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„Auch die Gesellschaft wird sich verändern müssen“

Interview mit Thomas Kipple, Fachbereichsleiter für Flüchtlingsberatung und Integration, über die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht und seine Einschätzung zum Gelingen der Integration von Flüchtlingen – „Ein Patentrezept gibt es natürlich nicht“

Würzburg (POW) Thomas Kipple ist Fachbereichsleiter des Bereichs Flüchtlingsberatung und Integration im Dienste der Caritas in Würzburg und beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit Flüchtlingshilfe. Im POW-Interview bezieht er Stellung zu den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln und gibt einen Überblick auf die Auswirkungen auf die Flüchtlingsarbeit in Unterfranken. Auch schätzt er die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Integration ein.

POW: Haben Sie die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln und die Ermittlungsergebnisse der Polizei überrascht?

Thomas Kipple: Ja, durchaus. Ich bin nun seit 30 Jahren im Bereich der Flüchtlingshilfe tätig, auch auf Bundesebene, und habe so ein Verhalten noch nicht erlebt. Ich bin persönlich auch der Überzeugung, dass es sich nicht um Flüchtlinge und Asylbewerber handelt, die auf ihrer Suche nach Schutz zu uns gekommen sind. Es geht ganz klar um Kriminelle, die auf dem „Trittbrett“ Asyl ihre Taten begehen.

POW: Kam es schon einmal zu ähnlichen Vorfällen in Unterfranken, an denen Asylbewerber beteiligt waren?

Kipple: Es kam und kommt immer wieder zu Gewalt innerhalb von Flüchtlingsheimen oder Straftaten im Bereich von Eigentumsdelikten oder Vergleichbarem. Aber organisierte Gewalt gegen Frauen oder Überfälle in dieser Dimension sind nicht vorgekommen.

POW: Halten Sie es für möglich, dass es in Unterfranken auch zu solchen Vorfällen wie in Köln kommen kann?

Kipple: Ich kann es mir, mit Blick auf die Flüchtlinge, die ich kenne, nicht vorstellen. Ausschließen kann man es aber nicht.

POW: Hat sich das Verhalten gegenüber Asylbewerbern in Unterfranken seit diesen Übergriffen geändert?

Kipple: Nach den Rückmeldungen unserer Beratungsdienste kann ich sagen, dass viele Menschen, wie bisher auch schon, die Frage der Flüchtlingsaufnahme weit differenzierter und umfassender wahrnehmen, als dies zurzeit durch Politik und Medien geschieht. Die Haltung gegenüber  Flüchtlingen ist sowohl aufgrund der Ereignisse, aber auch aufgrund der permanenten Medienpräsenz und Berichterstattung deutlich kritischer geworden.

POW: Hatten die Ereignisse der Silvesternacht auch Auswirkungen auf das Engagement und die Stimmung der vielen freiwilligen Helfer?

Kipple: Direkte Auswirkungen sind noch nicht zu spüren. Wir befürchten aber, dass bei einem weiteren Stimmungswandel die Bereitschaft zur Hilfe zurückgehen wird, besonders bei neu entstehenden Unterkünften.

POW: Wie haben die Flüchtlinge selbst auf die Ereignisse reagiert?

Kipple: In Würzburg hat sich gezeigt, dass sich Flüchtlinge für die Übergriffe schämen und ebenfalls fassungslos sind. Syrische Flüchtlinge haben als Ausdruck ihrer Haltung am Bahnhofsvorplatz Blumen besonders an Frauen verteilt. Das war eine Aktion, die gut angekommen ist. Wir nehmen aber auch wahr, dass viele Flüchtlinge jetzt Angst haben, in „Sippenhaft“ genommen zu werden, und Nachteile in ihrem Asylverfahren und weiterem Zusammenleben in ihrem Umfeld hinnehmen zu müssen.

POW: Haben sich Menschen aus der unterfränkischen Bevölkerung an die Caritas gewandt und zu den Vorfällen Stellung genommen?

Kipple: Bisher sind mir keine direkten Meldungen bekannt. Mich persönlich haben ehrenamtliche Helfer auf die Vorfälle angesprochen. In der Mehrzahl haben sie der Angst Ausdruck verliehen, dass durch die Ereignisse dem rechten politischen Spektrum geholfen ist, sich die Situation für die Flüchtlinge aber durch Vorurteile und Vorverurteilung verschlechtert.

POW: Die größtenteils sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen und Mädchen werden in der öffentlichen Diskussion oftmals auf das Frauenbild in den muslimischen Heimatländern der Flüchtlinge zurückgeführt. Welche Erfahrungen haben Sie damit bislang gemacht?

Kipple: Unsere Erfahrung zeigt, dass dieses Frauenbild tatsächlich eine reibungslose Integration erschwert. Deshalb muss im Vorfeld zum dauerhaften Aufenthalt dringend der Spracherwerb und eine „Einführung“ in unsere Kultur stehen. Auch mit der Option, unsere Lebensweise nicht zu akzeptieren und dann wieder in die Heimat zurückzukehren.

POW: Eine Diskussion über integrative Maßnahmen und deren Grenzen beschäftigt nun die Berichterstattung, Politik, Öffentlichkeit und die sozialen Netzwerke. Welche integrativen kulturellen Maßnahmen bietet und unterstützt die Diözese?

Kipple: Kirche und Caritas bieten ein breites Spektrum an Maßnahmen. Das reicht von professionellen Diensten wie Erstberatung von Flüchtlingen, Migrationsberatungsstellen für Bleibeberechtigte und Zusammenarbeit mit Sprachkursträgern bis hin zur Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit dem Gesamtpaket Schule, Schulabschluss und Begleitung in die Berufsausbildung. Daneben wird natürlich in Kindertagesstätten und Einrichtungen, wie in den allgemeinen sozialen Diensten, Wert auf interkulturelle Kompetenz und Arbeitsweise gelegt. Flankierend gibt es ein enges Netz der Gemeindecaritas, in dem sich Ehrenamtliche engagieren und Flüchtlingen besonders durch persönliche Patenschaften und Sprachkurse helfen.

POW: Wie schätzen Sie die Situation selbst ein? Ist es möglich, die kulturelle Kluft zu überwinden und Flüchtlinge erfolgreich und vollständig in Deutschland zu integrieren?

Kipple: Ich bin davon überzeugt: Wenn der gesellschaftliche Konsens und der politische Wille gegeben sind, kann diese Kluft überwunden werden. Es muss aber auch klar sein, dass Integration nicht bedeuten kann, dass nur der Ausländer einen Assimilationsprozess durchlaufen muss. Auch die Gesellschaft wird sich verändern müssen, um ein gemeinsames Zusammenleben zu gestalten.

POW: Was ist dafür nötig? Wo muss noch mehr gemacht werden? Und wie lange wird das dauern?

Kipple: Wir stehen erst am Anfang. Und der Prozess wird lange dauern. Ich schätze zehn bis 15 Jahre für die, die jetzt in so großer Zahl gekommen sind. Notwendig dafür sind unsere Offenheit und die Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen. Wichtigste Voraussetzungen sind die Möglichkeit zum Spracherwerb und sinnvolle Integrationskurse und Maßnahmen. Im Zweifelsfall muss es auch eine Verpflichtung dazu geben.

POW: Viele Menschen haben nun Angst und Bedenken wegen der großen Anzahl Flüchtlinge, die momentan in Deutschland leben und im Jahr 2016 noch kommen werden. Was kann man tun, um Vorurteilen entgegenzuwirken?

Kipple: Ein Patentrezept gibt es natürlich nicht. Aber Vorurteilen entgegenwirken kann man am besten durch das eigene Tun. Auch ein immer wieder aktives Zugehen auf beide Seiten, die Flüchtlinge und die „Flüchtlingsgegner“, ist hilfreich. Hier können wir viel von den tausenden aktiven Ehrenamtlichen lernen.

Interview: Antonia Schlosser (POW)

(0416/0112; E-Mail voraus)

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