Donebach/Miltenberg (POW) Michael Prokschi weiß nicht, ob sie ihn erkennt. Aber wenn er sie ruft, reagiert sie jedes Mal. „Haribo!“ Der Pfarrer steht in seinem grauen Pullover in einem abgetrennten Teilbereich des langen Milchkuhstalls. Es riecht nach Gülle und Heu. Immer wieder erfüllt ein langgezogenes Muhen den Stall. Prokschi beugt sich nach vorne, streckt die Hand aus. Die schwarz-weiße Kuh reagiert. Haribo stützt das Bein auf und hops. Es ist ein Schritt, wie von einem Menschen, der umgeknickt die ersten Schritte humpelt. Haribo läuft nicht wie andere Kühe, sie hat nur drei Hufe. Vor knapp fünf Jahren hat sie den rechten Vorderhuf bei einem Unfall verloren.
Prokschi erinnert sich. Es ist Samstag, der 20. Juli 2019. An diesem Tag fährt der heutige Kurator im Pastoralen Raum Amorbach und Dekan des Dekanats Miltenberg mittags die kurze Einfahrt von der Landstraße in den Hof der Wörners in Donebach. Ein Abstecher zu Michael Wörner. Seit er die Hochzeit des Landwirts gehalten hat, kommt er regelmäßig auf ein Gespräch vorbei. Doch die Wörners sind beschäftigt. Sie haben eine ihrer trächtigen Kühe am Morgen mit einem abgetrennten Huf im Stall gefunden – Haribo. Sie war wohl gestolpert und an der Umrandung der Box hängen geblieben. „Ich wollte nicht im Weg stehen“, erzählt Prokschi. Er fährt vom Hof, kommt am Montag wieder.
Am Montag hört er von Wörner, lange, braune Haare und Bart, die gesamte Geschichte. Haribo hat nur noch drei Hufe. Sie ist trächtig, steht kurz vor der Geburt. Sie soll das Kalb noch austragen und anschließend eingeschläfert werden. Für Kühe als Fluchttiere sei es das Schlimmste, aufstehen zu wollen, aber nicht zu können, erklärt Wörner. Doch Prokschi ist anderer Meinung. „Die wollte leben“, sagt er. Haribo habe ihn mit ihren großen, schwarzen Augen angeschaut. Er bietet an, sich um die Kuh zu kümmern. „Was wollen wir mit einer dreibeinigen Kuh? Du kannst sie haben“, scherzt die Bauernfamilie zu Beginn, erinnert sich Prokschi. Mit der Zeit wird deutlich: Haribo verlangt weiter Futter und versucht, sich von selbst hochzustemmen. Man habe Haribo nie antreiben müssen. „Sie hat immer einen Lebenswillen gehabt, das war das Schöne dran“, sagt Wörner, der den Hof gemeinsam mit seinen Brüdern und Eltern führt, heute. „Es war relativ schnell klar: Die Kuh will. Und wer will, dem hilft man.“
Nun hat Prokschi, der außer seiner Gärtnerausbildung keinen Bezug zur Landwirtschaft hat, also eine Kuh. In den folgenden drei Monaten fährt er jeden Tag zum Stall. Er macht Fußbäder für Haribo, wäscht den verletzten Stumpf mit Kernseife aus, reibt ihn mit Jodsalbe ein, verbindet ihn wieder. Der Strickkreis seiner Gemeinde fertigt Strümpfe zum Überziehen, damit die Wunde geschützt ist – extra für Haribo. Die Kuh lässt die ganze Prozedur geduldig über sich ergehen. Stück für Stück heilt das Bein ab. In Erinnerungen schwelgend klopft Prokschi der Kuh auf den Hals. „Das hast du alles mitgemacht“, sagt er zu ihr.
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Als das Bein abgeheilt ist, signalisiert Haribo, dass sie die Verbände nicht mehr braucht. Mit dem Kopf stupst sie den Pfarrer sanft weg, wenn er ihr Bein versorgen will. Sie humpelt durch den Stall und im Sommer auch nach draußen bis zur geschotterten Einfahrt. Die Heilung ist überstanden. Nicht alle verstehen Prokschis Einsatz für die behinderte Kuh. „‚Tierquäler‘, hat es geheißen“, erinnern sich Wörner und Prokschi. Und: „Wie kann man nur?“ Viele Menschen hätten nur milde gelächelt, ergänzt der Pfarrer. Beirren lässt er sich davon nicht.
Prokschi kommt weiterhin mindestens einmal in der Woche in den Stall, krault die Kuh und bürstet sie ab, legt sich manchmal auch neben sie ins Stroh. Sie brauche ihn nicht mehr, „aber sie genießt das auch so zu kuscheln“, sagt Prokschi. Wörner zuckt beim Gedanken an Haribo nur die Schultern. „Mich stört sie nicht“, sagt der Bauer, der im Vollerwerb auf dem Hof tätig ist. Ihm sei neben einem rentablen Betrieb auch wichtig, dass seine Kühe, egal wie kurz ihr Leben ist, ein erfülltes Leben führen.
Etwas Gutes an Haribos Unfall? Seit ihrem Unglück steht die dreifüßige Kuh in ihrem abgetrennten Bereich im Stall. Doch nicht alleine. Die Box hat sich zu einer Art „Pflege- oder Altenheim“ entwickelt. Regelmäßig stehen beispielsweise Kühe mit ihr im Stall, die nach dem Kalben erst einmal Ruhe brauchen. Als Krankenbox will Wörner sie nicht bezeichnen. „Haribo hat zwar eine Behinderung, aber eine kranke Kuh sieht anders aus“, sagt er.
Und auch für Kälbchen leistet Haribo einen wichtigen Dienst. Sie hat so viel Milch, dass sie als Ammenkuh regelmäßig die Kälbchen ihrer Stallkolleginnen mitsäugt. 13 Kühe hat sie so seit ihrem Unfall bereits großgezogen, inklusive ihrer eigenen drei Kälber: Hochwürden, Halleluja und Valentin. „Der Spruch ‚Alles Negative hat auch was Positives‘ spiegelt sich hier“, betont Wörner. Ohnehin könne er seine Entscheidung, Haribo auf dem Hof zu behalten, nicht mehr revidieren. „Wenn du einem Pfarrer eine Kuh schenkst und nimmst ihm sie wieder ab, dann kommst du in die Hölle. Das kannst du nicht machen“, sagt er mit einem Lachen.
Haribo und Prokschi trennen? Das scheint auch nicht zu funktionieren. Gerade hat der Pfarrer beide Arme um den Hals der Kuh gelegt, krault sie unter dem Maul. Haribo steht ruhig da, während sie ihr rechtes, kürzeres Bein grazil neben dem Linken hält. Für Prokschi sind die Besuche bei Haribo noch heute etwas Besonderes. „Das ist für mich ein Ruhepol“, sagt er. Ihre zutrauliche, verschmuste Art erde ihn nach einer anstrengenden Woche. Haribo sei wie ein „richtig großes Kuscheltier, ein liebes Kuscheltier“, ergänzt er. Hätte ihm vor fünf Jahren jemand gesagt, dass er bald eine Kuh besäße, er hätte gelacht. Und noch heute scherzt er: „Man kommt schneller zu einer Kuh als man denkt.“
Christina Denk (POW)
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