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Dokumentation

„Ehrenamtliches Engagement ist Ausdruck gesellschaftlicher Mitverantwortung“

Vortrag von Bischof Dr. Franz Jung am Samstag, 5. Dezember 2020, anlässlich des ersten Jubiläums der Auszeichnung des Zentrums für Operative Medizin (ZOM) der Uniklinik Würzburg mit dem Prädikat „Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“

Sehr geehrter Herr Professor Ertl,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schuchardt,

sehr geehrte Frau Düber,

sehr geehrte Frau Nelkenstock,

liebe Patientinnen und Patienten an den Bildschirmen,

liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ZOM,

sehr herzlich danke ich Ihnen für die Einladung zum ersten Jahrestag der Auszeichnung mit dem Qualitätsprädikat „Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“, das dem ZOM als ersten Universitätsklinikum in Bayern verliehen wurde.

Selbsthilfe und Krankenhaus – ein Widerspruch?

„Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“ – die Auszeichnung hat es in sich. Denn zunächst einmal verbindet man mit dem Begriff des Krankenhauses eine Institution, bei der man gerade dann um Rat nachsucht, wenn die Selbsthilfe versagt. Wer hier aufgenommen wird, der muss sich eingestehen, es aus eigener Kraft nicht zu schaffen und fremder Hilfe zu bedürfen. Er wird zum „Patienten“. Das lateinische Wort „Patient“ heißt übersetzt nichts anderes als „Leidender“.

Der Patient leidet nicht nur an einem physischen oder psychischen Defekt. Er erleidet gewissermaßen auch den Prozess der Therapie, indem er sich dem Urteil der Fachleute beugt, sein Schicksal in ihre Hand legt und ihren Anweisungen folgt. Auch wenn das zunächst einmal aus der inneren Logik des Krankenhauses folgt, ist es dennoch fatal, wenn den Patienten der Eindruck überkommt, dass über ihn nur noch verfügt wird und er sich der übermächtigen Einrichtung Krankenhaus hilflos ausgeliefert sieht.

Längst hat man verstanden, dass der Patient nicht nur Objekt einer Therapie ist. Wenn die Therapie anschlagen soll, muss der Patient aus der Rolle des Erleidenden aussteigen. Er muss ermutigt werden, stattdessen als Agent seines eigenen Schicksals sein Leben in die Hand zu nehmen und aktiv am Heilungsprozess mitzuwirken. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel. Denn anstatt sich auf die Defizite zu konzentrieren, hält man nach den Ressourcen Ausschau, die ein Patient mitbringt und mittels derer er als Agent seines Heilungsprozesses auf die Beine kommen kann. Es geht also kurz gesagt um die Aktivierung der Selbsthilfe, die ihrerseits wiederum die Selbstheilungskräfte stärkt.

Selbsthilfe und Stärkung der Selbstheilungskräfte

Dem dient auch die Selbsthilfe, genauer gesagt die institutionalisierte Selbsthilfe im Krankenhaus, die am heutigen Festtag im Mittelpunkt steht. Was sie im Einzelnen auszeichnet, lässt sich anhand einer biblischen Geschichte treffend illustrieren. Wir lesen dazu im achten Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt 8,5-13):

Als Jesus nach Kafarnaum kam, trat ein Hauptmann an ihn heran und bat ihn: Herr, mein Diener liegt gelähmt zu Hause und hat große Schmerzen. Jesus sagte zu ihm: Ich will kommen und ihn heilen. Und der Hauptmann antwortete: Herr, ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach einkehrst; aber sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund! Denn auch ich muss Befehlen gehorchen und ich habe selbst Soldaten unter mir; sage ich nun zu einem: Geh!, so geht er, und zu einem andern: Komm!, so kommt er, und zu meinem Diener: Tu das!, so tut er es. Jesus war erstaunt, als er das hörte, und sagte zu denen, die ihm nachfolgten: Amen, ich sage euch: Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemandem gefunden. (…) Und zum Hauptmann sagte Jesus: Geh! Es soll dir geschehen, wie du geglaubt hast. Und in derselben Stunde wurde sein Diener gesund.

Von drei Personen handelt die Geschichte: dem Hauptmann, seinem kranken Diener und Jesus, dem Heiland. Im Sinne altkirchlicher allegorischer Schriftauslegung verstehe ich die drei Personen als Personifizierungen der drei Partner, die bei einem selbsthilfefreundlichen Krankenhaus in ein konstruktives Miteinander gebracht werden müssen. Jesus steht für das medizinische Personal, der erkrankte Diener für die Patienten und der Hauptmann für die Selbsthilfe. Was lässt sich von ihrer Begegnung für unser Thema lernen?

Es sind insgesamt fünf Punkte, die mir wesentlich erscheinen.

1. Selbsthilfe zur Krankheitserkenntnis

Eine erste Dimension der Selbsthilfe möchte ich umschreiben mit Selbsthilfe als Hilfe zur Krankheitserkenntnis. In unserer Geschichte ruft nicht der kranke Diener den Arzt. Vielmehr ist es sein Dienst- und Hausherr, der Hauptmann, der sich an Jesus als den vermuteten Arzt wendet. Mir scheint dieser Zug bezeichnend zu sein für eine wichtige Funktion von Selbsthilfe. Selbsthilfe leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu, dass kranke Menschen zu ihrer Erkrankung stehen können und sich darüber im Klaren werden, in welchem Zustand sie sich befinden. Erst so können sie ein konstruktives Verhältnis zu ihrer Krankheit entwickeln und sie akzeptieren lernen als Teil ihrer persönlichen Lebensgeschichte. Der Hilferuf des Hauptmanns ist demnach als Ende eines internen Klärungsprozesses zu begreifen. Diener und Herr hatten sich in intensiven Gespräche darüber verständigt, wie es um den Patienten steht, was jetzt zu tun sei und wer es ausführt.

2. Selbsthilfe zur Einbindung des sozialen Umfeldes des Patienten

Dabei trägt der Hauptmann dem Arzt das Anliegen des Patienten nicht vor, um diesen zu entmündigen, sondern um im Namen des Patienten aufzutreten und seinem Anliegen eine Stimme zu geben, die durchdringt. Der Patient, so wird deutlich, ist kein vereinzelter Mensch, sondern er lebt in einer Fülle von Bezügen, die alle mit wahrgenommen und ernst genommen werden müssen, wenn umfassend Heilung bewirkt werden soll. Mehr noch, auf die man – wenn man es denn möchte – auch zurückgreifen kann, um den Heilungsprozess zu fördern. Genau diesem Anliegen verschreibt sich die Klinik, wenn sie Selbsthilfefreundlichkeit für sich reklamiert. Sie will den Patienten als Menschen wahrnehmen und mit ihm das Beziehungsgeflecht, in dem er steht und das eine nicht unwesentliche Ressource darstellt, damit Heilung gelingt.

3. Selbsthilfe zur Wahrnehmung eigener Bedürfnisse

Jesus, der Arzt, lässt sich nicht lange bitten. Umgehend erklärt er seine Bereitschaft, zu kommen, um den Diener des Hauptmanns zu heilen. Doch der gebietet bei aller Wertschätzung des Arztes dessen Eilfertigkeit Einhalt. Zunächst hebt er an mit einer unterwürfigen Demutsformel, mittels derer er einräumt, nicht wert zu sein, dass der Arzt sein Haus betritt. Doch man soll sich von der Demutsformel nicht blenden lassen. Denn in Wirklichkeit markiert der Hauptmann damit nur unmissverständlich eine Grenze, die nicht zu überschreiten ist. Der Hauptmann wie sein Diener verstehen sich also nicht nur als Objekte der Therapie, sondern wollen als Menschen ernst genommen werden und sich aktiv einbringen im Sinne der Betroffenenkompetenz. So sind in jedem Heilungsprozess die persönlichen Grenzen eines Patienten zu respektieren und sein Einverständnis ist stets aufs Neue abzufragen. Selbsthilfe ermutigt dazu, sich auf das zu besinnen, was einem selbst wichtig ist und wo es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen, oder genauer vielleicht, noch nicht überschritten werden dürfen bei dem Prozess des eigenen Gesundwerdens.

4. Selbsthilfe und Professionalitätskritik

Aber es kommt noch besser. Unser befehlsgewohnter Hauptmann denkt in den Kategorien der Befehlskette: „Sage ich nun zu einem: Geh!, so geht er, und zu einem andern: Komm!, so kommt er, und zu meinem Diener: Tu das!, so tut er es“. (Das waren noch Zeiten…) Im Blick auf die militärischen Kommunikationsformen konzipiert er nun auch den Therapievorgang. Es reiche doch völlig aus, wenn der Arzt ein Machtwort spreche und von seiner Befehlsgewalt Gebrauch mache. Dann sei die Sache geritzt!

Zwei geradezu gegensätzliche Haltungen sprechen aus diesen Worten des Hauptmanns. Zum einen ein gehöriges Selbstbewusstsein, mit dem er dem Arzt in die Parade fährt und ihm konkrete Vorschläge unterbreitet, was jetzt zu tun sei. Ja, Selbsthilfe kann auch unangenehm sein. Sie wird es gerade dann, wenn sie sich wie im vorliegenden Fall erlaubt, den Profis noch einmal auf die Finger zu schauen und wenn sie nicht einfach widerspruchslos akzeptiert, was da gegebenenfalls angeordnet wird. Es gehört zur Größe des Arztes und zur Souveränität Jesu, diese Intervention nicht einfach abzubügeln. Auch wenn Jesus sichtlich überrascht ist, er wischt die Einlassung des Hauptmanns nicht weg als ungebührliche Einmischung in seine ureigensten Kompetenzen. Vielmehr hört er noch einmal genau hin, und wertet das, was da vorgetragen wird, als hilfreichen Vorschlag für das Gelingen des gemeinsamen Unternehmens Gesundung. Patientenorientierung im besten Sinne des Wortes!

5. Selbsthilfe und Stärkung des Vertrauens in die ärztliche Kompetenz

Umgekehrt aber spricht aus dem Hinweis des Hauptmanns ein ungeheures Vertrauen in die Wirkmacht des Arztes. Wie der Schöpfergott im Anfang sprach und auf sein Wort hin alles ins Leben rief, so soll, ja so kann dieser Arzt Jesus allein durch seinen Befehl die Mächte des Bösen bannen und das Heil bewirken. Die „Götter-in-Weiß“ leben eben auch von dem Vertrauensvorschuss, den man ihnen entgegenbringt und ohne den im Krankenhaus - wie sonst auch im Leben - nichts geht. Funktionierende Selbsthilfe sieht ihre Aufgabe eben nicht nur in der kritischen Anwaltsfunktion und versteht sich nicht nur als Gegenüber zu den Ärzten. Eine ihrer wesentlichen Aufgaben besteht darin, das Vertrauen in die behandelnde Institution wie Person zu stärken. Sie tut das im Wissen, dass auch dieses Vertrauen noch einmal eine aktive Leistung ist, die der Patient als Agent seiner Heilung zu erbringen hat. Ihrerseits versucht die Selbsthilfe durch kritisch-konstruktive Begleitung aus Patientensicht das Vertrauen in das Gesundheitswesen durch stetige Verbesserung der Hilfeleistungen zu rechtfertigen.

Triple Win und der Heilungserfolg

Der ungeheure Vertrauensvorschuss wird jedenfalls in unserer Geschichte nicht enttäuscht. Das Zusammenspiel von Hauptmann, Diener und Jesus oder im übertragenen Sinn von Selbsthilfe, Patient und medizinischem Personal hat zu dem gewünschten Erfolg geführt. Eine Triple-Win Situation, wie es vergangenes Jahr so schön anlässlich der Auszeichnung hieß, konnte erreicht werden.

Nichtsdestoweniger hat das Sprichwort recht: „Der Arzt kuriert, aber Gott heilt!“ Denn trotz aller Bemühungen der ärztlichen Kunst und dem Zusammenwirken aller Beteiligten bleibt die Heilung immer ein Geschenk. Das enthebt aber nicht davon, nach bestem Wissen und Gewissen den je eigenen Beitrag dazu zu leisten. Wenn es denn gelingt, ist das immer ein gutes Gefühl für alle Seiten und eine Ermutigung, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.

Tag des Ehrenamtes

Wir begehen diesen kleinen Festakt am Tag des Ehrenamtes. Auch das ist noch einmal ein schöner Hinweis. Denn der Selbsthilfe geht es einerseits darum, die Ehre des Patienten zu wahren und ihn in seiner Würde und Selbstwirksamkeit zu bestärken. Zugleich will sie aber dem Krankenhaus zur Ehre gereichen, das erkannt hat, dass Selbsthilfe eine Lücke im Gesundheitssystem schließt, die weder durch den Patienten noch durch die Klinik abgedeckt werden kann. Schließlich aber gereicht es allen in der Selbsthilfe Wirkenden zur Ehre, diesen wichtigen Beitrag bürgerschaftlichen Engagements zu erbringen; und zwar im Sinne eines nicht kommerziellen Private-Public-Partnerships, das dennoch von den Krankenkassen unterstützt wird, die den Beitrag der Selbsthilfe auch unter der Rücksicht finanzieller Entlastung längst zu schätzen wissen.

Wie las ich neulich so schön im Blick auf das Gesundheitswesen: „Selbsthilfegruppen sind eine ansteckende Form von Gesundheit“ – wenn das mal nicht Ansporn und Inspiration für Ihr Wirken ist!

Möge der Ehrgeiz alle beflügeln, dieses wunderbare Projekt weiter voranzutreiben, gerade auch jetzt angesichts der Herausforderung durch die Corona-Einschränkungen, in der alle helfenden Hände gebraucht werden.

Ihnen allen gratuliere ich von Herzen zu dieser Auszeichnung und danke Ihnen für dieses vorbildliche und wegweisende Miteinander!

Ich sehe die heutige Veranstaltung allerdings auch als Gelegenheit, allen ehrenamtlich Engagierten in unserer Stadt und unserem Bistum von Herzen zu danken für ihren hochherzigen Einsatz und ihren unersetzlichen Beitrag in nahezu allen Lebensbereichen. Denn die städtischen, wie die staatlichen und kirchlichen Institutionen bedürfen des Einsatzes der Bürgerinnen und Bürger und aller Gläubigen. Dieses Engagement ist Ausdruck gesellschaftlicher Mitverantwortung, die oftmals aus eigener Betroffenheit erwächst und damit umso wirksamer geleistet werden kann.

Gebet zum Abschluss

Wir stehen in der Zeit des Advents. Sehnsuchtsvoll erwartet die Kirche zusammen mit allen Menschen die Ankunft des Erlösers, der kommen will, um alle Kranken und die leidende Menschheit aufzurichten und aus dem Dunkel des Todes in sein helles Licht zu führen. Und so wollen wir vertrauensvoll beten:

Komm, Immanuel, du Gott mit uns,

du wahres Licht und du Sehnsucht der Völker.

Du kennst unsere Not und weißt um unsere Leiden.

Segne die Mühen des ärztlichen Personals, aller Pflegekräfte und aller ehrenamtlich Tätigen.

Nähre in den Kranken die Hoffnung auf dein Kommen und lass uns nicht zugrunde gehen.

Denn in Dir, dem wahren Menschen und wahren Gott, bekommt die Selbsthilfe von Gott her ein menschliches und liebevolles Gesicht.

In Dir finden wir Heilung und Heil.

Sei du uns willkommen, Herre Christ, und stille Du die Sehnsucht unseres Herzens. Amen.