Würzburg (POW) Dr. Georg von der Heide ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin. Seit 1995 besitzt er eine eigene Praxis in Würzburg und behandelt dort Patienten, die beispielsweise unter Depressionen, Angststörungen oder akuten Lebenskrisen leiden. Im folgenden Interview spricht er über den Umgang mit Schuldgefühlen und die Gemeinsamkeiten von Beichte und Psychotherapie.
POW: Wie oft geht es bei Ihnen in der Praxis um Schuld und Gewissen?
Georg von der Heide: Um Gewissen weniger, das ist doch eher ein typisch religiös geprägter Begriff. Um Schuld ja, aber eher im Sinne von Schuldgefühlen: Bin ich schuld an einer bestimmten Entwicklung, an Dingen, die schief gelaufen sind in meinem Leben? Bin ich schuld daran, was anderen passiert ist? Das ist ein sehr häufiges Thema.
POW: Wir würden Sie beides als Psychotherapeut definieren?
Von der Heide: Gewissen ist immer der Vergleich meines Handelns oder Denkens mit einem Regelsystem, das ich im Hinterkopf habe – Sigmund Freud hätte vielleicht „Über-Ich“ dazu gesagt. Das ist ein Prozess, der sicherlich bei allen Menschen regelmäßig abläuft, aber erst mal einer, in den ich mich nicht einmische. Es ist nicht meine Aufgabe, in das Regelsystem eines anderen einzugreifen. Das ist vielleicht der Unterschied zum kirchlichen Bereich, wo davon ausgegangen wird, dass ein bestimmtes Regelsystem das richtige und anderen Systemen überlegen ist. Auf den Standpunkt kann ich mich schlecht stellen. Schuld dagegen hat für mich mit Verantwortung zu tun, ich würde beides synonym verwenden.
POW: Wie belastend kann es für einen Menschen sein, wenn er sich schuldig fühlt?
Von der Heide: Das Schlimmste ist wahrscheinlich, wenn es um Schäden oder schlimme Ereignisse von anderen Menschen geht: der plötzliche Tod, ein Unfall, Verletzungen oder eben auch Selbstmord von anderen Menschen. Und das geht über viele Jahre hinweg. Ich hatte Patienten, die noch zehn oder 15 Jahre nach einem Verkehrsunfall darunter gelitten haben, weil dabei jemand zu Tode gekommen ist. Auch wenn von der Polizei oder anderen Beteiligten eindeutig gesagt wurde, dass derjenige überhaupt keine Schuld an dem Unfalltod trägt, kann das jemanden über viele Jahre hinweg sehr plagen.
POW: Wie therapieren Sie einen Menschen, der aufgrund einer schweren Schuld leidet?
Von der Heide: Das Wichtige ist, die Verantwortungen zu klären. Da muss man als Therapeut ehrlich sein und auch unangenehme Dinge ansprechen. Wenn tatsächlich jemand an bestimmten Ereignissen Schuld hat, also Verantwortung trägt, dann kann er ja nur etwas daraus lernen, wenn er sich dem stellt. Aber das kommt in der Regel selten vor, vielleicht bei zehn Prozent der Fälle. Der größere Teil fühlt sich schuldig für Dinge, für die er effektiv nichts kann. Da ist es wichtig, das ganz klar herauszuarbeiten und auch mal die Fantasie spielen zu lassen: Was meinen Sie – was hätten Sie denn tun können, was hätten Sie machen sollen, hätten Sie es abwenden können? Meistens kommt man dabei zu dem Schluss, dass es nichts gab, wo derjenige tatsächlich hätte eingreifen können.
POW: Was haben Beichte und Psychotherapie denn gemeinsam?
Von der Heide: Relativ viel. Ich denke, beide haben das Grundprinzip der Entlastung. Es ist das Wichtigste überhaupt, dass Menschen über Dinge sprechen können, über die sie sonst nicht reden, und einfach etwas loswerden können. Und da geht es gar nicht so sehr darum, dass ich viele schlaue Dinge dazu sage, sondern erst mal nur um die Entlastung.
POW: Wie bewerten Sie denn aus Ihrer Sicht die Absolution des Priesters, die Sie in einem psychotherapeutischen Gespräch nicht geben können?
Von der Heide: Angenommen, es geht im Gespräch um Schuldgefühle: Man prüft, was hätte man machen können, und am Ende kommt heraus, dass derjenige sein Möglichstes getan hat. Das ist vielleicht gar nicht so viel anders als eine Absolution, nur eine, die sich der Betreffende selbst erteilen muss. Und das ist oft schwieriger. Meistens ist es ja so, dass die Betreffenden mit der Absolution von außen kommen. Zum Beispiel der, der unglücklicherweise jemanden überfahren hat: Es war Nacht, stockdunkel, den Fahrer trifft effektiv keine Schuld, die Polizei sagt ihm auch: „Da konnten Sie überhaupt nichts machen, das war ein Unglücksfall“. Aber der Betreffende kann sich selber die Absolution nicht geben. Das ist eigentlich das Schwierige.
POW: Steckt denn viel Kraft in der Absolution – therapeutisch gesehen?
Von der Heide: Ja, denn Menschen neigen natürlicherweise dazu, bei Fehlern nachzuhaken, immer wieder darüber nachzudenken. Das ist eine sinnvolle Funktion und von der Evolution so eingerichtet: Nur so wird eine ständige Verbesserung möglich.
POW: Sind Sie die moderne, säkulare Version des klassisch-religiösen Beichtvaters?
Von der Heide: Also da sehe ich schon Unterschiede, weil Menschen zu mir aus ganz anderen Motiven kommen. Das sind heute einfach zwei unterschiedliche Aufgaben. Kann schon sein, dass der Seelsorger ähnliche Aufgaben übernommen hat, bevor es die Psychotherapie gab – das wäre möglich.
POW: Empfehlen Sie manchen Patienten auch die Beichte?
Von der Heide: Das eigentlich nicht, denn ich möchte nicht in sein Regelsystem eingreifen. Wir reden hier zu wenig über religiöse Themen, von daher wüsste ich auch nicht, was das für den Betreffenden genau heißt. Wenn ich allerdings merke, dass jemand im religiösen Bereich seine Fragen und Zweifel hat, würde ich ihn an den entsprechenden Seelsorger verweisen.
POW: Für einen religiösen Menschen können sich Psychotherapie und kirchliche Seelsorge also gut ergänzen?
Von der Heide: Auf jeden Fall, da sehe ich keine Konkurrenz.
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