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„Ein Christ kann kein Antisemit sein“

Juden und Christen gedenken gemeinsam der Pogrome des Jahres 1938 – Kardinal Marx: „Wir lassen uns nicht mehr von den Juden trennen“ – Podiumsdiskussion zur Erinnerungskultur

Würzburg (POW) Spitzenvertreter der Kirchen und des Judentums in Deutschland sowie Politiker haben am Donnerstag, 8. November, in Würzburg gemeinsam der Pogrome des Jahres 1938 gedacht. Es sei wichtig, an die damaligen Verbrechen zu erinnern. Alle seien aufgerufen, für einen respektvollen Umgang miteinander einzustehen und die Grundwerte der Demokratie zu verteidigen, forderten sie gemeinsam bei einer Gedenkveranstaltung auf dem Gelände der ehemaligen Würzburger Hauptsynagoge in der Domerschulstraße. Bei einer Podiumsdiskussion im Jüdischen Gemeindezentrum „Shalom Europa“ erklärten Kardinal Reinhard Marx und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm ihre Solidarität mit den Juden und betonten, dass die deutsche Erinnerungskultur äußerst wichtig und wertvoll sei. Ein Wegsehen wie vor 80 Jahren werde es nicht mehr geben. Es sei selbstverständlich, „dass wir uns nicht mehr von den Juden trennen lassen“, sagte Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

Bei der Gedenkveranstaltung auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge sagte Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, dass weder die Hetze gegen Muslime noch Antisemitismus normal werden dürften. Auch wenn ihn einige Entwicklungen in Deutschland beunruhigten, gebe es deutliche Unterschiede zwischen der Gegenwart und dem Jahr 1938. Die Gewalt gegen Juden sei damals systematisch und vom Staat gelenkt gewesen. Die Mehrheit der Gesellschaft habe damals schweigend zugeschaut. Heute stelle sich der Staat schützend vor Minderheiten. Als „ermutigende Signale“ bezeichnete es Schuster, dass bei Demonstrationen mehrere Tausend Menschen gegen Antisemitismus auf die Straße gegangen seien. Diese demokratische Aufbruchsstimmung sei insbesondere nach dem schwierigen Jahr 2018 und acht Jahrzehnte nach den Novemberpogromen sehr wertvoll.

„Wer einmal an einer Holocaust-Gedenkstätte die Namen derer gelesen hat, die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden, wer die Geschichten und die damit verbundenen Schicksale gehört hat, die hinter den einzelnen Namen stehen, der kann nie und nimmer dafür plädieren, das Gedenken an die Pogromnacht zurückzudrängen und die Untaten von damals nicht mehr in gleicher Weise wie bisher in Erinnerung zu rufen und im Gedächtnis zu behalten“, sagte Landesbischof Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Schuld der Kirchen verpflichte die später Geborenen, ehrlich und wahrhaftig mit dem umzugehen, was damals geschah. „Wir müssen alles tun, damit das dumme antisemitische Denken, Reden und Handeln von Alt- und Neonazis, aber auch aus der Mitte der Gesellschaft bei uns keinerlei Chance und keinerlei Einfluss hat“, sagte Bedford-Strohm.

Ein Christ ist verpflichtet, solidarisch mit Juden zu sein, betonte Kardinal Marx. „Noch einmal dürfen und werden wir nicht wegschauen.“ Als wichtige Lehre aus der Reichspogromnacht bezeichnete der Kardinal, dass die rechtsstaatliche Demokratie eine gefährdete Staatsform war und sei. „Die Achtung vor der Würde und den Grundrechten des Menschen ist nicht nur Aufgabe aller staatlichen Gewalt, wie das Grundgesetz sagt. Sie ist auch eine moralische Norm, die die politische Kultur unseres Landes und das gesellschaftliche Miteinander bestimmen soll“, sagte der Kardinal. Er rief die Zuhörer auf, nicht wegzuschauen, wenn Juden in welcher Form auch immer angegriffen werden. „Ein Christ kann kein Antisemit sein.“

Regierungspräsident Dr. Paul Beinhofer sagte, die Opfer der Pogromnacht von 1938 und des Holocausts mahnten, nicht wegzuschauen und wegzuhören. „Auch in der Gegenwart, über 70 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs, werden Begrifflichkeiten verwendet, die in der Weimarer Republik gezielt eingesetzt worden sind, um die junge Demokratie zu destabilisieren.“ Wer demokratisch gewählte Politiker immer wieder als Vertreter der „Systemparteien“ und Journalisten als „Lügenpresse“ bezeichne, sei ganz nahe an der Sprache der Feinde der Demokratie. „Wer Verunsicherungen und Ängste der Menschen benutzt, um Konflikte und Hass zu schüren, der setzt Mittel ein, die sich gegen unser freiheitlich-demokratisches und friedliches Zusammenleben richten.“ Das Gedenken an den 9. November 1938 sei eine Mahnung, diese Worte nicht zu verharmlosen und ihren Ursprung zu erkennen. „Lassen Sie uns heute nach Hause gehen in der Gewissheit, dass das ‚Nie wieder‘ fest in unserem Selbstverständnis verankert ist und dass alle, die sich gegen unsere Demokratie wenden, an diesem Selbstverständnis scheitern werden“, sagte Beinhofer.

„Wer die Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, zitierte Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt den Philosophen George de Santayana. Der 9. November 1938 sei der schreckliche Höhepunkt einer Entwicklung gewesen, die lange zuvor eingesetzt hatte. „Die Geschichte der Judenverfolgung im sogenannten Dritten Reich zeigt, wie kurz der Weg ist vom menschenverachtenden Wort zur menschenvernichtenden Tat.“ Jeder Einzelne sei für das Klima in der Gesellschaft mitverantwortlich, hob Schuchardt hervor. Vor allem in den Sozialen Medien hätten sich in den vergangenen Jahren die antisemitischen Äußerungen vervielfacht. „Zu dieser Entwicklung trägt bei, dass führende Repräsentanten einer Partei, die 2017 als drittstärkste Kraft in den Bundestag eingezogen und seit kurzem auch in sämtlichen Landtagen vertreten ist, mit gezielten Provokationen fortgesetzt rote Linien verschieben, indem sie zum Beispiel die Erinnerungskultur als ‚Schuldkult‘ diffamieren oder das Holocaust-Mahnmal in Berlin als ‚Denkmal der Schande‘ schmähen.“

Bei der Podiumsdiskussion im Anschluss zum Thema „Keine deutsche Identität ohne Auschwitz? Erinnerungskultur 80 Jahre nach der Reichspogromnacht“ erklärte Schuster, die Solidarität der Kirchen mit den Juden sei ein besonders wichtiges Signal. Es sei zugleich wichtig, diese Botschaft auch flächendeckend unter den Christen zu verbreiten. Lange Zeit sei von den Kanzeln eine andere Botschaft gepredigt worden, erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden. „Diesen Auftrag nehmen wir an“, entgegnete Landesbischof Bedford-Strohm.

Wie Kardinal Marx betonte, sei mit der historischen Aufarbeitung, die seit Jahrzehnten immer mehr Details ans Tageslicht gebracht habe, das Erschrecken über die Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus größer statt kleiner geworden. „Mit Abstand sieht man mehr, das geht vielen so.“ Gewachsen sei auch seine Sorge um die Demokratie, besonders in den vergangenen zehn Jahren. Mit Blick auf Ereignisse wie den Völkermord in Ruanda und den Holocaust mahnte Bedford-Strohm, dass Eltern und Schule gefordert seien, jungen Menschen die Fähigkeit zur Empathie zu vermitteln. Die Gesellschaft sei gefordert, auf die Sprache zu achten, damit es nicht zu einer Verrohung komme. Würden Menschen einer bestimmten Gruppe pauschal abgewertet, sei es nur ein kurzer Schritt zum Genozid. Als positives Zeichen wertete es Schuster, dass die Zahl der Menschen zurückgehe, die einen Schlussstrich unter das Erinnern an die Gräueltaten der Nationalsozialisten ziehen wollten. Stabil sei allerdings der Anteil von etwa einem Fünftel der Deutschen, die Vorurteile gegenüber den Juden hätten. „Diese Menschen erreicht auch eine noch so gute Form der Erinnerungskultur vermutlich nicht.“

mh (POW)

(4618/1169; E-Mail voraus)

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