Über der Heiligen Nacht liegt ein Zauber, den auch tragische Weltereignisse, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gewitterwolken und erst recht nicht vorweihnachtliche Verkaufsstrategien mit dem Missbrauch weihnachtlicher Texte und Lieder aufheben können.
„Weg mit dem falschen Zauber“, lautete eine Zeitungsüberschrift in diesen Tagen, die mit dem Blick auf das Weihnachtsfest als „Fest der neuen Menschheit“ Entscheidungen einfordert, die eben nicht durch verkitschte Gefühlsdusseligkeit hergestellt werden können (Vgl. Rheinischer Merkur, Nr. 51/52/2008).
In diesen Adventstagen war ich zu einem Besuch in einem Obdachlosendorf der Würzburger Bistums-Caritas, dem Simonshof. Dort leben Menschen, die oft genug in ihrem Leben bis in die untersten Tiefen menschlicher Katastrophen abgeglitten oder gestoßen worden sind. Für sie ist Weihnachten oft eine schwere Zeit: Erinnerungen steigen hoch, längst überwunden geglaubte Emotionen treiben Tränen in die traurig, kritisch blickenden Augen.
Geht es nicht auch uns so, dass wir Weihnachten 2008 in einer inneren Verbindung zu früheren Weihnachtsfesten erleben? Steigen nicht Gedanken auf, die dieses Geburtsfest Christi gerade in schwerer Zeit als rettenden Ausblick erleben ließen? War aber alles nur frommes Wunschdenken, billige Illusion oder wirklich Durchbruch zu einer neuen Menschheit?
Dietrich Bonhoeffer, der Anfang 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg gehängt wurde, erlebte Weihnachten im Gefängnis „im Zwiespalt von hell und dunkel… in der Spannung von Reichtum und Armut, Nähe und Ferne, Geborgenheit und Verfolgung, wie es die Weihnachtsberichte unmissverständlich bezeugen.“ (Ebd. Von Paul Schmidt) Schon vor seiner Inhaftierung warnte er seine Mitbrüder, an Weihnachten auf eine „Insel der Seligen zu flüchten und einem falschen Zauber von Weihnachten zu erliegen“. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bedeutet Befreiung aus einer falschen Gefühls- und Erlebniswelt und erst recht Befreiung aus der Verlorenheit in das kurze irdische Leben.
Von Edith Stein, die 1942 in den Gaskammern von Auschwitz starb, wissen wir, dass sie – zumindest einmal – die ganze Heilige Nacht in schweigender Anbetung vor dem Tabernakel verbrachte. Sie durchlebte das ganze Elend unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger bis hin zur Vergasung. Doch auch sie vermochte sich nicht dem Zauber von Weihnachten zu entziehen, wenn sie in stimmungsvollen Worten das Geheimnis der Nähe Gottes zu uns in diesem Kind von Bethlehem ansprach.
Und wie ging es den Menschen nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft, nach Krieg und Zerstörung?
Für Kardinal Höffner waren Weihnachten 1945 die Kriegserlebnisse ganz präsent. „Müsste ich mich nicht heute in der Rückerinnerung meiner Freude an jenem Weihnachtstag schämen?“, schreibt er 1989 (in: Weihnachten 1945, hg. Claus Hinrich Casdorff) „Hatte denn damals neben Ekel, Trauer, Scham und Resignation über das Entsetzliche, das geschehen war, eine Regung der Freude Lebensrecht?“(S. 171) „Und doch, trotz all dieser Erfahrung“, schreibt er wenig später weiter, „ich gestehe es, hatte ich am Weihnachtsfest 1945 Gründe zur Freude, zur Hoffnung und Zuversicht.
Warum? Nun, das lag auch in persönlichen Umständen. Es tat gut zu wissen, dass es keine Geheime Staatspolizei mehr gab und dass bei der Sonntagspredigt kein mitschreibender Spitzel mehr zu befürchten war. Und es war schön, ohne Angst vor nächtlichem Bombenalarm am Abend einschlafen zu können. Ich war glücklich, dass das jüdische Mädchen Esther Sara, das ich seit 1943 in meiner Seelsorgestelle verborgen hatte, bald wieder unversehrt zu ihren Eltern, die in Berliner Verstecken überlebt hatten, zurückkehren konnte.“ (Ebd. S. 172)
Und noch einen weiteren Zeugen möchte ich kurz zu Wort kommen lassen: den Schriftsteller Heinrich Böll. Er schrieb: „Weihnachten 1945: Ich habe keine genauere Erinnerung daran. Christbaum? Kerzen? Ich weiß es einfach nicht mehr. Da war noch etwas, das vielleicht ‚festgehalten’ werden könnte: der Staub und die Stille.“ (Ebd. S. 73) Und dann geht er näher darauf ein: „Staub, Puder der Zerstörung drang durch alle Ritzen, setzte sich in Bücher, Manuskripte, auf Windeln, aufs Brot und in die Suppe… Das andere war die Stille. Sie war so unermesslich wie der Staub, nur die Tatsache, dass sie nicht total war, machte sie glaubwürdig und erträglich; irgendwo in diesen unermesslichen stillen Nächten bröckelten lose Steine ab oder stürzte ein Giebel ein; die Zerstörung vollzog sich nach den Gesetzen umgekehrter Statik mit der Dynamik im Kern getroffener Strukturen.“ (Ebd. 73f.)
Und heute? Liebe Schwestern und Brüder, heute am Weihnachtsfest 2008 sind die Kriegswunden baulich weitgehend vernarbt, ist die Freiheit kein leeres Wort und ist der Wohlstand allenthalben spürbar. Bei uns – und doch sieht es weltweit ganz anders aus: Hunderttausende von Menschen sterben an Seuchen, verhungern, werden gefoltert oder versklavt. Tyrannen üben dreist Schreckensherrschaften aus. Terrorakte, Aufstände, Piraterie, Unterdrückung und Folter sind leider immer noch an der Tagesordnung.
Aber auch bei uns im Lande steht vieles auf dem Spiel: Neonazis demonstrieren und attackieren. Verbrechen ereignen sich täglich und schrecken auf.
In den vergangenen Tagen konnte man bei uns in der Zeitung lesen: „Mutter ließ Baby in Toilette sterben“ (Volksblatt, 16.12.08), „Mutter stößt ihre Tochter von einer Brücke in den Tod“ (FAZ, 15.12.08), „In Tüte aufgefundenes Kind wurde getötet“ (FAZ, 15.12.08).
Das luxemburgische Parlament hat (am vergangenen Donnerstag) in erster Lesung einem Gesetz zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe zugestimmt.
Der Heilige Vater sah sich genötigt, in diesen Tagen eine Instruktion (DIGNITAS PERSONAE) über einige Fragen der Bioethik herauszugeben, um das uneingeschränkte „Ja“ zum menschlichen Leben auszudrücken. Darin heißt der erste Satz: „Jedem Menschen ist von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod die Würde einer Person zuzuerkennen.“
Weihnachten ist hochaktuell: Gott kommt in diesem Kind von Bethlehem in unsere Welt – nicht in Macht und Herrlichkeit, sondern in der Armut des Stalles und in der Ohnmacht eines neugeborenen Kindes. Er liefert sich gleichsam an uns aus. Seine Strategie ist die Liebe.
Nur da, wo Menschen sich diesem Anruf öffnen und – wie die Hirten – zur Anbetung kommen, das heißt auch zur Anerkennung und Annahme seiner Liebesbotschaft, erhält die Erlösung ein Gesicht, verwirklicht sich das, was die Engel auf den Hirtenfeldern Bethlehems sangen: „ Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade.“ (Lk 2,14).
Es liegt nun an uns, den Zauber der Weihnachtsnacht allen Menschen zu bringen. Gott hat uns berufen, sein Erlösungswerk schon auf Erden umzusetzen, heute und jetzt seinen Frieden und seine Gerechtigkeit weiterzugeben. Wir dürfen nicht auf andere schauen, sondern müssen uns selbst in den Blick nehmen. Es liegt jetzt alleine an uns, den Glanz von Weihnachten in die Dunkelheit dieser Zeit zu tragen. Amen.