Liebe Schwestern und Brüder Christi,
spielen Sie ein Instrument oder singen Sie gerne? Vielleicht hören Sie auch gerne Musik, ohne selbst ein Instrument zu spielen. Wie auch immer, stellt sich die Frage: Was kommt, nachdem der letzte Ton gespielt ist oder gesungen wurde? Was kommt nach dem letzten Klang, den wir hören? – Stille.
Und wie ist das mit unserem Leben? Was kommt danach, wenn das letzte Wort gesprochen und der letzte Atemzug getan ist? Was kommt danach? Es gibt wohl kaum einen Menschen, der sich diese Frage nicht stellt. Was kommt nach dem Tod? Diese Frage mag sich im Laufe der Lebensjahre mit unterschiedlicher Dringlichkeit stellen. Doch auch Kinder sind gegenüber dieser Frage nicht gleichgültig. Sie fragen nach, wenn sie mit dem Tod konfrontiert sind. „Was ist denn jetzt mit der Oma oder dem Opa, den wir begraben haben?” Und wer von uns ist nicht mit dem Tod konfrontiert – früher oder später wir doch alle. Darum kommen auch Religionen und Sinnsysteme, die den Menschen eine Lebensorientierung geben wollen, nicht um diese Frage herum. Was kommt danach?
Als sich das Christentum formte und in der Jüngerschaftsbewegung Gestalt annahm, war es auch ein „Kind seiner Zeit“. Als der Schritt aus dem ersten Bezugsrahmen des Judentums in die heidnische Welt unternommen wurde, sahen sich viele Gemeinden mit unterschiedlichen Mysterienkulten, dem römischen Kaiserkult als damals praktizierter Form von Religiosität sowie mit philosophischen Strömungen und dem, was wir heute als „antiken Götterhimmel“ bezeichnen, konfrontiert. Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, welche Kontrastgesellschaft die christliche Glaubensgemeinschaft in all ihrer Vielfalt im Hinblick auf diesen heidnischen Bezugsrahmen darstellte.
Mit dem ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich liegt uns die wohl älteste zusammenhängende Schrift des Neuen Testaments vor. In der zweiten Lesung haben wir einen kleinen Abschnitt daraus gehört. Paulus wendet sich darin an die Gemeinde und skizziert ein Urbekenntnis, das nicht nur der Auferstehung Jesu als erhöhtem Herrn gilt, sondern auch aufzeigt, wie sich die christliche Verkündigung seines Todes und seiner Auferstehung auf unser Leben auswirkt: „Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott die Entschlafenen durch Jesus in die Gemeinschaft mit ihm führen.“ Ein Urbekenntnis und eine Urorientierung für alle, die seitdem den christlichen Weg gehen und sich die Frage stellen: „Was kommt danach?” In diesen kurzen Worten erhält die Frage eine erste, eine neue, eine christliche Antwort. Es geht nach dem Tod nicht irgendwie weiter, etwa im Sinne einer befreiten Seelenwanderung, weil der lästige Leib keine Rolle mehr spielt – das ist ohnehin kein christliches Gedankengut. Wir werden vielmehr durch Jesus in Gemeinschaft mit Gott, das heißt in Begegnung mit ihm, geführt. Das ist die christliche Antwort, an die wir bis heute glauben.
Die Wurzeln dieser Glaubenshaltung wurden bereits in der frühjüdischen Apokalyptik gelegt. Diese Zeit (etwa in den letzten drei Jahrhunderten vor Christus) war geprägt von dramatischen Auseinandersetzungen und grausamer Fremdherrschaft der umliegenden Großreiche gegenüber dem Judentum. Gerade die Verfolgung hat bei den Gläubigen für viele Opfer gesorgt. Für ihren Glauben, für das Bekenntnis zu dem einen Gott Israels, ließen diese in Treue ihr Leben. Das war offenkundig. Aber kann denn für diese Treuen das Ende ihres Lebens wirklich nichts als das Ende sein? Was kommt für sie danach? Anhand dieser Frage bildet sich die Überzeugung heraus, dass die Verfolgungen für die vielen Opfer, die um ihres Glaubens willen ihr Leben ließen, gerade nicht das Ende bedeuten können. Das Buch Daniel, aus dem wir in der ersten Lesung gehört haben, gibt uns einen kurzen Reflex auf diese Frage. Die Ermutigung, in Zeiten der Bedrängnis und des Leids standzuhalten, wird nicht nur mit der Hoffnung verbunden, die Zeit der Unterdrückung irgendwie zu überstehen. Dafür gab es bereits zu viele Opfer. Vielmehr wird die Ermutigung mit der Überzeugung verbunden, dass ein endzeitliches Gericht bevorsteht, in dem Gott den Opfern und Tätern Gerechtigkeit widerfahren lässt. Die einen, so heißt es, werden „erwachen zum Leben“, die anderen „zur Schmach, zu ewigem Abscheu“. Nun liegt es gar nicht an uns, den Richterstuhl einzunehmen, denn dieser wird ausdrücklich Gott vorbehalten. Dass es jedoch ein Gericht gibt, das sich auf unser Tun und Lassen zu Lebzeiten bezieht, ist zum festen Bestandteil geworden, an dem die christliche Glaubensüberzeugung anknüpft.
Jesus selbst spricht davon – nicht nur im Evangelium, das wir heute gehört haben. Das Johannesevangelium hat es zu einem seiner großen Verkündigungsziele gemacht, die Verbindung von Glauben und einem neuen Leben in Jesus zu beleuchten. Auch in unserem heutigen Evangelium sind diese Grundworte genannt. Glauben wird zu einer inneren neuen Wirklichkeit, zu einem neuen Leben, wenn wir auf das Wort des Herrn hören – und noch mehr: Wenn wir es geschehen lassen, es in die Tat umsetzen, verwirklichen, ihm gehorchen. Dieser innere Zusammenhang liegt in den Worten: „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen.“
Diese Verbindung von Glauben und Leben betrifft übrigens nicht nur das Ende unseres physischen Lebens. Der Johannesevangelist will uns nahebringen, dass wir durch den Glauben an Jesus jetzt schon in ein neues Leben eintreten und neu geboren werden. Diese erlösenden Worte spricht Jesus nicht nur den Lebenden zu. Sie gelten auch für die Verstorbenen, was zeigt, dass er eine neue Vollmacht über Leben und Tod beansprucht. Wer auf sein Wort hört, hat das Leben und kommt nicht ins Gericht.
Zur Wahrheit des Evangeliums gehört jedoch auch, dass wir – zumindest die allermeisten von uns – schwerhörig sind und so seinem Wort zu wenig Vertrauen schenken, es nicht verwirklichen und nicht geschehen lassen. Darum ist unser Leben, wie es ist, und unsere Welt auch. Wir leiden unter Hörstörungen, individuellen ebenso wie globalen. Wir hören nicht gut genug auf das lebensspendende Wort des Herrn.
„Störungen haben Vorrang.“ Dieser pädagogische Ratschlag von Ruth Cohn ist für uns heute wichtig. Wenn wir den Allerseelentag feiern und dabei auch das mitbedenken, was traditionell als „Fegefeuer“ oder „Purgatorium“ bezeichnet wird, dann können wir das mit einem Orchester und einem Chor vergleichen.
Jeder, der gerne Musik macht, in einem Chor singt oder ein Instrument spielt, weiß, dass es dazu Übung braucht. Der gute Wille allein genügt eben nicht, um gut gemeinsam Musik zu machen. Das Einüben in einen größeren Gesamtklang hat immer auch damit zu tun, dass es nicht ohne Fehler abläuft. Das weiß im Hinblick auf das Musikerleben jede und jeder, der andere in Musik unterrichtet. Das weiß im Hinblick auf unser Leben auch der barmherzige Gott. Wir kommen nicht fehlerlos durchs Leben. Vielmehr sollten wir uns darin einüben und lernen, immer besser zu hören, was er durch sein Wort für uns und unser Leben zu sagen hat.
Wenn wir nicht als Heilige aus dem Leben scheiden, das heißt, in einem Zustand der Gnade gut auf Gott und seinen Ruf hörend, dann werden wir nur unzureichend eingestimmt in den Himmel, also in die Gemeinschaft mit Gott, gelangen. Diese Hörstörung zu beheben hat Vorrang. Sie muss beseitigt werden, sonst können wir uns nicht in den symphonischen Gesamtklang der himmlischen Gemeinschaft einfügen. Wenn wir zu Gott kommen und in dieser großartigen Gemeinschaft mitspielen und mitsingen wollen, dann wird das Leben vieler von uns im Tod eher wie ein ramponiertes Instrument aussehen: schwergängig, mit fehlenden Saiten, hängenden Registern oder, wie bei Choristen mit angeschlagenen Stimmbändern, nur eingeschränkt singfähig. Manch einer wird erstaunt feststellen, dass es zu Lebzeiten gar nicht darum ging, als Solist gegen andere aufzutrumpfen, sondern in einer großen Gemeinschaft unterwegs zu sein. All das wird uns mit der Erkenntnis einholen, dass sich der volle Klang in unserer Lebenspraxis durch unseren Eigensinn, unseren Stolz, unsere Angst oder Mittelmäßigkeit gar nicht recht entfaltet hat.
In diesem Prozess der Einstimmung in den Gesamtklang, den wir als Purgatorium oder „Fegefeuer“ bezeichnen, wird uns durch Gott dabei geholfen, diese geistlichen Hörstörungen, also die Defizite unserer Sünden, zu überwinden. So können wir uns voller Hoffnung in diesen großen Gesamtklang einstimmen und gottgemeinschaftsfähig werden. Alles, was dem Ruf seiner liebenden Stimme und der Symphonie des Himmels entgegensteht, soll bereinigt werden. Die Wahrheit des gemeinsamen Musizierens als Verstehenshilfe für himmlische Herrlichkeit umfasst auch die Tatsache, dass Musik nicht nur uns selbst erfreut, sondern auch ein Geschenk für andere ist, die sie einbezieht und für die sie erklingt. In diesem Sinne halten wir auch fest an der Gemeinschaft des Glaubens und der Heiligen.
Unsere Glaubensgemeinschaft ist auch eine Gebetsgemeinschaft, die über den Tod hinaus besteht. Sie kommt nicht nur am heutigen Allerseelentag zum Ausdruck. Wir glauben, dass unsere Gebete den Verstorbenen dabei helfen, ihre Schwerhörigkeit gegenüber Gott zu überwinden und sich vollkommen auf die himmlische Herrlichkeit und den Frieden einzustimmen, die sie erwarten. Darum beten wir für sie, dass sie der Gnade Gottes und seinem Heilswillen entsprechend ihr Ziel erreichen: seinen Frieden. Umgekehrt glauben wir, dass diejenigen, die uns im Tod vorausgegangen sind und den Prozess der Gemeinschaftsfähigkeit mit Gott durchlaufen, auch für uns bei Gott eintreten, damit auch wir unsere geistliche Schwerhörigkeit im Glauben immer mehr überwinden können.
Allerseelen erinnert uns daran, dass die Liebe Gottes mächtiger ist als der Tod und unsere geistliche Schwerhörigkeit. Das gemeinsame Begehen dieses Tages in der Eucharistie, im persönlichen Gebet für die Verstorbenen oder durch den Friedhofsbesuch zeigt uns, dass unsere Glaubensgemeinschaft über den Tod hinausreicht. Der Reinigungsprozess im Fegefeuer ist dann keine zu fürchtende Strafe eines quälenden Gottes, sondern eine heilsame und tröstliche Verheißung, dass Gott uns barmherzige Wege eröffnet, die uns helfen, voll Hoffnung und Sehnsucht auf die volle und letztgültige Begegnung mit dem Herrn in der Gemeinschaft aller Heiligen einzustimmen, zu der wir gerufen sind. Dafür lohnt es sich zu leben, und daraufhin lohnt es sich zu sterben. Um diesen symphonischen Frieden beten wir am heutigen Allerseelentag für unsere Verstorbenen.
