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„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“

Gedanken von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand bei der Gedenkfeier am 10. November 2008 in der Synagoge von Memmelsdorf/Ufr.

„Der Stein schreit aus der Mauer“ (Hab 2,11). Mit dieser alttestamentlichen Bibelstelle hat ein Zeitzeuge sein tiefes Entsetzen darüber ausgedrückt, was vor 70 Jahren geschehen ist: In einer bis dahin nicht erlebten Verwüstungsaktion, die von der Naziregierung organisiert war, wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überall in Deutschland jüdische Synagogen und Friedhöfe geschändet, angezündet oder zerstört, jüdische Geschäfte, Häuser und Wohnungen wurden geplündert und demoliert. Über 400 Juden kamen dabei gewaltsam ums Leben; in den folgenden Tagen wurden weitere 30.000 in Konzentrationslager verschleppt. Die damaligen Ausschreitungen waren eine weitere Radikalisierung der Judenverfolgung, die schon seit 1933 mit einer systematischen Einschränkung der Rechte von knapp 600.000 jüdischen Mitbürgern im Deutschen Reich begonnen hatte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren von denen, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, 180.000 ermordet; weltweit kamen in diesem unvorstellbaren Holocaust, der durch den menschenverachtenden Rassenwahn eines verbrecherischen Regimes ins Werk gesetzt wurde, sechs Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder ums Leben.

Wenn in dieser ehemaligen Landsynagoge, einer von 168, die vor 1938 in Franken bestanden, das schlimme Geschehen von damals thematisiert wird, darf es nicht bei einem bloß historischen Rückblick auf einen der schlimmsten Tage deutscher Geschichte bleiben. Es stellt sich gerade an diesem Ort die Frage, welche Art des Gedenkens für uns als Christen angemessen ist, damit aus der bedrückenden Einsicht in die Vergangenheit eine befreiende Aussicht auf die Zukunft erwachsen kann. Dabei darf gerade im Blick auf die Terrormaßnahmen vor 70 Jahren nichts beschönigt werden, denn im Unterschied zu den späteren Mordaktionen in den Vernichtungslagern der Nazis spielten sich die Vorgänge in der Nacht des 9. November vor aller Augen ab. Es gab damals viel Gleichgültigkeit und Gemeinheit bis zur Beteiligung an den Plünderungen, zum Teil unverhohlene Schadenfreude, aber auch Zeichen des Mitgefühls und der Empörung. „Der Stein schreit aus der Mauer“ – der eingangs erwähnte Bibelvers wirkt auch heute noch wie eine Anklage, wenn es darum geht, das Unfassbare von damals ins Wort zu bringen.

Es geht gerade für uns Christen um ein Lernen aus der Schuldgeschichte am jüdischen Volk; denn man kann sich nicht mit der Zukunft beschäftigen und dabei das Vergangene ignorieren, indem man einfach einen Schlussstrich zieht. Das ist nicht möglich. Perspektiven für ein tragfähiges Miteinander von Juden und Christen lassen sich nur gewinnen, wenn das Geschehene – sicher oft mühsam – aufgearbeitet und in einen neuen Zusammenhang gestellt wird. Den Schlüssel dafür sehe ich in der Inschrift, die über der Gedenkstätte Jad Waschem in Jerusalem steht, die den Opfern der Shoa gewidmet ist: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Ich sehe darin einen wichtigen Hinweis, wie wir heute von Schuld, Leid und Versöhnung reden können, ohne dass Belastendes verdrängt und zugleich Ermutigendes übersehen wird. Ich möchte dabei aber nicht im Allgemeinen bleiben, sondern an persönliche Erlebnisse im Umgang mit den Folgen des Geschehens von damals anknüpfen und damit Gedanken verbinden, die vielleicht für uns alle wichtig sind.

1. Hörend und lernend teilnehmen

Ein erstes Erlebnis bezieht sich auf die Einweihung der neuen Würzburger Synagoge im Jahr 1970. Ich stand damals kurz vor dem Abitur; ich erinnere mich noch genau, wie kurz darauf ein Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, das den Naziterror überlebt hatte, bei uns im Religionsunterricht zu Gast war. Als wir ihn seinerzeit fragten, mit welchen Gefühlen er diese Einweihungsfeier erlebt habe, gab er unumwunden zu, dass zunächst schlimme Erinnerungen in ihm hochgekommen seien: an ermordete Angehörige, an die Vernichtung der beruflichen Existenzgrundlage und vieles andere mehr. Ein Zeichen der Hoffnung sei für ihn jedoch der Moment gewesen, als der damalige Würzburger Bischof Josef Stangl dem Rabbiner und dem Gemeindevorstand eine Thorarolle überreichte, die 1938 ein Pfarrer aus der brennenden Synagoge seiner Gemeinde gerettet hatte. Ihm sei dabei aufgegangen, so dieser Zeitzeuge, dass eine versöhnte Zukunft von Juden und Christen nur im gemeinsamen Mühen um die Bewahrung des biblischen Gotteswortes möglich sein werde. Auf seine Weise hat Bischof Stangl, der sich schon vorher auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit großem persönlichen Einsatz für eine wegweisende Erklärung der katholischen Kirche zum jüdischen Volk stark gemacht hatte, diese Einsicht im letzten Jahr seines Lebens (1978) noch einmal so formuliert: „Juden und Christen verstehen sich beide als Zeugen eines Gottes, von dem her keine Kluft zu dieser Welt hin besteht. Er ist ein Gott, dessen Nähe und Gegenwart uns gewährt ist. Diese Gegenwart Gottes gibt uns zu jeder Stunde Sicherheit und unseren tausend Ängsten Halt. So werden wir zu Trägern der Hoffnung für alle in dieser Welt, die leer sind und ohne Sinn dahinleben. Wir Christen wollen künftig noch mehr auf die Gotteserfahrung Israels achten. Wir möchten hörend und lernend an der Existenz Israels teilnehmen.“

Hörend und lernend teilnehmen – in diesen Worten unseres verstorbenen Bischofs finde ich einen Zugang zu tragfähiger Versöhnung auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens an einen Gott, der über der Geschichte steht und zugleich in der Geschichte wirkt. Nur so lassen sich Misstrauen und Argwohn abbauen. Nur so wird aus der Rückschau in die Vergangenheit eine echte Zeitgenossenschaft zwischen heute lebenden Juden und Christen möglich. Denn es reicht nicht aus, dass sich Christen auf ihre jüdischen Wurzeln aus biblischer Zeit besinnen. Es gibt gerade in einer pluralen Gesellschaft wie der unseren, in welcher der Glaube nicht mehr das Fundament, sondern allenfalls ein Element im Ganzen darstellt, gemeinsame Herausforderungen und Aufgaben von Juden und Christen, die gerade im Horizont von Schuld und Versöhnung wichtig werden: Etwa die Frage, wie mit ökologischen Problemen umzugehen ist, wenn die Welt im jüdisch/christlichen Verständnis als Schöpfung Gottes gesehen wird; die Argumente in der Debatte um Fragen der Gentechnik und Bioethik, wenn es um die gemeinsame Sicherung der Menschenwürde und des Lebensschutzes geht, die Positionierung in der Familien- und Sozialpolitik oder auch um die Haltung im Streit um den Gottesbezug im Grundlagenvertrag einer europäischen Gemeinschaft, die ja nicht nur auf Werten des christlichen Abendlandes aufbaut, sondern auch Elemente der jüdischen Tradition integriert. Natürlich ist auch das Judentum insgesamt pluraler geworden – es gibt orthodoxe, reformierte und liberale Ausrichtungen; dazu kommt speziell bei uns die Riesenaufgabe einer Integration jener jüdischen Mitbürger, die in den 90er Jahren nach der politischen Wende als Flüchtlinge aus den osteuropäischen Ländern kamen und oft mit den religiösen Fragen und Traditionen des Judentums überhaupt nicht mehr vertraut waren. Doch gerade in dieser Umbruchsituation aufgrund des gesellschaftlichen Wandels kann die gemeinsame Besinnung auf Gott und sein Wirken in der Welt eine Basis für das gemeinsame Mühen von Juden und Christen um die Schaffung einer gerechten Gesellschaft sein. Denn damit Erinnerung fruchtbar sein kann, braucht sie immer wieder neu die Kraft aus der Wurzel.

2. Dialog auf Augenhöhe

Eine andere prägende Erinnerung in der Aufarbeitung des Geschehens vor siebzig Jahren fällt in die Zeit, als ich für die Priesterausbildung in unserem Bistum verantwortlich war. Neben dem Seminargelände befindet sich das Grundstück, auf dem von 1841 bis 1938 die Hauptsynagoge der jüdischen Gemeinde Würzburgs stand. Nach dem Krieg wurde dieses Areal von einer jüdischen Organisation in Amerika, die von der dortigen Regierung als Rechtsnachfolgerin der früheren Gemeinden festgesetzt war, an die Diözese verkauft, die es dem Priesterseminar überließ. Diese Aktion geschah gegen den ausdrücklichen Willen der noch in Würzburg verbliebenen Juden, für die dieser Vorgang, wie Zeitzeugenberichte dokumentieren, äußerst schmerzlich war. Hintergrund dieses Verkaufs war die damals vorherrschende Einstellung im internationalen Judentum, dass im Land der Täter niemals mehr Nachkommen der Opfer wohnen könnten. Die Überlebenden des Holocaust saßen noch lange Zeit nach ihrem eigenen Bekunden „auf gepackten Koffern“, weil unklar war, welche Perspektiven für jüdisches Leben in Deutschland überhaupt möglich sein würden, zumal die meisten Zeugnisse einer über Jahrhunderte gewachsenen Kultur des Judentums nahezu völlig vernichtet waren. Der Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland konnte nach diesem radikalen, gewaltsamen geschichtlichen Einschnitt also nicht einfach an Vergangenes anknüpfen, sondern war zu einer völlig neuen Standortbestimmung genötigt. Gerade wenn man dies bedenkt, kann man es nachfühlen, wie schmerzhaft solche Maßnahmen wie die damalige Grundstücksveräußerung gegen den Willen der Überlebenden von diesen empfunden werden musste. Umso mehr hat es mich beeindruckt, als der inzwischen verstorbene langjährige Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde in Unterfranken, Senator David Schuster, bereit war, dieses Gelände im November 1988 erstmals seit der Zerstörung der Synagoge wieder zu betreten, um in einer Gedenkstunde an die Pogromnacht die Studenten unseres Priesterseminars zu einem aktiven Aufarbeiten der Geschichtslasten zu ermutigen. „Gerade Sie als künftige Priester der katholischen Kirche müssen im Wissen um die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens aktiv im Dienst der Erinnerung und Versöhnung stehen“, so lautete ein Satz seiner Ansprache. Uns alle hat dieser Schritt über trennende Gräben der Vergangenheit hinweg sehr bewegt. Schon damals klang auch der Wunsch an, der jüdischen Gemeinde den Rückerwerb dieses Grundstücks zu ermöglichen. Als ich David Schuster seinerzeit fragte, warum denn gerade dieser Ort für ihn so von Bedeutung sei, wo doch der Standort der Synagogen in Würzburg im Lauf der Jahrhunderte mehrfach gewechselt habe, gab er zur Antwort: „Die Jahrzehnte vom 19. bis ins 20. Jahrhundert waren erstmals die Zeit, in der Juden in Deutschland bürgerlich gleichberechtigt waren – deshalb ist für uns gerade dieser Platz so wichtig weil er eine Mahnung ist, dass das künftige Miteinander von Juden und Christen als Dialog auf Augenhöhe geführt werden muss“. Diese Begründung hat mich überzeugt; heute ist das ehemalige Synagogengrundstück wieder im Besitz der jüdischen Gemeinde und zu einem würdigen Ort des Gedenkens gestaltet worden. Der „Dialog auf Augenhöhe“ ist freilich eine bleibende Aufgabe, die in jeder Generation neu angegangen werden muss. Der 2003 abgeschlossene Staatsvertrag, der Ausdruck des erklärten Willens ist, dass „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“, wie es Ignatz Bubis schon früher formuliert hat, ein wichtiger Bestandteil unseres Landes sein sollen, kann dabei nur die rechtliche Grundlage für alle persönlichen Bemühungen bilden, sich immer wieder neu für ein Miteinander im Begegnen und Verstehen einzusetzen. Deshalb ist es ermutigend, wenn die Grundlagen für dieses Miteinander so früh wie möglich ansetzen, sei es im Religions- und Geschichtsunterricht oder wenn Schulklassen jüdische Kulturzentren und Synagogen besuchen. Nur aus der Bereitschaft zur Begegnung können Verständnis und Wertschätzung wachsen; dies ist auch der beste Weg, gerade junge Menschen gegen neues antisemitisches Gedankengut immun zu machen. Erinnerung braucht den Blick auf die Zukunft!

Schrei des Entsetzens – Ruf der Hoffnung

Eine weitere Erfahrung, wie Versöhnung die Bereitschaft zur Erinnerung braucht, ist mit meiner jetzigen Tätigkeit verbunden. Neben meiner Aufgabe als Generalvikar unseres Bistums bin ich auch Rektor der Marienkapelle, der Bürgerkirche im Herzen von Würzburg. Dieses Gotteshaus steht an einem Ort, der mit einem der schlimmsten Ereignisse der Stadtgeschichte verbunden ist: Vor fast 660 Jahren, im April 1349, führte fanatischer Hass schon einmal zur völligen Ausrottung jüdischen Lebens. Von der Gemeinde, die nicht zuletzt wegen ihrer Gelehrten einen hervorragenden Ruf im mittelalterlichen Europa genoss, blieben nur verbrannte Häuser und die Ruine der Synagoge übrig, deren Restmauern sich heute noch unter der Kirche befinden. Genährt wurde dieser Hass weiter Teile der Bürgerschaft gegen die Juden von einem Gemisch aus Argwohn, Angst und Aggressionen: Man schob einer Minderheit in der Bevölkerung die Schuld am Ausbruch der Pest zu; indem man sich dieser Menschen gewaltsam entledigte, wurde man gleichzeitig von den finanziellen Verpflichtungen frei, die nicht wenige Einwohner Juden gegenüber hatten. So ist die damalige Judenvernichtung in Würzburg und anderen süddeutschen Städten ein schlimmes Beispiel dafür, wie sich Massenhysterie und religiöser Fanatismus mit berechnendem Kalkül verbinden können. Vom 14. Jahrhundert führt die Erinnerung fast zwangsläufig zur Deportation der Juden aus Würzburg und Mainfranken in den Jahren 1941-43, der ebenfalls Verhetzung und Enteignung vorausgingen. Auch diese Zwangsmaßnahmen vollzogen sich – wie schon zuvor im November 1938 die Reichspogromnacht – in der Öffentlichkeit. Es ist beschämend, dass es beim Abtransport der Juden sogar zur Verhöhnung der Misshandelten kam, als sie sich auf dem Weg zum Bahnhof befanden, von wo aus die Fahrt in die Vernichtungslager ging. Welche Form der Erinnerung an diese schlimmen Geschehnisse ist heute notwendig? Gewiss ist es wichtig, dass diese Fakten bei Stadtführungen und Gedenkfeiern benannt werden. Ich selbst betone in unserer Marienkapelle immer wieder, dass die Geschichte dieses Gotteshauses nicht als christliche Kirche, sondern als jüdische Synagoge beginnt – beides gehört untrennbar zusammen und hat für mich einen hohen Symbolwert im Blick auf die Beziehung von Christen und Juden überhaupt. Angestoßen durch das Zweite Vatikanische Konzil haben wir neu gelernt, dass zum Beispiel der ökumenische Dialog der getrennten christlichen Kirchen nur Substanz hat, wenn die Neubesinnung auf das gemeinsame Erbe aus dem Judentum erfolgt. Echte Erinnerung muss diese Einsicht verinnerlichen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Spaltung der Christenheit dauerhaft nur überwunden werden kann, wenn sie einen neuen Bezug zum Geheimnis der Sendung Israels findet, etwa im Sinn einer Einsicht des Römerbriefs, wo davon die Rede ist, dass die Kirche in den Wurzelstock Israels eingepfropft ist und aus dieser Verbindung Kraft bezieht (vgl. Röm 11,17). Ermutigt fühle ich mich in diesem Bemühen nicht zuletzt durch das Vorbild von Papst Johannes Paul II., dem die Versöhnung mit den Juden ein zentrales Anliegen war. Unvergesslich bleibt sein Schuldbekenntnis am 1. Fastensonntag des Jubiläumsjahres 2000, als er in einer der Vergebungsbitten bekannte: „Gott unser Vater. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine jüdischen Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes.“ Als der Papst diesen Text kurz darauf bei seinem Besuch im Heiligen Land zwischen die Steinquader der Klagemauer des alten Tempels in Jerusalem steckte, kam mir wieder das eingangs erwähnte Bibelwort in den Sinn: „Der Stein schreit aus der Mauer“ – doch in diesem Moment hatte ich die Zuversicht, dass aus dem Schrei des Entsetzens ein Ruf der Hoffnung werden kann. Rein menschlich ist diese Wandlung nicht zu bewerkstelligen – es braucht die Orientierung an dem einen Gott und die Bereitschaft, sich gerade im Bewusstsein der belastenden Schuldgeschichte dem Geheimnis der Erlösung zu öffnen, die mit der Erinnerung beginnt. Unerlöste Erinnerung dagegen wäre auf Dauer hoffnungslos.

Zum Schluss:

Wandel und Erinnerung

Ich habe mir lange überlegt, ob ich Ihnen in dieser Besinnung solche eigenen Erfahrungen mitteilen soll, die andere vielleicht viel dichter erlebt haben. Ich habe es gewagt aus der Überlegung heraus, dass Versöhnung nur dann gelingt, wenn sie im persönlichen Bereich ansetzt und die Erinnerung an das Belastende eine oft lähmende Sprachlosigkeit überwindet. Aber diese Sprachlosigkeit kommt heute nicht nur aus der Last der Schuldgeschichte, sie ergibt sich in neuer Weise aus einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der Erinnerung insgesamt nicht mehr den Stellenwert hat, der ihr eigentlich zukommt. Auf diese Herausforderung möchte ich zum Schluss noch hinweisen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine tief greifende Veränderung erlebt: Der Wandel selbst wird nämlich, losgelöst von allen Inhalten, in einer Weise zum Prinzip erhoben, wie dies vorher nicht der Fall war. Offenheit, Flexibilität, Mobilität sind die Tugenden, die in diesem Denken zählen, aber sie erscheinen weitgehend als inhaltsleere Haltungen, die nicht durch Werte und Traditionen definiert sind. Ein solches Grundempfinden steht nun schon vom Ansatz her völlig im Gegensatz zu einer Haltung, die ihre Kraft zur Erneuerung vornehmlich aus er Erinnerung bezieht, wie dies im jüdischen Glauben wie im christlichen Denken der Fall ist. Das neue Lebensgefühl, in dem der Wandel einen Wert an sich darstellt, ist nicht problemlos mit der jüdisch-christlichen Grunderfahrung in Einklang zu bringen: Denn diese beruht auf einem Geschehen der Vergangenheit (dem alttestamentlichen Bund und dem neutestamentlichen Christusgeschehen), das erinnernd vergegenwärtigt wird und gleichzeitig den Weg in die Zukunft prägt. Dass die Akzeptanzchancen einer solchen Weltsicht gegenüber dem Grundgesetz des bloßen Wandels zunehmend schwieriger werden, liegt auf der Hand. Aber Resignation wäre das falscheste Verhalten. Sind Christen und Juden gemeinsam überzeugt, dass die Wurzel auch heute noch trägt, dass Erinnerung und Wandel keine Gegensätze sind, sondern einander prägen und durchdringen? Gerade kreatives Erinnern kann Veränderungen ihre Richtung geben, so dass es falsch wäre, den Wandel einfach als Naturgesetz zu begreifen. Solche Erinnerung bleibt aber auf beständiges Mühen um Einsicht angewiesen – von daher ist es gut, wenn sich gerade diese Synagoge in Memmelsdorf ganz bewusst als Lernort versteht, der aus der Erinnerung heraus nicht zuletzt von der jungen Generation mit Leben erfüllt werden soll. „Der Stein schreit aus der Mauer“ – nur wenn wir dafür hör-fähig bleiben, kann die Anklage aus einer belastenden Geschichte zur Ansage einer befreienden Zukunft werden.