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„Die Gesellschaft ist unheimlich kompliziert geworden“

Anna Stankiewicz, pädagogische Leiterin der kirchlichen Jugendarbeit im Bistum Würzburg: „‘Die Jugend‘ gibt es nicht“ – Warum sich die kirchliche Jugendarbeit mit der Sinus-Milieustudie U18 beschäftigt

Würzburg (POW) Das Leben heute ist kompliziert. Weitaus komplizierter, als es noch vor einem Jahrzehnt war. Das glauben zumindest die Jugendlichen unter 18 Jahren, die im Rahmen der Sinus-Milieustudie U18 befragt wurden. Im folgenden Interview erläutert Anna Stankiewicz, pädagogische Leiterin der kirchlichen Jugendarbeit im Bistum Würzburg, warum sich auch die katholische Kirche mit dieser Untersuchung beschäftigt, und erklärt, welche Schlüsse die Verantwortlichen daraus ziehen.

POW: Um was geht es bei der so genannten Sinus-Milieustudie U18 und warum beschäftigt sich die katholische Kirche mit diesem Thema?

Anna Stankiewicz: Die kirchliche Jugendarbeit ist natürlich sehr daran interessiert zu wissen, wer genau ihre Zielgruppe ist, was diese macht und wie sie tickt. Wenn wir wissen, was die Jugendlichen bewegt, können wir diese auch bewegen. Deswegen ist es wichtig herauszufinden, wohin sich die Jugendlichen entwickeln, was ihnen wichtig ist, ihnen Freude bereitet oder auch Sorgen und Ängste macht.

POW: Wer wurde für die Studie von wem und wozu befragt?

Stankiewicz: Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) war einer der Auftraggeber, zusammen mit Misereor und weiteren Beteiligten. Erstellt wurde die Studie vom Sinus-Institut und im März 2012 veröffentlicht. Es handelt sich um eine qualitative Studie.

POW: Das heißt genau was?

Stankiewicz: Es wurden offene Fragen gestellt, also nicht nur nach „Ja“ oder „Nein“ gefragt. Außerdem war es eine repräsentative Umfrage. Das bedeutet, es wurden nicht nur kirchlich gebundene katholische Jugendliche befragt, sondern junge Leute aus ganz Deutschland, aus allen Schichten, Bildungsniveaus und Religionen oder Weltanschauungen. Die Befragten bekamen außerdem ein so genanntes „Hausaufgabenbuch“. Darin sollten sie aufschreiben, was sie beschäftigt, was ihnen wichtig ist, und zwar alles unter der Überschrift: „Was gibt meinem Leben Sinn?“. Zusätzlich wurden die Zimmer der Interviewten fotografiert. Anhand der eingereichten Hausaufgabenbücher wurden dann nochmals 72 ausgewählte Jugendliche eingeladen, bei Interviews von etwa 120 Minuten Dauer Fragen zu beantworten wie: „Was ist für mich der Sinn des Lebens?“, „Was mache ich in meiner Freizeit besonders gerne?“ oder „Wo und wie grenze ich mich von anderen ab?“. Die gewonnenen Ergebnisse wurden zusammengefasst und zu dem grafischen „Kartoffelmodell“ abstrahiert.

POW: Nach welchen Kriterien wurden die Jugendlichen dann kategorisiert?

Stankiewicz: Es gibt drei Grundorientierungen. Die eine ist die traditionelle, bei der es um Sicherheit und Ordnung geht. Die zweite ist die moderne Orientierung, bei der es um Bereiche Haben und Zeigen, Sein und Verändern geht. Man könnte auch sagen die bürgerliche Mitte. Die dritte Grundorientierung ist eine postmoderne. Dabei geht es ganz stark um Machen und Erleben, Grenzen überwinden und Sampeln, also Bekanntes neu zusammenzusetzen.

POW: Was ergibt sich daraus an neuen Erkenntnissen?

Stankiewicz: Zum einen, dass es „die Jugend“ so nicht gibt. Es gibt die drei Wertorientierungen, die sich dann nochmals in den Lebenswelten unterscheiden. Zum Beispiel nach dem Grad der Bildung und des Einkommens, beziehungsweise des verfügbaren Geldes. Wirklich neu war in diesem Zusammenhang, dass es bei Jugendlichen auch schon eine prekäre Lebenswelt gibt.

POW: Was kennzeichnet diese Gruppe?

Stankiewicz: Die Gruppe der prekären Jugendlichen sieht für sich nur ganz schlechte Zukunftsperspektiven und nimmt wahr, dass sie ganz schlechte Startvoraussetzungen hat. Das schlägt sich auch in einer negativ geprägten Sprache nieder. Typisch sind Sätze wie „Ich will nicht Hartz-IV-Empfänger werden“ oder „Ich möchte nicht arbeitslos sein, Hauptsache irgendeine Arbeit“. Es muss uns alle nachdenklich machen, dass eine solche Gruppe existiert. Als kirchliche Jugendarbeit sind wir in diesem Sektor bislang explizit nicht aktiv. Natürlich engagieren wir uns in der Mitte der Gesellschaft, die traditionellen und modernen Gruppen decken wir ab, aber im Feld der Postmodernen und der Prekären sind im Großen und Ganzen wir außen vor.

POW: Auch trotz der offenen Jugendarbeit oder des Engagements der Bahnhofsmission?

Stankiewicz: Letzteres ist wie Streetwork Jugendsozialarbeit und unterscheidet sich wesentlich von unserem Ansatz der kirchlichen Jugendarbeit. Wir wollen Jugendliche anregen, selbständig aktiv und kreativ zu werden, sie begleiten und in ihrer ganzheitlichen – auch religiösen – Entwicklung fördern. Natürlich wollen die drei offenen Angebote der kirchlichen Jugendarbeit im Bistum Würzburg, die Katakombe in Aschaffenburg, das „Café Dom@in“ in Würzburg und das „Kom,ma“ in Schweinfurt auch die prekären Jugendlichen erreichen, was auch ansatzweise gelingt. Darüber hinaus sind wir gut vernetzt auch mit den Stellen der Jugendsozialarbeit. Aber unser Hauptaugenmerk gilt der bürgerlichen Mitte.

POW: Was lehrt die Studie Neues über diese Gruppe?

Stankiewicz: Die Jugendlichen glauben, die Gesellschaft ist unheimlich kompliziert geworden. Früher sei alles einfacher und klarer gewesen. Der Faktor Sicherheit fehlt.

POW: Woran machen die jungen Leute das fest?

Stankiewicz: Die Strategie lautet: Ich muss etwas leisten, um zu etwas zu kommen. Die Jugendlichen gehen die Herausforderungen optimistisch an – mit Ausnahme der Prekären. Die Mehrheit versucht, sich die Werte dafür passend zusammenzumischen. Sie sagen nicht mehr: „Ich will so werden wie meine Mama“, sondern suchen sich aus, was für sie selbst passt. Spannend finde ich, dass das Bedürfnis nach Halt, Zuverlässigkeit und Zugehörigkeit bei allen Jugendlichen vorhanden ist, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt. Von daher gebärden sich alle Befragten schon ein wenig wie Mini-Erwachsene. Sie mixen dabei, wie es ihnen passt: Sparen ja, aber auch Spaß haben, Karriere ja, aber auch Familie. Früher gab es immer nur entweder Haus bauen oder Geld ausgeben, Familie oder Erfolg im Beruf.

POW: Welche Rolle spielt denn die Kirche bei Jugendlichen?

Stankiewicz: Eine institutionell verfasste Kirche ist nur für die konservativ-bürgerlichen Jugendlichen wichtig. Alle anderen sagen: Glaube ist etwas Privates, Individuelles, Veränderbares, das nur mich etwas angeht. Die so genannten „religiösen Touristen“ suchen sich nur das aus, was sie anspricht und ihnen im Augenblick etwas zur Lebensbewältigung zu bringen scheint. Kirche wird von der Mehrheit der befragten Jugendlichen als etwas Starres, wenig Formbares, Langweiliges und Unattraktives betrachtet. Die Institution betrachten sie als menschenfern und haben kaum emotionale Bindung zu ihr. „Priester? Die sehen doch alle gleich aus“, war eine der Aussagen.

POW: Welche Schlüsse ziehen Sie für die Jugendarbeit aus der Studie?

Stankiewicz: Wir versuchen, der Vielfalt ein stärker gerecht zu werden. Das Zentrum der Arbeit sind und bleiben die Pfarrei, die Verbände, die Gruppen vor Ort. Trotzdem versuchen wir immer wieder neue Angebote in neuen Arbeitsfeldern zu entwickeln, wie zum Beispiel in den Jugendkirchen. Darüber hinaus wächst der Schule eine größere Bedeutung zu. Junge Menschen verbringen immer mehr Zeit in der Schule. Hier versuchen wir Anschluss zu finden. Wir machen Angebote wie Besinnungstage und Orientierungstage an Schulen, P-Seminare und Ähnliches. Da erreichen wir einfach noch mal die ganze Bandbreite der Jugendlichen. Außerdem setzen wir auf die offenen Einrichtungen, die auch ein wenig die prekären Jugendlichen erreichen. Was wir aber dringend brauchen, sind Zugang und Angebote für expeditive Jugendliche. Die sind innovativ. Wenn diese bei uns eine Heimat finden, dann gestalten und prägen sie kirchliche Jugendarbeit zukunftsorientierter mit. Allein: sie zu erreichen, ist nicht leicht.

POW: Wie kann die Jugendarbeit auch politisch Impulse in die Gesellschaft hinein tragen?

Stankiewicz: Politisch gesehen ist das Thema der prekären Jugendlichen von großem Belang. Es gibt Abschottungstendenzen der Art „Wir wollen mit diesen Prekären nichts zu tun haben“. Es besteht eine unsichtbare Mauer, die es abzutragen gilt. Außerdem ist es wichtig darauf zu achten, dass die Jugend noch Räume hat, wo sie informell lernen kann und nicht nur Leistung bringen und funktionieren muss.

POW: Das ist allem Anschein nach durch Neuerungen wie das G8 für die Jugendlichen heute eher noch schwieriger geworden.

Stankiewicz: Deswegen fordern wir als kirchliche Jugendarbeit hier ein Überdenken dieses Schulkonstrukts. Wir bekommen deutlich zu spüren, dass Jugendliche heutzutage einerseits immer weniger Zeit für ehrenamtliches Engagement haben und andererseits Bildung sehr schnell auf formale und schulische Bildung reduziert wird. Ganzheitliche Bildung findet aber nicht unbedingt in der Schule statt, sondern vor allem in informellen und freiwilligen Bildungszusammenhängen, wie zum Beispiel in der kirchlichen Jugendarbeit.

POW: Wie wird U18-Studie außerdem in Ihre Arbeit einfließen?

Stankiewicz: Wir sind gerade dabei, die Ergebnisse auf den verschiedenen Ebenen vorzustellen. Studientage werden im Herbst stattfinden. Mein Kollege Matthias Zöller – wie ich im Leitungsteam der kirchlichen Jugendarbeit – und ich haben Fortbildungen zum Thema absolviert und bieten Vorträge an, um die Studie bekannt zu machen. In Gesprächen mit der Bistumsleitung können die Ergebnisse vielleicht auch einfließen.

POW: Was würden Sie gerne in fünf Jahren sagen, wenn ich Sie befragte, was die Sinus-U18-Studie denn bewirkt hat?

Stankiewicz: Mein Wunsch wäre, sagen zu können: Wir erreichen alle Jugendlichen und haben auch die prekären im Blick. Und wir sind bestens vernetzt mit allen Stellen, die sich im weiten Feld der Jugendarbeit engagieren, auch über den kirchlichen Bereich hinaus.

Zur Person:

Anna Stankiewicz (32) ist Master der sozialen Arbeit und seit Oktober 2010 pädagogische Leitung der kirchlichen Jugendarbeit (kja) im Bistum Würzburg. Sie stammt aus dem Bistum Eichstätt, wo sie zuvor als Ehren- und Hauptamtliche in der kirchlichen Jugendarbeit aktiv war.

(3812/0936; E-Mail voraus)

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