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Ein dynamisches Netz als Organigramm

Bei der Streetchurch Zürich gibt es keine klassische Entscheidungshierarchie – Onlineveranstaltung informiert Seelsorgerinnen und Seelsorger, wie eine evolutionäre Organisation aussehen kann

Würzburg (POW) „Jeder darf bei uns Entscheidungen treffen, er muss nur vorher die Meinung aller Betroffenen hören.“ Dieser Satz von Philipp Nussbaumer, Geschäftsführer der Streetchurch, einer Einrichtung der Reformierten Kirche Zürich, macht einen zentralen Grundsatz dessen deutlich, wie Kirche jenseits des gewohnten hierarchischen Organigramms arbeiten kann. Etwa 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem gesamten Bistum Würzburg folgten bei der Onlineveranstaltung seinen Ausführungen. Eingeladen hatten die Mitglieder des gemeinsamen Sprecherrats der pastoralen Berufsgruppen im Bistum.

Die Streetchurch wurde vor etwa 19 Jahren in Zürich mit dem Auftrag gegründet, Kirche für junge Leute zu machen, und zwar ohne die sonst üblichen territorialen Grenzen innerhalb eines bestimmten Züricher Kirchenkreises. „Unsere Mission ist es, Versöhnung zu leben. Unsere Vision ist es, dass jeder bei uns das Gefühl haben soll, nach Hause zu kommen, so wie der Verlorene Sohn.“ Wer zur Streetchurch komme, gehöre dazu. „Wir fragen nicht nach Kirchenmitgliedschaft“, sagte Nussbaumer. 

Neben den klassisch kirchlichen Angeboten von Gottesdienst und Seelsorge seien über die Jahre weitere Angebote wie Psychotherapie, Sozialberatung, Integrationsmaßnahmen, Coaching, Berufsvorbereitung, begleitetes Wohnen oder eine Sozialfirma hinzugekommen. „Wir haben jeweils reagiert, wenn wir gesehen haben, dass die jungen Menschen Unterstützung brauchen.“ Im Idealfall entstehe ein Wirkungskreis. „Wir begegnen Menschen, diese fühlen sich dazugehörig, entwickeln sich weiter, werden selbst wirksam und begegnen wiederum Menschen.“

Bei den vielfältigen Angeboten gehe es der Streetchurch nicht darum, in jedem Feld das beste Angebot zu machen. „Wir möchten aber unter einem Dach die multifaktoriellen Herausforderungen angehen.“ Diese Klärung habe sich vor etwa sechs Jahren ergeben – mit Vorteilen wie Wechselwirkungen, wie Nussbaumer erklärte. So habe etwa 50 Prozent des Personals in der Folge die Streetchurch verlassen. Gleichzeitig sei in dieser Zeit bewusst der Wechsel hin zu einem neuen „Betriebssystem“ vollzogen worden.

Statt der früheren Stellenbeschreibungen gebe es jetzt Rollen, die verteilt würden. So könne eine Person zum Beispiel die Rolle des Anleiters für die Holzwerkstatt haben und die Rolle des Verantwortlichen für die Sozialberatung. Jede Rolle von Mitarbeitenden sei eine Verpflichtung gegenüber anderen Mitarbeitenden und verschiedenen Anspruchsgruppen. Das bedeute, es gebe eine klare Definition und einen gesetzten Rahmen, aber keine in sich abgeschlossenen Bereiche. „Unser Organigramm ist keine Pyramide, die von oben nach unten immer breiter wird, sondern ein dynamisches Netz, das an vielen Punkten miteinander verbunden ist“, hob Nussbaumer hervor. Deswegen kommunizierten die rund 35 Mitarbeitenden der Streetchurch nicht via E-Mail, sondern nutzen einen Messengerdienst, in dem es Gruppen für die verschiedenen Themenfelder gibt, so dass jeder Beteiligte Zugriff auf alle Informationen hat und sich einbringen kann. „Ausgenommen sind selbstverständlich alle gesetzlich besonders geschützten Informationen.“

Notwendige Entscheidungen treffe die Streetchurch nicht durch die klassischen Prinzipien wie Konsens, Hierarchie oder Mehrheit. „Das Prinzip beim Beratungsprozess besteht darin, dass alle Mitarbeitenden jede Entscheidung treffen können.“ Zuvor müsse aber der Rat von anderen eingeholt werden: von Mitarbeitenden, die sich mit dem Thema (besser) auskennen, und von Mitarbeitenden, die von dieser Entscheidung betroffen sind. Je weitreichender die Entscheidung ist, desto mehr Leute seien um Rat zu fragen. Diese Selbstführung sei dabei immer in den rechtlichen Rahmen eingebunden. „Es hätte also auch keiner für sich entscheiden können, die Coronaschutzmaßnahmen nicht umzusetzen“, sagte Nussbaumer.

Vorbild und Anleitung für die Neustrukturierung sei das Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux gewesen. „Wenn die richtigen Leute direkt und ohne Umwege zusammenfinden und handeln dürfen, um Überraschungen und Probleme zu lösen, ist dies schneller als jeder Weg über eine Hierarchie, Gremien, spezielle Entscheider und so weiter“, lautet dessen zentrale These. Evolutionäre Organisationen wüssten, wie sie ihre Strukturen von hierarchischen, bürokratischen Pyramiden hin zu wirkungsvollen fluiden Systemen verteilter Autorität und kollektiver Intelligenz verändern können. Ein herausragendes Beispiel für eine evolutionäre Organisation sei der Pflegedienst Buurtzorg aus den Niederlanden. Dieser bestehe aus Einheiten von etwa zwölf Personen, die sich um die häusliche Pflege von Alten und Kranken in einem bestimmten Gebiet kümmern und die Managementaufgaben unter sich aufteilen. Bedingt durch die flache Hierarchie würden Absprachen und Entscheidungen unkompliziert getroffen. Buurtzorg sei es durch die gute und kostengünstige Arbeit sogar gelungen, das Abrechnungsschema der Krankenkassen mit einem Zeittakt für jede Tätigkeit aufzubrechen und ein eigenes Schema zu etablieren. Der Pflegedienst wachse, nicht nur in den Niederlanden, sondern weltweit, und werde immer wieder ausgezeichnet für die höchste Zufriedenheit der Mitarbeitenden. „Das wäre doch ein Ziel, auch für die Diözese Würzburg. Wie müssten wir miteinander umgehen, um es zu erreichen?“, lautete ein Kommentar aus dem anschließenden Gespräch.

Traditionell, kritisierte Nussbaumer, seien Organisationen immer Orte, „an denen man Menschen nahegebracht hat, sich nur mit einem begrenzten ‚professionellen‘ Selbst zu zeigen“. In evolutionären Organisationen jedoch gebe es Praktiken, durch die „wir unsere Masken abnehmen, unsere innere Ganzheit wiedererlangen und unser ganzes Selbst in die Arbeit einbringen können“. Statt die Zukunft vorherzusagen, indem man sie in Konzepte schreibt und diese dann kontrolliert, würden die Mitglieder dazu eingeladen, darauf zu horchen und zu verstehen, in welche Richtung sich die Organisation entwickeln möchte. Das sei kein Grund, verängstigt zu sein. „Wenn man weiß, warum und wozu man etwas tut, klären sich das Was und das Wie.“

Zur Person

Philipp Nussbaumer (37) prägt seit seiner Ausbildung zum Diakon am Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau die Streetchurch der Reformierten Kirche Zürich. Seit 2013 ist er in der Rolle des operativen Geschäftsleiters gemeinsam mit Pfarrer Markus Giger Co-Leiter der Gemeinde. Für seine Tätigkeit hat er sich in den vergangenen Jahren mit einem Master in „Leadership und Changemanagement“ weitergebildet und dabei den Schwerpunkt auf agile Führung und Leitung von kirchlichen oder kirchennahen Institutionen gelegt. Er engagiert sich in der Kirchenpolitik für die Weiterentwicklung und Erneuerung der Reformierten Kirche Zürich. Er ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt mit seiner Familie in Zürich.

mh (POW)

(1322/0362; E-Mail voraus)

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