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Der sexuelle Missbrauch im Spiegel der Versuchungen Jesu

Hirtenbrief von Bischof Dr. Franz Jung zur österlichen Bußzeit

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Der Herr weint über Jerusalem

In eindrücklicher Weise beschreibt der Evangelist Lukas den Einzug Jesu in Jerusalem. Vom Ölberg her reitet Jesus auf dem Fohlen einer Eselin auf Jerusalem zu. Als sich ihm beim Hinabreiten des Ölbergs die Stadt in ihrer ganzen Pracht darbietet, sei Jesus in Tränen ausgebrochen. „Als er näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie“ (Lk 19,41). Eine verstörende Szene, weil seit Menschengedenken alle Jerusalempilger an genau dieser Stelle in Jubel ausbrachen, erfüllt von der Freude, das Ziel ihrer Pilgerschaft erreicht zu haben. Jesus reagiert zur Bestürzung seiner Begleiter ganz anders. Gleich den alttestamentlichen Propheten stimmt er ein Klagelied an über die Heilige Stadt. Der Gottessohn weint bittere Tränen über das unheilige Jerusalem, das die Propheten tötet (Lk 13,34) und die Stunde seiner Heimsuchung nicht erkannt hat.

Es ist diese verstörende Szene aus dem Lukasevangelium, die mir in diesen Tagen immer wieder in den Sinn kommt angesichts der Debatte um den sexuellen Kindesmissbrauch in der Kirche. Der Herr weint über Jerusalem. Er weint über seine Kirche, die einen solch erbärmlichen Anblick bietet. Er weint über eine Kirche, der es wichtiger war, ihr Ansehen und das Ansehen ihrer Amtsträger zu schützen, als sich um diejenigen zu sorgen, denen durch diese Kirche schwerstes Unrecht zugefügt wurde.

In seine Tränen mischen sich die Tränen der Betroffenen selbst, denen unsagbares Leid widerfuhr. In seine Tränen mischen sich auch die Tränen des Zorns und der Empörung derjenigen, die sich durch diese Kirche getäuscht sehen und ihre Heuchelei unerträglich finden. Sein Weinen und Wehklagen klingt fort in der Verstörung der Gläubigen, die selbst keine schlechten Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben, aber die plötzlich an dieser Institution irre werden und zu zweifeln beginnen. Zu den Tränen zählen nicht zuletzt auch die Tränen derjenigen, die sich nie haben etwas zu Schulden kommen lassen und die sich plötzlich auf der Anklagebank wiederfinden und einem Generalverdacht ausgesetzt sehen.

Versteht man den Missbrauchsskandal als Anruf zur Umkehr, kann er helfen, dass die Kirche sich von innen her erneuert. Natürlich ist es unmöglich, in einem Hirtenbrief die Herausforderung durch den sexuellen Missbrauch vollumfänglich zu behandeln. Das Evangelium von der Versuchung Jesu, das uns alljährlich am ersten Fastensonntag zur Betrachtung vorgelegt wird, hilft uns dennoch zu erkennen, worum es gehen muss. So sollen mir die drei Versuchungen Jesu als Leitfaden dienen für den diesjährigen Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit.

Die erste Versuchung zur Selbstgenügsamkeit

Jesus wird vom Geist zu Beginn seines irdischen Wirkens in die Wüste geführt. Der Missbrauchsskandal kann in ähnlicher Weise begriffen werden. Gott führt seine Kirche in die Wüste.

Wenn Du Gottes Sohn bist, sagt der Teufel, dann verwandle doch die Steine in Brot. Setz Deine Macht zu Deinen eigenen Gunsten ein. Du musst auf Erden wahrlich keinen Hunger leiden.

Der Teufel möchte zur Selbstgenügsamkeit verführen. Wenn ich mir besorgen kann, was ich brauche, benötige ich niemand anderen mehr. Gerade in Zeiten der Schwachheit stellt die Selbstgenügsamkeit eine besondere Versuchung dar. Als Kirche sich auf sich selbst zurückzuziehen, ohne nach den anderen und deren Bedürfnissen zu fragen, macht unglaubwürdig. Hat doch Kirche den Auftrag, den Hunger nach dem lebendigen Gott in der Welt wachzuhalten. Das geht nur, wenn man diesen Hunger nach Gott selbst spürt, ohne ihn vorschnell zu beruhigen.

Das betrifft auch die Situation der Kirche im Missbrauchsskandal. Wir haben gelernt, dass wir Unterstützung von außen benötigen. Der Außenblick der Betroffenen hilft uns, das Ausmaß dessen zu erkennen, was geschehen ist. Denn das Kreisen um sich selbst hat diese Wahrnehmung bislang verhindert. Der Außenblick durch fremden Sachverstand hilft uns, zu erkennen, wer wir wirklich sind und wie wir besser werden können. Er ist notwendig, um unsere eigene Erlösungsbedürftigkeit wieder zu entdecken.

Jesus selbst hat sich sein Leben lang geweigert, seine Vollmacht zu seinen eigenen Gunsten einzusetzen. Am Ende seiner irdischen Sendung tritt der Versucher in Gestalt der Soldaten noch einmal an ihn heran mit dem Hinweis, er sei doch der König der Juden. Als solcher könne er vom Kreuz absteigen (Lk 23,37). Aber auch jetzt weigert sich Jesus, sich selbst zu erlösen. Gerade indem er das Leiden der Menschen selbst durchlebt, trägt er den unendlichen Hunger nach Gott in die tiefste Gottverlassenheit. Nur Gott kann den Hunger nach Leben stillen.

Seit alters gelten das Fasten und der bewusste Verzicht auf Nahrung in den Tagen der österlichen Bußzeit als Übung, um die eigene Selbstgenügsamkeit aufzubrechen und neu nach Gott zu fragen.

Die zweite Versuchung zum Machterhalt durch Teufelspakt

In einem zweiten Anlauf zeigt der Teufel Jesus alle Reiche der Welt. Er behauptet, Herr über all diese Reiche zu sein. Zugleich bietet der Teufel Jesus die Weltherrschaft an unter der Bedingung, dass der Gottessohn ihn anbetet. Doch Jesus weigert sich, vor dem Teufel in die Knie zu gehen. Anbetung gebührt allein Gott.

Eine beunruhigende Szene. Ihre Botschaft lautet: Macht erlangt man nur durch das Paktieren mit dem Teufel. Im Johannesevangelium trägt er den Titel des „Herrschers dieser Welt“ (Joh 12,31). Denn die Herrscher dieser Welt tun sich schwer damit, von der Macht zu lassen. Macht tendiert zum Machterhalt. Der lässt sich häufig nur durch unlautere Mittel sichern. So nimmt es nicht wunder, wenn man davon hört, wie Wahrheitsbeugung, Einschüchterung und Unterdrückung zu Begleitern der Machthaber dieser Welt werden.

Der Raum der Kirche bildet hier keine Ausnahme. Die Kirche ist insofern noch gefährdeter, als sie unhinterfragt davon ausgeht, ein Gegenmodell zu den Reichen dieser Welt zu sein. Von ihrem Stifter her versteht sie sich als wohltätige Herrschaft. Dieses Selbstverständnis gilt es offenbar um jeden Preis zu wahren. Das zumindest war der Eindruck bei Bekanntwerden der Missbrauchsfälle.

Der seelsorgerliche Sendungsauftrag kann dazu verführen, aus Selbstsucht asymmetrische Beziehungen aufzubauen. Dadurch wird der Charakter der sakramentalen Weihe ins Gegenteil verkehrt. Das führt zum Machtmissbrauch gegenüber Schwächeren und Minderjährigen, die diese Überlegenheit fraglos anerkennen und sich ihren Anweisungen guten Glaubens unterwerfen.

Viele vom sexuellen Missbrauch Betroffene fühlten sich überdies im Nachhinein eingeschüchtert. Anstatt ermutigt zu werden, ihre Erfahrungen zu schildern, sahen sie sich bedroht. Sie fanden sich plötzlich auf der Anklagebank wieder, anstatt die notwendige Hilfe zu finden. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, wurde der Missbrauch kleingeredet oder vertuscht. Die Wahrheit wurde gebeugt, die Betroffenen ein zweites Mal traumatisiert. Das Ansehen der Kirche und ihrer Amtsträger stand oft über der Sorge um die Opfer der Institution. Macht zeigt sich so von ihrer hässlichen Seite.

Nach dem Verständnis Jesu aber ist Macht immer Dienst und hat gerade nicht den Selbsterhalt zum Ziel. Jesus ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben für viele (Mk 10,45). Die verheißene Weltherrschaft erlangt erst der auferstandene Christus. Es ist derselbe Herr, der die Wundmale an seinem Leib trägt. Nur der kann wohltätige Herrschaft von Gott her beanspruchen, der auf Erden in der Nachfolge Christi sein Leben für andere eingesetzt und ihnen gedient hat.

Die österliche Bußzeit lädt ein zum Almosengeben. In den leiblichen und geistlichen Werken der Barmherzigkeit sollen wir unser Vermögen im umfassenden Sinn in den Dienst der Machtlosen und Notleidenden stellen.

Die dritte Versuchung zum Gefühl der Unverletzlichkeit

Nachdem Jesus auf die Versuchungen des Teufels jeweils mit einem Wort der Heiligen Schrift geantwortet hatte, bemüht der Teufel selbst die Schrift. Er zitiert das Trostwort aus Psalm 91 „Seinen Engeln befiehlt er deinetwegen, dich zu behüten; sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt“ (Ps 91,11-12). So ermutigt der Teufel Jesus, sich von der Tempelzinne herabzustürzen. Jesus aber hält ihm entgegen, der Mensch dürfe den Herrn nicht auf die Probe stellen.

Der Teufel spielt mit dem uralten Traum der Unverwundbarkeit. Du bist doch Gottes Sohn. Dir kann niemand etwas anhaben. Lass Dich fallen. Gott wird dich schon auffangen. Die Missbrauchsproblematik hat viel mit diesem Gefühl der Sicherheit zu tun.

Die Institution Kirche wiegte sich in der Sicherheit, mit Verbrechen dieser Art niemals in Verbindung gebracht zu werden. Schließlich hätten ja ihre Vertreter mit dem Zölibat eine Lebensform gewählt, mit der solches Tun unvereinbar ist. Die Täter konnten sich in fataler Weise sicher sein, dass ihre Übergriffe vor der Öffentlichkeit verborgen blieben. Ihre Sicherheit gründete auf der Überzeugung vieler Menschen, ein geistlicher Würdenträger würde sich korrekt gegenüber Schutzbefohlenen verhalten. Deshalb durfte er auch davon ausgehen, dass den Betroffenen kein Glauben geschenkt würde, wenn sie erzählten, was ihnen widerfahren ist.

Falsche Selbstsicherheit wird im Leben immer zum Einfallstor des Bösen. Denn sie verleitet zur Nachlässigkeit. Umdenken tut Not. Die Kirche ist zum einen als Sakrament Zeichen und Werkzeug des Heils für die Welt. Zum anderen müssen wir dies immer neu werden. Und wir müssen beständig die eigene Institution, ihre Abläufe und ihre Handlungsträger wachsam in den Blick nehmen. Nur so können wir Sorge dafür tragen, mögliches Fehlverhalten und seine Ursachen rechtzeitig zu erkennen und ihm entgegenzusteuern.

Die österliche Bußzeit lädt ein zum Gebet. „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet“ (Mt 26,41), rät Jesus den Jüngern am Ölberg. Das Gebet hält an zur Wachsamkeit. Betend bringt der Mensch sein Leben vor Gott, um sich von ihm her neu ausrichten zu lassen.

Nicht den Geist der Verzagtheit, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (2Tim 1,7)

Liebe Schwestern und Brüder,

mit Jesus, der über Jerusalem weint, habe ich meine Überlegungen begonnen. Ich weiß, dass viele Menschen der Kirche nicht zutrauen, den Missbrauch aufzuarbeiten. Dagegen helfen keine Worte, sondern nur Taten, an denen man sich messen lassen muss.

Ich weiß auch, dass viele Menschen sich rasches Handeln wünschen. Das ist nachvollziehbar. Dennoch wird es einige Zeit in Anspruch nehmen, weil wir diesen Weg der Erneuerung nicht alleine gehen wollen, sondern in Zusammenarbeit mit vielen anderen Kräften unserer Gesellschaft, die mit uns das Ziel verfolgen, Missbrauch nachhaltig zu unterbinden.

In dieser Situation kann uns unser Jahresmotto weiterhelfen. Wir wollen uns nicht von der Verzagtheit entmutigen lassen. Vielmehr geht es darum,

kraftvoll diesen Weg der Läuterung zu beginnen,

dabei die nötige Besonnenheit walten zu lassen,

um in der Liebe Christi erneuert zu werden.

Das wünsche ich uns allen auf unserem gemeinsamen Weg in diese heiligen 40 Tage der österlichen Bußzeit. Gott segne Sie alle und unser Bistum: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.