, dass traumatisierte Menschen mit diesen bedrängenden Bildern nicht alleine gelassen werden. Mögen diese Eindrücke in all ihrer Brutalität nicht der Wermut sein, der ein Leben nach der Bluttat vollends vergiftet.

IV.
„Das will ich mir zu Herzen nehmen, darauf darf ich harren:
Die Huld des HERRN ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende.
Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue.“

Erschöpft von all seiner Trauer und entkräftet vom Klagen fasst sich der Prophet dann doch noch ein Herz. Auch wenn er erschöpft ist, die Huld des Herrn ist nicht erschöpft. Das ist die Gewissheit, an der er sich aufrichtet. Auch wenn sein Traum von der heiligen Stadt Jerusalem brutal zerstört wurde, Gott gibt die Stadt nicht auf.

Es gibt diesen Traum von einer heiligen Stadt. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, träumt diesen Traum. In unserem Dom ist dieser Traum so herrlich dargestellt im Chorraum. Denn diese heilige Stadt, dieses neue Jerusalem senkt sich vom Himmel her auf diese Erde herab.

Es ist die Stadt, in der Gewalt nicht mit Gewalt beantwortet wird.
Die Stadt, in der Angst nicht in Aggression umschlägt.
Die Stadt, in der Verzweiflung nicht in Hass mündet.
Die Stadt, in der Verletzung nicht neue Verletzung gebiert.

Denn es ist die Stadt dessen, der selbst gewaltsam ums Leben gebracht wurde und der im Tod dem Leben endgültig die Bahn gebrochen hat.
Es ist die Stadt, von der es heißt, dass Gott in ihr alle Tränen von den Augen abwischen wird. „Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)

Ja, es ist die Stadt, von der wir alle träumen.
Die Stadt, nach der wir uns alle sehnen.
Die Stadt, zu der wir alle im Glauben unterwegs sind.
Die Stadt, die wir schauen wollen, nicht erst am Ende, sondern schon jetzt.
Und vielleicht ist der furchtbare Schrecken dieser Tage auch als Einladung zu begreifen, den Traum von dieser Stadt nicht aufzugeben, sondern jetzt erst recht zu träumen.

Denn das Erbarmen des Herrn ist eben nicht am Ende, wie es der Prophet Jeremia sieht. Neu ist es an jedem Morgen. Neu ist es an jedem Morgen, an dem wir den Traum der heiligen Stadt träumen und diesen Traum zu leben beginnen. Nur so können wir das Morgenrot wecken (Ps 57,9) und die Hoffnung auf Versöhnung und Frieden wachhalten.

V.
Mein Anteil ist der HERR, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn.
Gut ist der HERR zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht.
Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des HERRN.

Ja, gut ist der Herr zu dem, der auf ihn hofft und zur Seele, die ihn aufrichtig sucht. Und: Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn. Das wollen wir jetzt tun: Schweigend harren auf die Hilfe des Herrn. Schweigend, weil uns die Worte fehlen angesichts der Dimensionen dessen, was da mitten unter uns geschehen ist. Schweigend, weil das Erlebte Raum braucht, um im Prozess der Trauer verarbeitet werden zu können. Schweigend, weil unsere Anteilnahme keine Worte verträgt, aber auch keine Worte braucht, wenn liebende Gegenwart uns in dieser Stunde erfüllt. Schweigend, weil Gott sein Wort des Trostes erst in unsere Sprachlosigkeit hineinsprechen kann.

Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn.

So wollen wir im Schweigen nun den Toten unser liebendes Andenken bewahren, die Verwundeten an Leib und Seele in unser stilles Gebet einschließen, der Polizei und den Rettungskräften für ihren hochherzigen und aufopferungsvollen Einsatz danken und wir wollen bitten um Frieden und Versöhnung angesichts der erfahrenen Schrecken. Denn nur so wird nach den Tagen der Trauer ein Neuanfang möglich werden, über dem der Segen Gottes liegt. Amen.