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Die „Zerbrochenen“ an Indiens Küsten

Besonders die Dalits waren von der Tsunami-Flut betroffen

Lakkavaram (POW) Beinahe täglich wurde in den letzten Monaten vom Ausmaß der Flutkatastrophe in Südostasien berichtet. Die Geschichten über Menschen, denen alles genommen wurde sind zahllos. Mit ungebrochenem Willen beginnen sie nun, sich eine neue Existenzgrundlage aufzubauen. Für einige Menschen aber ist das Elend, das die Flut über sie brachte nur eines in einer endlosen Kette von vielen, die jährlich wächst. Zwar war das Ausmaß der Flut Ende des vergangenen Jahres auch in dem Dorf Lakkavaram der Diözese Eluru im Bundesstaat Andra Pradesh besonders verheerend. Doch sind die Fischer dort jedes Jahr Fluten kleineren Ausmaßes ausgeliefert und müssen miterleben, wie ihnen das Wasser die wenigen Grundlagen ihres Lebens entreißt. Die meisten Bewohner des Dorfes an der südindischen Küste gehören zu den Ärmsten unter den vielen Armen Indiens. Fast ein Viertel der indischen Bevölkerung lebt wie sie unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Die „Unberührbaren“

Während die Angehörigen des hinduistischen Kastensystems von dieser großen Bevölkerungsgruppe als „den Unberührbaren“ sprechen, nennen sie selbst sich „Dalit“, was so viel heißt wie „zerbrochen“, „zerrissen“ oder „zerstört“. Der Name zeigt, wozu sie Jahrhunderte lange Diskriminierung gemacht hat: zu „Zerbrochenen“. Die Bezeichnung „Harijas“, die Mahatma Gandhi ihnen gab und die man mit „Kinder Gottes“ übersetzen kann, lehnen sie ab. Sie wollen nicht „Kinder Gottes“ heißen, solange man sie nicht auch als Menschenkinder akzeptiert. Hinzu kommt, dass man den Begriff lange auch für die Tempelprostituierten Indiens verwendete und er dadurch eine kränkende Parallele herstellt. Zwar ist die Praxis der „Unberührbarkeit“, also der systematischen Ausgrenzung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, seit 1955 laut Verfassung offiziell abgeschafft, doch die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus. Gemäß den Regeln des hinduistischen Kastensystems befinden sich „Dalit“ außerhalb der Kastenordnung. In vielen, vor allem ländlichen Gebieten dürfen sie nicht in denselben Dörfern leben wie der Rest der Bevölkerung, geschweige denn Wasser aus den gleichen Brunnen schöpfen.

Wohnen, wo sonst niemand hin will

Für die Fischer des Dorfes Lakkavaram bedeutet das, dass sie sich dorthin zurückziehen müssen, wo niemand sonst Land bewohnen will und wo sie zugleich ihrer Erwerbsgrundlage am nächsten sind: An die Küste. Es sind jedoch auch die Küstengebiete, die von Fluten wie dem Tsunami Ende des letzten Jahres am schlimmsten betroffen sind. Die Fischer verloren alles. Das heißt nicht nur ihre Gegenwart, also Haus, Hausrat und dürftigen Besitz, sondern mit der Zerstörung ihrer Boote und Netze verloren sie auch ihre Zukunft. Vier Tage warteten die Bewohner des Dorfes, die zu fünfzig Prozent vom Fischfang leben, auf Unterstützung. Dann endlich kam Hilfe. Jedoch nicht von der Regierung, die immer noch in Bürokratie und demonstrativer Ablehnung ausländischer Hilfe feststeckte, sondern von Bischof John Mulagada. Sofort nach dem Unglück veranlasste er seine Gemeindepriester, Hilfe dort hinzubringen, wo sie am nötigsten ist. Einer dieser Priester war Pater George Gantedi, 47. Er sorgte dafür, dass die von Bischof Mulagada organisierten Hilfslieferungen auch bei den Menschen ankamen, verteilte Gegenstände des täglichen Bedarfs, Wasser und Nahrung. Pater George weiß, womit er es zu tun hat, wenn er sich für die Belange der „Dalit“ einsetzt. Er selbst kommt aus dieser untersten Gesellschaftsschicht Indiens. Sein größtes Glück war, da ist er sich heute sicher, der Besuch einer katholischen Schule. Auf diesem Wege bot sich ihm die Möglichkeit zu studieren und letztlich Priester zu werden, um „die Liebe Jesu auch an andere Menschen weiterzugeben.“ Keine Selbstverständlichkeit für einen „Dalit“. 65 Prozent der indischen Christen sind „Dalit“. Sie leiden oft doppelt. Nicht nur, dass sie als Christen und zugleich als „Dalit“ von einem Großteil der hinduistischen Bevölkerung verachtet werden, die indische Regierung schließt sie auch von wichtigen Schutz- und Fördermaßnahmen aus. Schließlich seien sie ja mit ihrem Übertritt zum christlichen Glauben auch aus dem hinduistischen Kastensystem ausgetreten und könnten somit nicht mehr als „Kastenlose“ diskriminiert werden. Außerdem sorge die Kirche ja selbst für ihre Mitglieder. Dies ist jedoch nur zum Teil wahr. Zum einen wertet ihr Christentum die „Dalit“ vor den hinduistischen Indern in keiner Weise auf und zum anderen setzt sich die Diskriminierung häufig auch innerhalb der indischen Kirche fort. Gesonderte Bereiche auf Friedhöfen und ein extra Kelch bei der Kommunion, die erst hochkastigen christlichen Indern gespendet wird, bevor sie auch die Dalit in einer separaten Reihe empfangen dürfen, sind oft traurige Wirklichkeit. Auch der Zugang zu einem kirchlichen Amt, wie es Pater George bekleidet, bleibt ihnen allzu oft versagt. Von 165 Bischöfen gehören nur acht den „Dalit“ an, einer der Ersten von ihnen war Bischof John Mulagada. Das Vertrauen in eine Kirche die offiziell keine Kasten kennt, wird somit oft schwer enttäuscht. Dabei schöpfen gerade die „Dalit“ Kraft aus dem Evangelium. Jesus hat sich der „Dalit“ seiner Zeit angenommen, er hat mit Zöllnern und Sündern gegessen und er hat gelehrt, dass innere Reinheit wichtiger ist als äußere. Für Menschen, die einzig Arbeit als Latrinenreiniger, Fischer oder Ausweider bekommen, werden diese Worte zu einer wichtigen und hoffnungsvollen Erfahrung.

Lernen, sich selbst zu helfen

Pater George hat es sich nicht nur zur Aufgabe gemacht, diese Botschaft weiter zu tragen, er will den Fischern von Lakkavaram auch zeigen, wie sie sich selbst helfen können. Die Menschen dort sind vollkommen abhängig von ihrer täglichen Arbeit. Je fünf Familien teilen sich ein Boot und ein Netz. Wenn der Fang gut ist, dann verdienen sie auf diese Weise zusammen 150 bis 200 Rupien am Tag. Das entspricht etwa drei bis vier Euro, von denen oft mehr als zwanzig Menschen einen Tag überleben müssen. Hinzu kommen der Monsun, während dessen Dauer sie gar nicht hinausfahren können und die jährlichen Katastrophen, wie der letzte Tsunami. Als Pater George vor vier Jahren in seine Gemeinde kam, war das erste, was er tat, eine Schule zu bauen. Nun unterrichtet er dort täglich 15 Jungen und Mädchen, alle „Dalit“. „Mein größter Traum ist es, dass diese Kinder einmal Arbeit finden, die sie unabhängig macht“. Unabhängig von den Gewalten der Natur, vom täglichen Einsatz ihres Körpers als Arbeitskraft und von den unfairen Preisen, die die Händler den Fischern für ihren Fang zahlen. Das ist eine Aufgabe, die viel schwerer ist, als sie erscheint, denn oft sind es die Eltern selbst, die nicht gern sehen, wenn ihre Kinder die Schule besuchen. Sie brauchen die Kinder zu Hause bei der Arbeit und darüber hinaus wünschen auch sie sich wie alle Eltern, dass ihre Kinder die jahrhundertealte Tradition ihres Berufs einmal über die eigene Generation hinaustragen werden. Deshalb gibt es noch einen zweiten Weg, auf dem Pater George den Fischern helfen möchte. Wenn es ihm gelänge, den Menschen beizubringen, wie man Handel betreibt, dann könnten sie selbst ihre Ware verkaufen. Der Fisch würde dann nicht mehr den Umweg über skrupellose Händler machen, die den Fischern Niedrigstpreise zahlen und ihn für ein Vielfaches des Gezahlten weiterverkaufen.

In jüngster Zeit wächst das Selbstbewusstsein der „Dalit“ in ganz Indien. Im Internet haben sie sich Foren geschaffen, in denen sie sich austauschen und gegenseitig Mut zusprechen können und in der Anonymität der wachsenden Städte bieten sich ihnen neue Möglichkeiten. Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Entwicklung auch eine Chance für Pater George und seine Schützlinge. Wenn sie sehen, dass es mehr und mehr „Dalit“ gibt, die ihre Kinder zur Schule schicken, die gegen ungerechte Zustände rebellieren und ihr Schicksal mutig selbst in die Hand nehmen, dann werden sich vielleicht auch die Fischer von Lakkavaram nicht länger scheuen, die Initiativen des Paters aufzugreifen. Und vielleicht wird dann schon die nächste Generation von Fischern nicht mehr jeder Flut hilflos ausgeliefert sein, weil sie die Möglichkeit haben wird, das Fischen wirtschaftlicher zu gestalten und nicht mehr davon allein abhängig zu sein, ohne dass sie dafür die Tradition ihrer Eltern verraten muss.

(4105/1303)