Bad Neustadt (POW) Wie sieht eine digitalisierte, moderne Industrieproduktion aus? Und was genau hat der Siemens-Standort Bad Neustadt mit der Digitalisierung der industriellen Fertigung weltweit zu tun? Antworten auf diese Fragen hat Bischof Dr. Franz Jung am Dienstag, 25. April, bei einem Werksbesuch im Elektromotorenwerk in der Bad Neustädter Siemensstraße bekommen.
Rund 1800 Personen arbeiten dort und im Werksteil in der Industriestraße. Etwa 700 weitere Beschäftigte zählt Valeo, ein vor einigen Jahren zunächst als Joint-Venture ausgegliederter Werksteil in der Siemensstraße, spezialisiert auf Antriebsmotoren für Elektrofahrzeuge. Seit dem Ausstieg von Siemens betreibt der französische Automobilzulieferer diese Produktion in Eigenregie. Dazu kommt noch das BSH-(Bosch-Siemens-Hausgeräte) Werk, das auf die Staubsaugerproduktion spezialisiert ist. „Es ist offensichtlich, wie wichtig Siemens als Arbeitgeber für die Region ist“, konstatierte Bischof Jung.
Bei seinem Besuch wurde der Bischof von Fertigungsleiter Eugen Edelmann, Betriebsratsvorsitzendem Oliver Mauer, Peter Zech, Leiter der Abteilung Innovation und Digitalisierung, Andreas Heidrich von der Werkskommunikation, Industriemeister Volker Reß und Andreas Schmitt aus der Digitalisierungsarena geführt. Zur Delegation des Bischofs gehörten Betriebsseelsorger Diakon Peter Hartlaub, die Pastoralreferent(inn)en Bernhard Lutz, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Seelsorge, Lucia Lang-Rachor, Leiterin der Abteilung Erwachsenenpastoral, sowie Christian Klug, Koordinator des Pastoralen Raums Bad Neustadt.
Mehrere Verlagerungen von Produkten und Produktionsbereichen habe das Siemenswerk 2010 und 2016 überstanden. Die drohende Schließung eines der beiden Standorte und der Verlust von über 800 Arbeitsplätzen sei 2010 Dank des Widerstandes der Belegschaft – unter anderem demonstrierten mehr als 2500 Menschen aus der Rhön vor der Münchener Firmenzentrale – erfolgreich verhindert worden, erläuterte Betriebsseelsorger Hartlaub. Unter anderem habe Bischof Dr. Friedhelm Hofmann dem damaligen Vorstandsmitglied Siegfried Rußwurm ins Gewissen geredet. Im Vergleich zu 2010 sei die Zahl der Mitarbeitenden, zählt man die Betriebe der Siemens AG und von Valeo zusammen, sogar um mehrere 100 Personen gestiegen. „Unter anderem auch, weil die Belegschaft sich auf ihre eigenen Stärken besonnen hat: die Fähigkeit zur Innovation und zur Steigerung der Produktivität“, sagte Hartlaub.
Einen hohen Produktivitätsprozentsatz müsse der Standort Bad Neustadt nach Vorgaben der Zentrale weiterhin pro Jahr leisten, erläuterte Produktionsleiter Edelmann. Das gelinge über die Jahre im Durchschnitt immer, nicht zuletzt, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich mit vielen Verbesserungsvorschlägen einbringen. Das liege zum einen an dem Wissen um die Notwendigkeit ständiger Optimierung, aber auch an der Prämie, die für entsprechende Vorschläge an die Mitarbeiter ausgezahlt wird, sagte Edelmann.
Mehr als 500.000 Elektromotoren werden pro Jahr in Bad Neustadt hergestellt, in 35.000 verschiedenen Varianten pro Jahr. Im Schnitt alle sieben Minuten wird also ein anderer Motor gefertigt. „Die Kunden können aus einer Million verschiedener Spezifikationen wählen“, erklärte Peter Zech, für Innovation und Digitalisierung zuständig. In der Arena, einem großen „Showroom“, gab er Einblicke, wie „Digitalisierung zum Anfassen“ bei Siemens aussieht. Nach wie vor seien Qualität, wettbewerbsfähige Kosten und eine zuverlässige Logistik die drei wichtigsten Säulen eines Werkes. In Bad Neustadt seien zusätzlich auch die enge Zusammenarbeit mit Entwicklung und Vertrieb der eigenen Softwareprodukte hinzugekommen. So würden Entwicklung, Herstellung und Implementierung jedes Produktionsschritts in Bad Neustadt digital simuliert und so im Vorfeld bereits mögliche Fehlerquellen und Schwachstellen entdeckt. „Wir sind ein digitales Zentrum für digitalisierten Maschinenbau“, erklärte Zech selbstbewusst. Diese Expertise sei weltweit gefragt. Sei es, wenn es darum gehe, die digitale Transformation zu gestalten, ein neues Produkt einzuführen, komplexe Systeme zu beherrschen oder Fabriken global zu vernetzen. „Wir wissen auch, wie sich Maschinen schnell und effizient bauen lassen“, sagte Zech.
Beeindruckt waren Bischof Jung und seine Begleiter unter anderem von der Visualisierung der robotergestützten Bearbeitung eines Gussteils, bei der am Bildschirm in Echtzeit sämtliche Messwerte zu sehen waren, die an der entsprechenden Maschine dann bei der realen Produktion angezeigt werden. „Ist irgendein Schritt bei der Software falsch programmiert, entsteht der Schaden nur in der Simulation. In echt summiert sich ein Fehler schnell auf mehrere tausend Euro, wenn die Maschine zum Beispiel mit dem Werkstück kollidiert“, erläuterte Produktionsleiter Edelmann den Besuchern. Auf einem Monitor sahen der Bischof und seine Delegation, welcher Auftrag gerade an welcher Maschine bearbeitet wird. Waren die jeweiligen Punkte grün, war alles im Soll, bei roten Punkten lässt sich mit einem Klick auslesen, welches Problem zu einer Unterbrechung geführt hat.
Ausgerüstet mit Sicherheits-Überschuhen, Warnwesten und Kopfhörern, durchlief die Gruppe aus Würzburg dann eine Produktionshalle. 60 Prozent der benötigten Aluminiumgussteile würden in Bad Neustadt gefertigt. Lieferkettenprobleme gebe es daher kaum. Das habe in der Coronazeit wesentlich dazu beigetragen, dass die Fertigung nie stillstehen musste. Beispielsweise gibt es vier Maschinen für den Druckguss von Aluminiumgehäusen. Die bei der weiteren Bearbeitung der Elektromotorenkomponenten benötigten Maschinen kosten – je nach Komplexität des jeweiligen Schritts – über eine Million Euro pro Stück. Ein Facharbeiter bedient gleichzeitig zwei bis zu drei von den Anlagen.
Um in der Produktion wie in der Entwicklung ausreichend qualifiziertes Personal zur Verfügung zu haben, setze Siemens konsequent auf eigene Ausbildung, berichtete Betriebsratsvorsitzender Mauer. Zudem bestehe die Möglichkeit, sich über ein Duales Studium als Ingenieur zu qualifizieren. Er selbst habe nach dem Quali erst eine Ausbildung und nach und nach schließlich ein Studium im Bereich Personal und Recht absolviert. Viele Jungfacharbeiter absolvieren nach ihrer Ausbildung zum Beispiel die Technikerschule, um ein breiteres Einsatzgebiet mit besseren Aufstiegschancen im Unternehmen zu haben: „Siemens unterstützt konsequent den Erwerb neuer Fähigkeiten und das lebenslange Lernen.“ Innovations- und Digitalisierungsexperte Zech berichtete zudem von vielen Robotikexperten mit Wurzeln in der Region, die bei anderen Industriebetrieben in Ingolstadt oder Augsburg gearbeitet hätten. Sie hätten im Zuge von Homeoffice und Coronapandemie die Lebensqualität im Raum Bad Neustadt wieder neu zu schätzen gelernt und seien deswegen zu Siemens in die alte Heimat gewechselt.
„Vielen Dank für diesen Einblick. Es war spannend zu sehen, wie hier die Digitalisierung in der Produktion greift“, sagte Bischof Jung am Ende des zweistündigen Aufenthalts in Bad Neustadt.
mh (POW)
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