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Das Konzil und seine Folgen – 40 Jahre nach dem II. Vatikanum

Festvortrag von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand am 6. Januar 2006 im Missionsärztlichen Institut Würzburg

Beim Blick auf die zahlreichen Veröffentlichungen zum 40-jährigen „Konzilsjubiläum“1 zeigt sich die Spannweite der Deutungen schon in den Überschriften: Während zum Beispiel Kardinal Karl Lehmann von „kraftvoll-lebendiger Erinnerung bis heute“ spricht2, lautet der Titel einer Konzilsbilanz des Wiener Weihbischofs Helmut Krätzl: „Im Sprung gehemmt“ und signalisiert schon durch diese Formulierung die These, dass viele Impulse dieser epochalen Kirchenversammlung auf der Strecke geblieben seien3. Bevor man sich auf eine Sichtweise festlegt, sollte man besser fragen, ob denn die Außenwahrnehmung des Konzils in jedem Fall mit seiner inneren Absicht zur Deckung kommt. Die Außenwahrnehmung liest sich in einem kürzlich publizierten Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ so: „Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie radikal der Wandel war. Das Latein ist weg, der Pfarrer schaut das Kirchenvolk an, am Karfreitag betet die Kirche nicht mehr für die treulosen Juden, und der Bischof warnt die katholische Jugend nicht mehr davor, sich in Lutherische zu verlieben.“4 Hier richtet sich der Blick auf das veränderte Erscheinungsbild der Kirche; die ursprüngliche Absicht des Konzils war jedoch eher eine „Kontinuität im Wandel“. Papst Johannes XXIII. hat das Grundanliegen der von ihm einberufenen Bischofsversammlung selbst mit dem Wort „aggiornamento“ umschrieben. Wörtlich bedeutet das: etwas auf den Tag bringen, von aggiornare. Gemeint ist: die Glaubensbotschaft der Kirche, aber auch alle ihre Lebensäußerungen, den gegenwärtigen Menschen ihn ihrem Verständnishorizont, ihren Erwartungen und Sehnsüchten so zu vermitteln, dass sie diese verstehen und annehmen; insbesondere solle den nicht katholischen Christen die katholische Überlieferung der Christusbotschaft so nahe gebracht werden, dass diese sich darin wieder finden könnten. Was dem Papst vorschwebte, war eine Erneuerung der kirchlichen Formenwelt und, was speziell die Glaubenslehre angeht, ging es ihm vor allem um die Sprache, den rechten Ausdruck, nicht so sehr um spekulative theologische Gedankengänge und rechtliche Abgrenzungen. Wenn man das Anliegen von Papst Johannes in einer Kurzformel zusammenfassen wollte, könnte diese so lauten: „Das Alte und bleibend Gültige neu sagen“. Zum Ausdruck kommt diese Intention auch in seinem letzten Tagebucheintrag vom 24. Mai 1963. Dort steht: „Es ist nicht das Evangelium, das sich verändert. Wir sind es, die es besser zu verstehen beginnen. Der Moment ist gekommen, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die Gelegenheiten zu ergreifen, die sie uns bieten, und weit vorauszuschauen.“5 Nach seinem Tod hat Papst Paul VI. dieses Anliegen weitergeführt. Von „radikalen Änderungen“, die das Konzil gebracht habe, lässt sich also nur sprechen, wen man das Wort von seiner Ursprungsbedeutung her übersetzt: „Radikal“ bedeutet dann, sich neu auf die Kraft der Wurzeln im Glauben zu besinnen. Ich möchte diesen Weg nachzeichnen, indem ich in einem ersten Teil meines Vortrages kurz auf die Vorgeschichte und den Verlauf des Konzils eingehe, in einem zweiten, etwas längeren Teil wesentliche Aussagen herausstelle und in einem letzten, wieder etwas kürzeren Abschnitt, nach der Wirkungsgeschichte der Konzilstexte und ihren Zukunftsperspektiven frage.

1. Vorgeschichte und Verlauf

Ein Konzil (das Wort kommt vom lateinischen „concilium“, Versammlung) ist nach dem Recht der katholischen Kirche eine Zusammenkunft, zu der alle rechtmäßigen Bischöfe als Träger der kirchlichen Leitungsgewalt vom Papst eingeladen sind. Die von der Kirchenversammlung gefassten Beschlüsse bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Bestätigung durch den Papst. So einfach, wie sich diese Definition anhört, war es jedoch mit dem Zweiten Vatikanum nicht. Es war die 21. Bischofsversammlung dieser Art, stand somit in einer langen Reihe und war doch etwas Neues:

a) Während es den bisherigen Konzilien meinst um die Definition von Glaubensfragen und – damit verbunden – um den Schutz vor Irrlehren ging, wollte Papst Johannes ein „Pastoralkonzil“, das Impulse für die Erneuerung des Glaubens geben und keine Verurteilungen vornehmen sollte. Der berühmt gewordene Satz aus seiner Eröffnungsrede lautet: Die Kirche möchte heute „lieber die Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge erheben. Sie glaubt, es sei den heutigen Notwendigkeiten angemessener, die Kraft ihrer Lehre ausgiebig zu erklären als zu verurteilen.“6 Auch wenn die Ankündigung des Konzils durch Johannes XXIII. wenige Monate nach seiner Wahl für viele überraschend kam, so fiel es doch nicht vom Himmel: Die Zeit war reif dafür. Schon vorher gab es Erneuerungs- und Aufbruchsignale. Bereits Pius XI. hatte auf seine Weise das Laienapostolat gefordert; es gab eine biblische Bewegung und einen liturgischen Neuaufbruch in Einzelschritten; ich nenne stellvertretend dafür nur den Namen Romano Guardini (1884-1968) und sein Wirken auf Burg Rothenfels in unserem Bistum. Auch die Sehnsucht nach einer Überwindung der Kirchenspaltung war sehr intensiv geworden; stellvertretend für die Pioniere der Ökumene sei von katholischer Seite Max-Josef Metzger (1887-1944) genannt. Das Konzil hat alle diese großen kirchlichen Bewegungen des 20. Jahrhunderts und dazu neuere theologische Entwicklungen aufgenommen und ihnen gesamtkirchliche Geltung verliehen. Man darf also die Entgegensetzung zwischen „vorkonziliar“ und „nachkonziliar“ bei all dem, was unzweifelhaft erneuert wurde, nicht allzu abrupt verstehen. Das Konzil hat vielmehr die Tradition der Kirche gegen eingetretene Engführungen wieder in ihrer ganzen Weite, Tiefe und Fülle zur Geltung gebracht. Voraussetzung dafür ist freilich ein Traditionsverständnis, das sich mit einem Papst Johannes zugeschriebenen Wort auf die knappe Formel bringen lässt: „Tradition ist Weitergabe der Flamme und nicht der Asche.“7

b) Etwas Weiteres ist wichtig. Johannes XXIII. hatte ein „Ökumenisches Konzil“ angekündigt. Bisher kam diese Bezeichnung daher, dass Bischöfe aus dem ganzen Erdkreis dazu eingeladen wurden. Es konnte aber unter den schon angedeuteten gewandelten Verhältnissen gar nicht ausbleiben, dass sich der Begriff „ökumenisch“ im Vorfeld und im Verlauf des Zweiten Vatikanums mit einem neuen Inhalt füllte; es gab Ansätze zu ökumenischen Sammlungsbewegungen nicht nur im katholischen Bereich, sondern auch in den orthodoxen Kirchen und in den Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen waren. So kam es zur Anwesenheit zahlreicher Beobachter aus der nichtkatholischen Christenheit während der einzelnen Konzilsperioden. Dies war für die späteren ökumenischen Aussagen sehr wichtig.

c) Ein Drittes ist für das Verständnis noch bedeutend. Man darf das Konzil nicht nur von seinen inhaltlichen Aussagen her sehen, man muss es ebenso als geistliches Ereignis verstehen, das eine eigene Dynamik freisetzte. Seit dem ersten Vatikanum, das 1869/70 stattfand (Konzilien werden stets nach ihrem Tagungsort benannt) hatte es ja keine allgemeine Kirchenversammlung mehr gegeben, in der die Bischöfe der ganzen Welt Gelegenheit hatten, sich wechselseitig kennen zu lernen und sich über alle Grenzen hinweg auszutauschen. Man hatte sich bisher kaum untereinander gekannt, sondern fast immer nur im Blick auf Rom oder bei römischen Besuchen. Jetzt begann sich jenes andere Element der Katholizität neu zu entwickeln, das in der Antike und noch im Mittelalter viel ausgeprägter gewesen war. Die Kirchen der einzelnen Länder nahmen voneinander Kenntnis; die Kirche erlebte sich gerade in dieser Vielfalt erstmals als Weltkirche. Dieses Erleben war nicht nur motivierend für die Konzilsaussagen über die Kollegialität der Bischöfe, sondern förderte insgesamt ein erneuertes universales – heute würde man sagen: globales – Kirchenbewusstsein. Ergänzend wäre anzumerken, dass vor und während des Konzils sich auch für die Theologie infolge der Beratertätigkeit profilierter Wissenschaftler neue Möglichkeiten eröffneten; der junge Professor Joseph Ratzinger erlebte z. B. damals durch seine Beiträge als Konzilsberater eine große Beachtung, die sicher auch wichtig für seinen weiteren Werdegang war.8

d) Die Dauer des Konzils ging – mit Unterbrechungen – von Oktober 1962 bis Dezember 1965, also über drei Jahre. Zu Beginn lagen über 70 Entwürfe zur Beratung vor; diese wurden im Verlauf der vier Sitzungsperioden teilweise gekürzt, teilweise zusammengefasst, teilweise gestrichen. Insgesamt erarbeiteten die 2.850 Konzilsväter 16 Dokumente. Oft gab es ein intensives, ja manchmal hartes Ringen an Formulierungen, bis verschiedene theologische Perspektiven miteinander verbunden waren. Viele Texte tragen dabei unübersehbar die Züge von Kompromissen und wirken dadurch mitunter mehrdeutig, was natürlich zur Gefahr einer selektiven Aneignung führen kann. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: So berufen sich sowohl Befürworter wie Gegner der Rätereform im Bistum Regensburg auf Passagen der Kirchenkonstitution: Der ganze Text begründet sowohl den hierarchischen Aufbau der Kirche wie auch die Wertschätzung des Gottesvolkes; für eine differenzierte Interpretation kommt es entscheidend auf die Vermittlung dieser Perspektiven an. Darüber werde ich im Schlussteil noch sprechen. Zunächst möchte ich – wie angekündigt – im nächsten Abschnitt die wichtigsten Konzilsaussagen skizzieren und in ihren Auswirkungen kommentieren.

2. Die wichtigsten Konzilsaussagen

In seinem Bemühen, die Erneuerung nach innen mit einer Öffnung zur Welt zu verbinden, lassen sich vier große Themenkreise des Konzils benennen: Ein neuer Umgang mit dem Wort Gottes; eine erneuerte Sicht der Beziehung von Glaube und Welt; eine vertiefte Sicht der Kirche selbst (unter Einbezug der ökumenischen Impulse) sowie eine veränderte Sicht der Weltreligionen, und – damit zusammenhängend – der kirchlichen Missionstätigkeit.

a) Der Umgang mit dem Wort Gottes

Machen wir uns den Ausgangspunkt klar: Noch meine Generation – ich bin 1950 geboren – war im Glauben viel mehr von Katechismussätzen, vom Mitvollzug der Sakramente und vom religiösen Brauchtum geprägt als vom Umgang mit der Bibel. Ja, es gab bis in die Konzilszeit im katholischen Bereich kaum vollständige Bibelausgaben; in den sog. „Familienbibeln“ dieser Zeit fehlten zum Beispiel jene Abschnitte vor allem des Alten Testaments, die als zu anstößig empfunden wurden. Wenn man dagegen sieht, wie selbstverständlich Bibelkreise heute in vielen Pfarreien und geistlichen Gemeinschaften geworden sind, kann man den langen Weg dorthin ermessen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Tat einen neuen „Bibelfrühling“ in der Kirche eröffnet, kein Konzil zuvor hat sich jemals so intensiv mit der Heiligen Schrift befasst. Folgende Aussagen aus der Konstitution über die göttliche Offenbarung (“Dei Verbum“) sind dabei wesentlich geworden9:

Das Konzil fordert dazu auf, nach der Absicht der biblischen Verfasser zu suchen, wenn man die Aussage eines Textes erkennen will. Dazu genügt nicht immer der direkte Wortlaut, weil in die Bibeltexte auch Voraussetzungen einfließen, die durch das damalige Weltbild geprägt sind. Es sei deshalb zu beachten, dass verschiedene Textsorten verwendet werden (DV 12 und 19); so bringt etwa ein Gedicht ein und denselben Sachverhalt anders zum Ausdruck als ein Tatsachenbericht. Man wollte damit einer Einstellung wehren, welche die Heilige Schrift wie einen Steinbruch benutzt, aus dem man sich zusammenhanglos die unterschiedlichsten Versatzstücke zum Untermauern der eigenen Meinung herausholt.

Das setzt voraus, dass die Heilige Schrift als Ganze nicht nur als geschichtliches Zeugnis über das Wirken Gottes in der Welt betrachtet wird, sondern als Wort Gottes selbst, in dem er sich selbst mitteilt oder offenbart. Die Bibel ist „Gottes Wort im Menschenwort“ (DV 2); in dieser Verbindung spricht Gott mich ganz persönlich an und tritt mit mir in einen Dialog. Auch die Kirche als Ganze sowie ihr Lehramt werden vom Wort Gottes angesprochen; sie steht nicht über der Heiligen Schrift, sondern dient ihr durch deren Interpretation. Die kirchliche Überlieferung steht auch nicht als zweite, gewissermaßen gleichberechtigte Quelle der Offenbarung neben der Bibel, sondern ist auf das Wort Gottes hingeordnet (DV 8). Diese Aussage ist für ein ökumenisches Bibelverständnis außerordentlich wichtig geworden.

Wie ernst den Konzilsvätern dieser neue Umgang mit dem Wort Gottes war, zeigte die Tatsache, dass vor jeder Sitzung ein großes Evangelienbuch feierlich in den Petersdom getragen und für alle sichtbar aufgestellt wurde. Es sollte daran erinnert werden, dass jegliche kirchliche Aktivität nur dann sinnvoll und fruchtbar ist, wenn sie auf das Wort Gottes ausgerichtet bleibt. Seither hat sich im bibelwissenschaftlichen und bibelpastoralen Bereich viel getan. Auch wenn es in jüngster Zeit wieder Querelen gab, kann es doch kein Zurück hinter das Projekt einer gemeinsamen Bibelübersetzung von Katholiken und Evangelischen im deutschsprachigen Bereich geben. Die alte Entgegensetzung zwischen einer „Kirche des Wortes“ (den Protestanten) und einer „Kirche der Sakramente“ (den Katholiken) hat keine Gültigkeit mehr; jede Sakramentenspendung zum Beispiel ist durch die konziliare Liturgiereform mit biblischen Lesungen und der Verkündigung des Gotteswortes verbunden. Doch die Aufgabe, Gottes Wort als Maßstab für das Leben zu entdecken, stellt sich immer neu.

b) Die Beziehung von Glaube und Welt

Die zentrale Aussage über das Verhältnis von Glaube und Welt findet sich gleich zu Beginn der Konstitution „Gaudium et Spes“: „Trauer und Hoffnung, Freude und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ (GS 1). Für das Verhältnis von Kirche und Welt zieht das Konzil verschiedene Schlussfolgerungen. Vor allem folgende Aussagen sind wichtig10:

Die Kirche sieht sich nicht als Lehrmeisterin, sondern als Dialogpartner der Welt und der Menschen. „Dialog“ ist dabei keine bloße Methode, ohne die es auch ginge, „kein Mittel zum Zweck“. Das Konzil macht hier vielmehr ernst mit der schon erwähnten Aussage über das Wort Gottes: Dialog ist eine Grundhaltung, die von Gott selbst ausgeht, eine Bewegung, in der Gott mit uns ständig uns Gespräch tritt, sich in Jesus beim Wort nehmen lässt und durch seinen Geist bleibend mit uns und der ganzen Welt in Verbindung bleibt. Die Kirche soll in ihrer Sendung für die Welt diese Initiative immer wieder neu verdeutlichen und übersetzen.

Weiterhin: Die Kirche versteht sich der Welt gegenüber nicht als eine Art religiöse Parallelgesellschaft, die ein selbstgenügsames Eigenleben führt. Sie wendet sich vielmehr der Welt zu und versucht, in den Entwicklungen und Herausforderungen die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen, Hinweise af Gottes Handeln in der Geschichte. Johannes XXIII. zum Beispiel saht solche Zeichen der Zeit im Aufbruch der Völker in der so genannten „Dritten Welt“, in der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts, in der naturwissenschaftlich-technischen Revolution sowie in der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung.

Schließlich: Die Kirche verkündet der Welt gegenüber nicht bloß einen allgemeinen Heilswillen Gottes, sondern sucht vom Glauben her zusammen mit allen Menschen nach konkreten Lösungen für Fragen der Zeit, vor allem auf den Feldern der sozialen Gerechtigkeit, im Bemühen um den Frieden angesichts des damaligen Wettrüstens, in einer partnerschaftlichen Sicht von Ehe und Familie. Gerade im letzten Bereich konnte das Konzil freilich nur erste Anstöße geben; die nachkonziliare Geschichte – ich erinnere nur an die Enzyklika „Humane Vitae“ von Papst Paul VI. – zeigt, wie schwierig das Ringen um konkrete Konsequenzen aus diesen Grundeinsichten war und noch ist.

Sympathisch wirkt, dass das Konzil fordert, diese Haltungen im Dialog mit der Welt müssten auch innerkirchlich praktiziert werden: „Das alles aber verlangt von uns, dass wir vor allem in der Kirche selbst gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht pflegen, um ein immer fruchtbareres Gespräch zwischen allen in Gang zu bringen... Es gelte im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem aber die Liebe“ (GS 92). Dem ist nichts hinzuzufügen.

c) Die Sendung der Kirche

Man kann ohne Übertreibung sagen: Das Zweite Vatikanum war das Konzil über die Kirche. Diese Beschäftigung mit der eigenen Sendung war jedoch keine Selbstbespiegelung, sondern geschah im Wissen darum, dass vor allen Einzelfragen die grundlegende Sicht der Kirche geklärt werden muss. Generell lässt sich sagen: Die stark rechtlich geprägten Aussagen früherer Zeiten werden abgelöst durch die Rückbesinnung auf biblische bzw. frühchristliche Bilder. Drei davon sind wichtig11:

Vorherrschend ist die Sicht der Kirche als Mysterium, als Glaubensgeheimnis. Dieses Wort klingt für „profane“ Ohren leicht missverständlich: Wenn im Alltagsgeschehen etwas als „mysteriös“ deklariert wird, bedeutet das soviel wie „undurchschaubar“. Wenn jedoch die Kirche als Mysterium bezeichnet wird, heißt das, dass ihr Ursprung in einer Sendung von Gott her in die Welt hinein liegt, dass sie ihr Bestehen also nicht aus sich selbst heraus rechtfertigen kann. Die Kirche darf also nicht als bloße gesellschaftliche oder geschichtliche Größe gesehen werden. Deshalb meinen die Einleitungsworte der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ auch nicht, dass sich die Kirche selbst als „Licht der Völker“ versteht. Sie soll vielmehr Jesus Christus zum Leuchten bringen; sie selbst ist „nur“ Zeichen und Werkzeug dafür (LG 1). Hier werden Größe und Grenzen der Kirche gleichermaßen deutlich: Das Geheimnis ihrer Sendung besteht darin, dass Jesus eine Gemeinschaft aus schwachen, vorläufigen, ja sündigen Menschen zu Vorläufern auf das Endgültige macht – auf Gottes Reich hin.

Weiterhin wird von der Kirche oft als „Volk Gottes“ gesprochen. Biblisches Vorbild ist dabei das Volk Israel auf seinem Weg mit Jahwe. Es gibt dabei Umwege und Irrwege, am Ende steht jedoch die Ankunft im verheißenen Land. Dieses Bild macht auch das Unterwegssein der Kirche deutlich, die dabei immer wieder auf Kurskorrekturen und Umkehr angewiesen bleibt. Der zentrale Maßstab dafür ist, wie schon deutlich wurde, das Wort Gottes. Die Rede vom „Volk Gottes“ beinhaltet ebenso die fundamentale Einsicht von der Gleichheit aller Christen. Grundsakramente sind Taufe und Firmung, also das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen. Das Amt ist nicht isoliert von den Laien zu sehen, sondern ist auf den Dienst am Volk Gottes hingeordnet. Man kann es nur in Beziehungsbegriffen ausdrücken: Nicht der Amtsträger ist das Haupt der Kirche, sondern allein der Herr. Aber dass Christus das Haupt ist, soll in den verschiedensten Ausdrucksformen des Amtes bezeugt werden.12 Ich selbst drücke diesen Zusammenhang mit einem nachkonziliaren Wort des 1980 verstorbenen Erfurter Bischofs Hugo Aufderbeck so aus: „Die Kirche ist keine Monarchie, weil wir alle Brüder und Schwestern sind; sie ist aber auf keine Demokratie, weil wir alle den einen Herrn haben.“13

Dies führt zum Bild der Kirche als Communio, als Gemeinschaft. Das Wort wäre wieder missverstanden, wenn man darunter einzig und allein eine Gemeinschaft von Menschen verstehen würde. Kirche als Gemeinschaft hat ihre Grundlage im Letzten vielmehr darin, dass Gott in sich – als Vater, Sohn und Geist – selbst Gemeinschaft ist und dieses Leben durch die Kirche der ganzen Welt mitteilen will. Diesem universalen Gemeinschaftsgedanken widersprechen jedoch die Risse und Spaltungen in der Geschichte des christlichen Glaubens. Das Konzil hat sich neu darauf besonnen, dass das Mühen um die sichtbare Einheit aller Christen nichts Beliebiges darstellt, sondern letztlich ein Ernstmachen mit der Lebensform Gottes selbst darstellt und dem Willen Jesu entspricht, „dass alle eins seien, ... damit die Welt glaubt“ (Joh 17,21f). Ein zentraler Gedanke des Ökumenismusdekrets macht dabei deutlich, dass christliche Wiedervereinigung nicht in einer Rückkehr der getrennten Kirchen und Gemeinschaften zur römisch-katholischen Kirche bestehen kann, sondern dass es um die gemeinsame Suche nach der Wahrheit des Glaubens geht, die im Leben ihre Bewährung zeigt (vgl. UR 1). Dabei muss eines klar sein: Ökumene kann nicht nach dem Prinzip eines Gewinn- und Verlustgeschäftes betrieben werden, bei dem nach dem Modell von Tarifverhandlungen jede Seite etwas gibt und nimmt. Sie ist nur tragfähig, wenn sie als gemeinsames Wachstum zur Fülle und als gegenseitige Hilfe verstanden wird (Kardinal Walter Kasper). Man spricht neuerdings viel von einer „Ökumene der Profile“ – wenn das nicht eher abgrenzend als verbindend verstanden werden soll, ist eine „profilierte Ökumene“ nur möglich als ein Wachsen in der Erkenntnis von Wahrheit bei gleichzeitiger Treue zu gewachsenen Einsichten. Dieser Weg mag manchmal mühsam sein, aber es lohnt sich, ihn zu gehen. „Wiedervereinigung ist Weitervereinigung“, betont unser früherer Bischof Paul-Werner Scheele immer wieder.14 Bereits erreichte Schritte wie die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 zusammen mit den Lutheranern können dabei Mut machen; auch sollte nicht vergessen sein, dass am vorletzten Tag des Konzils im Dezember 1965 Papst Paul VI. und der orthodoxe Patriarch Athenageras die seit Jahrhunderten bestehenden gegenseitigen Exkommunikationen der beiden Kirchen aufhoben – der damalige Konzilstheologe Joseph Ratzinger wertete dies als ein Ereignis, bei dem „der Atem der Geschichte wie kaum je zuvor zu spüren war“.15

d) Der Blick auf die Weltreligionen und die Missionstätigkeit der Kirche

Bei ihrem Blick auf das Spannungsgefüge von Kirche und Welt nimmt das Konzil auch die nicht christlichen Religionen in den Blick und macht in einem weiteren Dekret Aussagen über die Missionstätigkeit. Darauf möchte ich ebenfalls noch eingehen:

Die Erklärung „Nostra Aetate“ (in unserer Zeit) klärt das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den nicht-christlichen Religionen. Mit einer klaren Absage an den Antisemitismus beginnt eine umfassende Aussöhnung der Kirche mit dem Judentum (NA 4). (Hier wäre zu erwähnen, dass sich der verstorbene Würzburger Bischof Josef Stangl [1907-1979] mit besonderem Einsatz für diese Erklärung engagiert hat.) Das gemeinsame geistliche Erbe soll gepflegt werden; die Kirche sieht Israel als bleibenden Wurzelgrund des eigenen Glaubens; in der Folgezeit setzt sich auch in den ökumenischen Bemühungen mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass eine tragfähige Versöhnung der Kirchen des Westens und des Ostens nur möglich ist, wenn man gemeinsam einen neuen Bezug zur Sendung Israels findet.16

Das Dokument betont weiterhin das Verbindende mit den anderen Religionen, ohne die eigene Überzeugung zu schmälern. Die katholische Kirche, so heißt es, lehne nichts von dem ab, was den Religionen „wahr und heilig“ sei (NA 2). Christen, Juden und Muslime werden ermuntert, gegenseitige Missverständnisse im Dialog auszuräumen (NA 5).

Die kirchliche Missionstätigkeit erhält in dem Dekret „Ad Gentes“ (zu den Völkern) eine neue Grundlage. Mission wird als Fortsetzung der Sendung Jesu Christi verstanden und als Aufgabe der ganzen Kirche gesehen. Missionarisches Leben ist demnach eine christliche Grundhaltung (AG 39), die überall zum Zug kommen muss; damit ist ein territoriales Denken im Sinn einer Christianisierung heidnischer Gebiete überwunden; stattdessen wird von einer jeweils situationsbezogenen Inkulturation des Glaubens gesprochen. Es darf freilich nicht verschwiegen werden, dass der Missionsgedanke nach dem Konzil in eine Krise kam. Ich selber habe es während meiner Studienzeit erlebt, dass die Meinung vertreten wurde, Mission sei durch den Dialog der Religionen abgelöst und könne in Zukunft allenfalls darin bestehen, dass man den Muslimen helfe, bessere Muslime zu werden und die Buddhisten darin unterstütze, ihre Religion intensiver auszuüben. Solches Denken verkennt, das Dialog keine Gleich-gültigkeit darstellt und dass missionarisches Bemühen nichts Zwanghaftes an sich hat, sondern aus dem Zeugnischarakter des Christseins kommt.17 Bischof Joachim Wanke trifft das Problem genau, wenn er formuliert: „Die entscheidende Frage ist, ob wir davon überzeugt sind, dass es gut für alle ist, Jesus Christus zu kennen und sich von ihm in der Art des eigenen Lebens und Sterbens bestimmen zu lassen?“18 Diese Frage hat sich in letzter Zeit auch dadurch verschärft, dass infolge der Migrations- und Globalisierungsbewegung auch bei uns eine noch nie da gewesene Nachbarschaft der Religionen entstanden ist.

Dem Missionsauftrag der Kirche widerspricht auch nicht die vom Konzil formulierte Erklärung über die Religionsfreiheit („Dignitatis Humanae“, von der Würde des Menschen). Mit ihr hat die Kirche eine Wende vollzogen: Hatte sie früher die freie Religionsausübung vor allem dort eingefordert, wo Katholiken unterdrückt waren (etwa in den kommunistischen Ländern) oder als Minderheit in der Diaspora lebten, so verweist sie jetzt auf die unverbrüchliche Menschenwürde jedes Einzelnen und betont das Recht aller Menschen, ihre Religion frei nach ihrem eigenen Gewissen zu wählen. Hält damit der Relativismus Einzug, wie nicht wenige auf und nach dem Konzil befürchteten? Im Gegenteil: Dahinter steht die Überzeugung, dass gerade der christliche Glaube nicht mit Mitteln der Zwangsbekehrung verbreitet werden darf, wie dies früher manchmal geschehen ist. Der Glaube hat, auch wenn er uns bleibend in der Taufe geschenkt wurde, immer wieder von neuem Entscheidungscharakter; eine freue Entscheidung ist aber nur möglich, wenn die Würde der Person dabei respektiert wird.19 Der Wiener Pastoraltheologe Paul-Michael Zulehner hat es sehr pointiert so formuliert: „Christsein ist seit dem Konzil nicht mehr Schicksal, sondern persönliche Entscheidung.“20

Ich breche hier meinen Streifzug durch die Grundaussagen der Konzilsdokumente ab; eine erschöpfende Darstellung war weder geplant noch möglich – ein solcher Versuch würde auch nur zu Erschöpfungszuständen führen. Es hat sich jedenfalls gezeigt, dass die Botschaft des Konzils auch in dem Sinn katholisch, weltweit ist, dass sie alle Lebensbereiche durchdringen will. Ist ihr das gelungen? Ich möchte diese Frage im abschließenden Teil meines Vortrags behandeln, in dem es um die nachkonziliare Zeit geht.

3. Die nachkonziliare Entwicklung

Der Aufarbeitung und Umsetzung der Konzilsimpulse dienten in der Folgezeit vor allem die Synoden, die in den verschiedenen Ländern abgehalten wurden; gerade der Name Würzburgs ist ja mit der Umsetzung der Konzilsbeschlüsse in der Bundesrepublik besonders eng verbunden, als sich die Diözesen gemeinsam um ihre „Eindeutschung“ bemühten. Doch mit fortschreitender Zeit begann die ursprüngliche Begeisterung zu verfliegen. Unruhe, Unsicherheit und Unbehagen ergriffen viele Christen. Ging den einen das Konzil nicht weit genug – so wurden und werden immer wieder Forderungen nach einem dritten Vatikanum laut – war es anderen schon längst zu weit gegangen, manche betrachteten – wie Erzbischof Marcel Lefébfre – das Konzil sogar als eine Art Betriebsunfall der Kirchengeschichte, dessen Schäden schleunigst behoben werden müssten.

Waren denn die Hoffnungen aufgegangen? Man hatte sich neue Begeisterung erwartet – sicher war viel Anfangsschwung zu spüren, aber manche konstatieren inzwischen eine Phase der Resignation. Was man sich weiter erhofft hatte, war eine neue katholische Einheit durch Besinnung auf die Glaubensgrundlagen, die neu ausgesagt werden sollten – viele sehen nur noch eine Meinungsverschiedenheit, in der sich jeder aus dem „Warenhaus Kirche“ und durch Anleihen bei anderen Religionen zu möglichst billigen Preisen gerade das heraussucht, was in seinen Lebensentwurf passt. Man hatte sich einen Sprung nach vorne erhofft – nun wird von nicht wenigen das Konzil mit dem Etikett „Beginn eines Zerfallsprozesses“ versehen. Die Kirche sei durch das Konzil weltlicher geworden anstatt die Welt christlicher. Aus all diesen Fragen, hinter denen oft auch Stimmungen und Emotionen stehen, möchte ich drei Brennpunkte herausgreifen und sie eingehender behandeln:

a) da ist zum einen der Vorwurf, das Konzil habe in der Folge eine tief greifende Krise im kirchlichen Leben ausgelöst. Wer so argumentiert, macht es sich zu einfach und verkehrt im Letzten Ursache und Wirkung. Sicher gab es bei der Umsetzung des Konzils – beginnend im liturgischen Bereich – Ungeschicklichkeiten und unerleuchteten Eifer, manchmal auch Fehlentwicklungen. Doch das bewirkt noch keine Krise. Viel problematischer war eine rapid veränderte „Großwetterlage“: So traf das Konzil mit seiner optimistischen, ja manchmal geradezu enthusiastischen Sicht eines neuen Verhältnisses von Welt und Kirche auf eine Phase zunehmender Säkularisierungstendenzen, die dem beabsichtigten Dialog auf allen Ebenen zuwiderliefen, durch den der Botschaft des Glaubens neue Räume erschlossen werden sollten. Die Ursachen sind vielfältig; allzu einfache Schuldzuweisungen verbieten sich von selbst, weil Kirche und Welt stets in einer differenzierten Verflechtung stehen. Auch ein Konzil gibt es nie „chemisch rein“, als ob es, wie Kardinal Karl Lehmann treffend schreibt, „die christliche Botschaft gleichsam keimfrei und vakuumverpackt anbieten könnte“.22 Es muss vielmehr aus seinen konkreten geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen verstanden werden. und die waren eben so, dass unabhängig vom Konzil manches Verdrängte ans Tageslicht kam – etwa in Deutschland jene Ereignisse, die im Gefolge der 68er Studentenunruhen zu einem bis dahin nicht gekannten Traditionsbruch führten. Diese ließen auch die Kirche nicht unberührt. Man darf aber nicht übersehen, dass mancher Einbruch in der kirchlichen Disziplin damit zu tun hatte, dass sie schon vorher innerlich labil und nicht mehr tragfähig genug war – als Beispiel sei nur die Krise des Bußsakramentes genannt, zu der eine schon vor dem Konzil spürbare formalistische Sicht der Einzelbeichte nicht wenig beigetragen hat. Man darf auch nicht die Augen davor verschließen, dass manche Erscheinungsformen der nachkonziliaren Zeit schon zurückreichen in die 50er und 60er Jahre, z. B. der Rückgang des Gottesdienstbesuches, die Verminderung der Reichweite katholischer Presse, die Schwächung der Verbände. Dahinter verbarg sich ein lange Zeit unbemerkter Einbruch an Grundüberzeugungen. Aber ich wage die These: Ohne das Konzil hätte die Kirche nicht die geeigneten Mittel gehabt, diesen Umbrüchen zu begegnen. Ein bloßes Insistieren auf Tradition und Disziplin wäre jedenfalls nicht das geeignete Mittel gewesen. Wer die Konzilstexte aufmerksam durchliest, wird erkennen, dass sie nicht zur Verwirrung sondern zur Stärkung des Glaubens beitragen – auch heute noch.

b) Es kommt allerdings ganz darauf an, mit welchem Vorverständnis sie gelesen werden. Oft wurden und werden Buchstabe und Geist des Konzils gegeneinander ausgespielt. Kardinal Lehmann formuliert es wieder sehr deutlich: „Aus heutiger Sicht erkennen wir, dass manche unfruchtbaren Grabenkämpfe ... zwischen Progressisten, die sich wenig um verbindliche Inhalte kümmerten, und Traditionalisten, die sich wenig und die Gegenwartsnähe der Kirche sorgten, dem Konzil in gleicher Weise geschadet haben. Gesichtslos gewordene Anpasser und unglückselige Bewahrer haben die Aufgabe des Konzils gleichermaßen verstellt.“23 Mit anderen Worten: Die alten Denkmuster progressiv – konservativ lähmen sich gegenseitig; es braucht eine neue, weitergehende Betrachtungsweise des Konzils in größeren Zusammenhängen. Papst Benedikt XVI. hat sie in einer Grundsatzrede vor der römischen Kurie kurz vor Weihnachten so skizziert24: Man dürfe das Zweite Vatikanische Konzil bei aller Erneuerung, die es gebracht habe, nicht zuerst als Bruch mit der Tradition sehen. Vielmehr müsse es im Zusammenhang mit der ganzen Kirchengeschichte gesehen und so gedeutet werden, dass kirchliche Überlieferung immer nur durch eine Reform gemäß den Erfordernissen der Zeit zu bewahren sei und sich in neuen Herausforderungen bewähren könne. Er plädierte weiter dafür, die einzelnen Konzilsaussagen in diesem größeren Kontext zu deuten – dann werde das Konzil eine langfristige Wirkung entfalten und nicht als abgeschlossenes Ergebnis der Kirchengeschichte der Vergangenheit angehören. Dem entspricht die vorher schon von Hubert Jedin (1900-1980) dem wichtigsten Konzilienforscher des 20. Jahrhunderts, formulierte Einsicht: Kein großes Konzil der Kirchengeschichte konnte schlagartig und problemlos verwirklicht werden. Jedes hat mindestens ein halbes Jahrhundert bis zu seiner wirklich tief greifenden Umsetzung warten müssen.25 So gesehen, gibt es noch viel zu tun.

c) Aber wie sollen wir diese Aufgabe der weiteren Umsetzung angehen? Matthias Drobinski, geistreich-kritischer Kirchenredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, hat in seinem Konzilsartikel die sehr plakative Alternativfrage gestellt: „Die Auseinandersetzungen gehen darum, wie das Konzil zu deuten ist. Muss die Kirche von nun an ständig die Fenster offen halten, immer bereit, die kirchliche Tradition und Lehre neu zu interpretieren? Oder ist mit dem Konzil ... genug Frischluft in die Kirche geströmt, muss das Fenster wieder geschossen werden, damit das Kirchenvolk sich nicht erkältet?“26 So anregend das Bild ist, es benennt nicht die entscheidenden Voraussetzungen: Die Frischluftzufuhr in Kirche und Welt wird nicht durch menschliches Mühen allein reguliert, sondern letztlich durch das Wirken des Heiligen Geistes. Er hat, so glaube ich fest, das Konzil inspiriert und wird auch die Regie bei seiner Umsetzung führen, trotz menschlicher Eigenmächtigkeiten aus unterschiedlichsten Richtungen.

d) Aus dieser Einstellung heraus kann man – wie Kardinal Lehmann in seinem Vortrag zum Jubiläum der Würzburger Synode im letzten November – das Konzil als Gabe und Aufgabe sehen. Er hat damals ausgeführt: Wir haben genügend Grund, auch nach 40 Jahren „dankbar von den vielen Errungenschaften zu reden, die wir durch das Konzil erhalten haben. Was wäre denn die Kirche heute ohne die im Ganzen erstaunlich gelungene Erneuerung des Gottesdienstes und der Sakramente, ohne die ökumenische Annäherung der Christenheit, ohne das Friedensethos des Konzils, ohne das Erwachen so vieler ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gemeinden, ohne das neue Leben in vielen geistlichen Bewegungen, Gemeinschaften und auch Orden? ... Auch und gerade 40 Jahre nach dem Abschluss des Konzils wollen wir uns in aller Eindeutigkeit zu diesem Konzil, freilich auch zu den Aufgaben, die es uns hinterlassen hat, bekennen. Wir sagen uneingeschränkt Ja zu diesem Konzil: zu seinem Geist, den man allerdings nicht ohne buchstäbliche Mühe um die Texte und ihren Sinn gewinnen kann; zum ganzen unverkürzten Konzil mit allen seinen Dimensionen und Schattierungen, auch zu den Problemen, ... dem Unvollkommenen und auch zu den Lücken. ... Konzil – das ist eine umfassende Wirklichkeit, kein bloßer Deckname für unsere eigenen Wünsche und Projektionen. ... Auch ein vom Geist Gottes geführtes Konzil kann die Brüchigkeit, Endlichkeit und Begrenztheit des menschlichen Lebens nicht abstreifen. ... Aber gerade weil in solch menschlicher Schwachheit Gottes Geist zur Geltung kommt, den wir auch in der Wirkungsgeschichte dieses Konzils sehen, sagen wir dazu ein vorbehaltloses Ja.“27

Mit meinem Vortrag wollte ich Ihnen Mut machen, sich auf die Botschaft des Konzils einzulassen und seine Wirkungsgeschichte mitzugestalten.28 Sollte das wenigstens in Ansätzen gelungen sein, freue ich mich.

 

 

Anmerkungen

1Eine gute Übersicht über die Rezeption der einzelnen Konzilsdokumente bietet der Sammelband von F.-X. Bischof und S. Leimgruber (Hrsg.): Vierzig Jahre Zweites Vatikanum. Zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte (Würzburg 2004).

2Karl Kardinal Lehmann, Kraftvoll-lebendige Erinnerung bis heute. 40 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil und 30 Jahre gemeinsame Synode. Vortrag beim Festakt der Deutschen Bischofskonferenz und der Diözese Würzburg am 21. November 2005 in Würzburg (Manuskript).

3H. Krätzl, Im Sprung gehemmt (Mödling b. Wien 1998).

4M. Drobinski, Das offene Fenster. Vor 40 Jahren ging das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende; Süddeutsche Zeitung Nr. 283 vom 8.12.2005, S.11.

5G. Alberigo, Johannes XXIII. Leben und Wirken des Konzilspapstes (Mainz 2000) 217.

6Vgl. O.H. Pesch, Frischluft für die Kirche. In: N. Kutschki (Hrsg.): Erinnerung an einen Aufbruch. Das II. Vatikanische Konzil (Würzburg 1995) 9-23, hier: 17.

7Vgl. dazu Alberigo, Johannes XXIII., 229f.

8Vgl. dazu N. Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978) Band II (Paderborn 2005) 240ff.

9Vgl. dazu J. Gnilka, Die wiederentdeckte Bibel, in Kutschki 24-36.

10Vgl. dazu N. Mette, Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute

„Gaudium et Spes“, in: Bischof – Leimgruber, 40 Jahre II. Vatikanum, 280-296.

11 Vgl. dazu P. Neuner, Die Kirche – Mysterium und Volk Gottes, in: Kutschki 37-50.

12Näheres zum Amtsverständnis des Konzils bei: K. Hillenbrand, Das Priesterbild des II. Vatikanums und seine Weiterentwicklung in der Folgezeit, in: W. Beinert (Hrsg.): Glaubensangst – Glaubenshoffnung. Anregungen für die Verkündigung (Regensburg 1997) 17-32.

13Bischof Hugo Aufderbeck, Lebenszeugnis (Heiligenstadt 1986) 53.

14Vgl. dazu P.-W. Scheele, Damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Konzilsimpulse für heute (Würzburg 1993) bes. 110-155 und 251-271.

15J. Ratzinger, Aus meinem Leben (München 1998) 134.

16Wichtige Gedanken dazu finden sich bei F. Mußner, Die Kraft der Wurzel. Judentum – Jesus – Kirche (Freiburg i.Br. 1987).

17Vgl. dazu den Beitrag von A. Foitzik, Missionsmüdes Deutschland? Herder Korrespondenz 59 (2005) 541-543.

18J. Wanke, Brief eines Bischofs aus den neuen Bundesländern über den Missionsauftrag der Kirche in Deutschland, in: Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein. Die deutschen Bischöfe 68 (Bonn 2000) 35-42; hier: 37.

19S. dazu W. Beinert, Das Menschenbild des Konzils, in: Kutschki 51-65, bes. 54.

20P.-M. Zulehner, Blick zurück nach vorn. Studientag zum 40. Jahrestag der Verabschiedung der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ am 10.11.2005 in Würzburg, zit. nach POW 46 (2005) 14.

21Einen guten Überblick liefert M. Plate, Das deutsche Konzil. Die Würzburger Synode – Bericht und Deutung (Freiburg i.Br. 1975).

22K. Lehmann, Kraftvoll-lebendige Erinnerung bis heute, 6.

23Lehmann, a.a.O. 7.

24Vgl. „Die Tagespost“ 58 (2005) Nr. 154 vom 28.12.2005, S.6.

25S. dazu H. Jedin, Lebensbericht (Mainz 1984) 197-219.

26Drobinski, SZ vom 8.12.2005, S.11.

27Lehmann, a.a.O. 8f.

28Interessante Impulse dazu finden sich in den Themenheften: Das unerledigte Konzil. Herder-Korrespondenz Spezial (Freiburg i.Br. 2005) sowie: Das II. Vatikanische Konzil – wieder gelesen; Communio 34 (2005) 543-644 sowie Concilium 41 (2005) 349-470.

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