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„Die Ukraine versteht sich unmissverständlich als Teil Europas“

Interview mit Lemberger Dozent Dr. Andriy Mykhaleyko zur Lage in der Ukraine – „Die Kirchen sind darum bemüht, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen“ – Priester demonstrieren mit und bieten Schutz in den Kirchen Kiews

Würzburg/Eichstätt/Lemberg (POW) Hunderttausende Menschen demonstrieren seit Ende 2013 gegen die pro-russische Politik von Präsident Viktor Janukowitsch in der Ukraine. Sie fordern mehr Rechte und eine Annäherung an die EU. Dr. Andriy Mykhaleyko beobachtet die Proteste in seiner Heimat ganz genau. Mykhaleyko lehrt Kirchengeschichte an der Ukrainischen Katholischen Universität im westukrainischen Lemberg (Lviv). Derzeit habilitiert der griechisch-katholische Priester an der Katholischen Universität Eichstätt/Ingolstadt. Im Interview mit POW schätzt er die derzeitige Lage ein und erklärt, welche Rolle die Kirchen bei den pro-westlichen Demonstrationen in der Ukraine spielen.

POW: Die deutschen Medien zeigen die Demonstrationen in der Hauptstadt Kiew. Wie schätzen Sie die aktuelle politische Lage in der Ukraine ein?

Dr. Andriy Mykhaleyko: Man kann die gegenwärtige politische Situation in der Ukraine sehr unterschiedlich betrachten: Pessimisten stellen fest, dass die Proteste eigentlich nichts gebracht hätten. Es wurde keine Annäherung an die EU erreicht. Darüber hinaus hat die ukrainische Regierung ungeachtet der andauernden Demonstrationen einige Dokumente mit Russland unterschrieben, die die Ukraine noch stärker an Russland binden und vom großen Nachbar abhängiger machen. Die gegenwärtige Regierung ignoriert die Forderungen der Protestierenden völlig und hat anscheinend nicht vor, in absehbarer Zeit die Frage des Assoziierungsabkommens mit der EU aufzugreifen. Zugleich gestaltet sich aber gerade in diesen Protestwochen die ukrainische Zivilgesellschaft neu. Vergleicht man die gegenwärtigen Proteste mit der „Orangenen Revolution“ 2004, die sich gegen die massiven Wahlfälschungen richtete, kann man schon jetzt eine deutliche Akzentverschiebung erkennen. Während die Menschen damals eher auf eine bestimmte Gruppe von Oppositionspolitikern mit dem späteren Präsidenten Viktor Juschtschenko (2005-2010) an der Spitze setzten, protestieren sie heute vor allem für ihre Rechte, Freiheiten und Menschenwürde und nicht zuletzt für die Idee einer europäischen Ukraine.

POW: Woran machen Sie das fest?

Mykhaleyko: Ganz besonders in den ersten Tagen der Proteste war die Tendenz bemerkbar, dass viele Demonstrationen sich mit keiner der oppositionellen Parteien identifizieren wollten. Das beweist, wie sehr die Menschen von diesen in den Jahren nach 2004 enttäuscht waren. Parteiunabhängige Gruppen haben sich gebildet, die den Protesten ein neues Gesicht und eine neue Qualität verleihen. Erfreulich ist dabei, dass diesmal die Initiative von der studentischen Jugend ausging. Sie spüren vielleicht am deutlichsten, dass es bei den gegenwärtigen politischen Entscheidungen für oder gegen eine Annäherung an die Europäische Union um ihre Zukunft geht. So bleibt die politische Lage angespannt, denn die Protestaktionen dauern an, und man weiß nicht genau, was der nächste Tag bringen wird.

POW: Wie ist die Situation zu Jahresbeginn 2014 in Lemberg (Lviv)?

Mykhaleyko: Die westukrainische Stadt Lemberg spielte 2004 und spielt auch heute eine wichtige Rolle. In den ersten Tagen nach dem Scheitern der Unterzeichnung des Abkommens demonstrierten hier sogar mehr Menschen gegen die Regierungsentscheidung als in der Hauptstadt Kiew. Als Keimzelle des Protestes sieht die Stadt heute ihre Aufgabe darin, die Proteste in Kiew zu unterstützen, aber auch vor Ort eine wirkungsvolle gesellschaftliche Kraft zu organisieren, die die politischen Prozesse in der Ukraine beeinflussen könnte.

POW: Besteht die Gefahr einer Spaltung des Landes?

Mykhaleyko: Diese Spekulationen werden vor allem von einzelnen radikalen Vertretern aus dem Regierungs- oder Oppositionslager geführt. Sowohl die führenden Oppositionspolitiker als auch die jetzige Regierung verstehen sehr wohl, dass eine Spaltung des Landes zur erheblichen Schwächung beider Teile führen würde. Daher sind nach meiner Ansicht solche Tendenzen als Randerscheinungen zu beurteilen, mit deren Hilfe bestimmte, in Vergessenheit geratene Gruppen oder Einzelpolitiker ihre längst verlorenen Positionen wiedergewinnen wollen.

POW: Wie beurteilen Sie das Agieren von Präsident Viktor Janukowitsch und der Opposition?

Mykhaleyko: Die Verhaltensmuster des Präsidenten und der Opposition verraten nach meiner Meinung immer deutlicher, dass ihre Handlungen zu sehr von den Anfang 2015 stattfindenden Präsidentenwahlen bestimmt werden. Während die Oppositionsparteien sich immer deutlicher von ihren politischen Interessen leiten lassen, fordern viele Vertreter der Zivilgesellschaft umfassende Reformen und nicht einen bloßen Machtwechsel, der die Gesamtsituation im Land kaum zu ändern vermag. Hinzu kommt auch die Tatsache, dass die dreiköpfige Oppositionsführung – Vitalij Klitschko, Arsenij Yatsenyuk und Oleh Tyahnybok – mit jeweils eigenen Vorstellungen für die Zukunft der Ukraine in sich ein Konfliktpotenzial birgt, das früher oder später zu heftigen inneroppositionellen Diskussionen führen könnte. Das primäre Interesse des amtierenden Präsidenten Janukowitsch besteht in der Zementierung seiner eigenen Positionen, die ihm Anfang 2015 den Sieg bei den Präsidentenwahlen garantieren könnten. Da die Mehrheit seiner Wähler sich eine weitere Annäherung an Russland wünscht, muss er dieser Tatsache Rechnung tragen. Vor diesem komplizierten Hintergrund sind momentan noch keine Auswege aus der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Krise gefunden worden.

POW: Kardinal Lubomyr Husar, früheres Oberhaupt der Griechisch-Katholischen Kirche in der Ukraine, trat bei einer Kundgebung in Kiew auf. Welche Rolle nehmen die Kirchen und kirchliche Gruppen bei den Protesten ein?

Mykhaleyko: Es lässt sich ein deutlicher Unterschied zu den ersten Protesten 2004 erkennen. Damals waren die Kirchen in zwei Lager – das pro-westliche und das pro-russische –  getrennt. Bemerkenswert ist in der gegenwärtigen Situation, dass die Kirchen diesmal darum bemüht sind, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Eine wichtige institutionelle Rolle spielt dabei der Allukrainische Rat der Kirchen und religiösen Organisationen, der in den vergangenen Jahren immer stärker als Sprachrohr der Kirchen in den Beziehungen zum Staat wahrgenommen wird. Bereits Anfang 2013 unterstützte der Rat die europäischen Bestrebungen der Ukrainer. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Protestaktionen in Kiew und den anderen Städten rief der Rat am 26. November 2013 alle Beteiligten dazu auf, den friedlichen Charakter der Proteste zu bewahren und jegliche Gewalt zu meiden. Eine weitere Besonderheit des Protests ist, dass die Kirchen eine neue Nähe zueinander erleben. Auf dem Hauptplatz in Kiew befinden sich permanent Priesteramtskandidaten und Geistliche verschiedener Konfessionen. Dort wurde eine provisorische Zelt-Kapelle eingerichtet, in der ununterbrochen miteinander für die Menschen und für die Zukunft des Landes gebetet wird. Viele Priester stellen sich in die Reihen der Demonstranten, sie helfen dort, wo ihre Hilfe notwendig ist. Die um den Platz herum liegenden Kirchen bieten für die Protestierenden rund um die Uhr die Möglichkeit, sich auszuruhen, aufzuwärmen, warme Getränke zu erhalten oder einfach die Handyakkus aufzuladen. Über die konfessionellen Unterschiede hinweg verbindet alle das Gefühl der Solidarität mit den Menschen, denen Menschenrechte, Freiheiten und die Zukunft des Landes nicht egal sind.

POW: Was bedeuten diese Aktivitäten für die Regierung?

Mykhaleyko: Solche kirchlichen Aktivitäten sind für die Regierung ein Dorn im Auge. Am 6. Januar erhielt der griechisch-katholische Großerzbischof Sviatoslav Shevchuk einen Brief vom Ministerium für Kultur der Ukraine, dem staatlichen Organ für Religionsangelegenheiten. Das Ministerium warnte den Großerzbischof: Falls die Geistlichen mit ihren „gesetzwidrigen“ Aktivitäten auf dem Kiewer Hauptplatz nicht aufhörten, könnte die Tätigkeit der entsprechenden religiösen Organisationen verboten werden. Großerzbischof Shevchuk erklärte, dass seine Kirche sich auf diese Weise nicht einschüchtern ließe und weiterhin auf der Seite ihres Volkes stehen werde.

POW: Welche unterschiedlichen Haltungen haben die römisch-katholischen, die griechisch-katholischen und die orthodoxen Christen gegenüber der Politik Russlands?

Mykhaleyko: Die historisch bedingte Vielfalt der Kirchen in der Ukraine lässt es nicht zu, von einem kirchlichen Engagement im Singular zu sprechen. Die größten Konfessionen in der Ukraine bilden die orthodoxen Kirchen, die in drei selbständige Jurisdiktionen aufgespaltet sind: die Ukrainische Orthodoxe Kirche unter der Obhut des Patriarchats von Moskau, die Ukrainische Orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchat und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche. Die katholische Kirche setzt sich aus zwei katholischen Ostkirchen – der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche und der Griechisch-Katholischen Diözese Mukachevo – sowie der Römisch-Katholischen Kirche in der Ukraine zusammen. Die ukrainische konfessionelle Landschaft ist uneinheitlich, und so unterschiedlich fallen die Positionen ihrer Mitglieder aus. Trotz der bemerkenswerten Einstimmigkeit in der Beurteilung der politischen Situation seitens der offiziellen Kirchen sind natürlich unter ihren Mitgliedern verschiedene politische Sympathien zu finden. Die Tendenz bleibt mehr oder weniger konstant: Die Mehrheit der Westukrainer, von denen die meisten der griechisch-katholischen Konfession angehören, und zunehmend die zentralukrainischen Gebiete sind seit jeher pro-westlich, die Ost- und Südukraine mehr pro-russisch orientiert.

POW: Sehen Sie die Ukraine als Teil Europas?

Mykhaleyko: Die Ukraine versteht sich unmissverständlich als Teil Europas, mit dem sie seit mehr als tausend Jahren die christlichen Wurzeln verbinden. Natürlich gab es historisch gesehen verschiedene Entwicklungen und Prägungen in der Ukraine. Die soziologischen Untersuchungen der vergangenen Jahre machen dennoch klar, dass das Bewusstsein ständig wächst, zur europäischen Völkergemeinschaft dazuzugehören.

POW: Was erwarten Sie von der EU und besonders von Deutschland im aktuellen Konflikt?

Mykhaleyko: Von der EU und Deutschland erwarte ich persönlich Solidarität. Die Menschen in der Ukraine dürfen nicht das Gefühl verlieren, dass sie trotz der gegenwärtigen politischen Konstellation hier in Europa willkommen sind. Es ist deshalb wichtig, dass die EU und Deutschland weiterhin Zeichen setzen und auf diese Weise die Menschen unterstützen, die ihre Zukunft im vereinten Europa sehen.

POW: Was erhoffen Sie sich für Ihr Land für das Jahr 2014?

Mykhaleyko: Es ist noch zu früh zu urteilen, wie sich die Situation in der Ukraine weiterentwickeln wird, eines ist aber schon jetzt klar geworden: Die gegenwärtige Protestbewegung bietet eine neue Qualität. Die Menschen stehen für bestimmte Prinzipien, die ihre Zukunft zum Besseren verändern sollen. Sie stehen für eine neue Ukraine. Ich wünsche mir sehr, dass die neu entdeckte zwischenmenschliche Solidarität in diesem Jahr nicht erlischt, sondern sich weiter entfaltet, und dass die Menschen in der Ukraine ihrem Traum von der besseren Zukunft ein Stück näher kommen werden.

Interview: Christoph Niekamp (POW)

(0314/0058; E-Mail voraus)

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