Seit geraumer Zeit vollzieht sich eine aufschlussreiche Entwicklung. Hat man, wenn ich es recht sehe, noch bis in die 90er Jahre in der westlichen Welt unter dem Einfluss der sozialpolitischen Thesen von Max Weber1 für eine strikte Trennung von Ethik und Politik plädiert, so ist seither eine Gegenbewegung auszumachen. In der breiten Öffentlichkeit tritt sie vornehmlich als Wertedebatte in Erscheinung. Der Wandel ist interessant: Noch bis vor kurzem lehnte man ethische Politikberatung als einen inneren Widerspruch mit der Begründung ab, dass Fragen der Moral höchst subjektiv gefärbt seien, folglich dürften sie nicht auf das Feld des Politischen übertragen werden, das auf Regelungen für die Allgemeinheit zielt. Man hat die Überlegungen Webers dann so zugespitzt, dass eine „regierungsamtliche Moral“ mit dem Selbstverständnis einer pluralen Gesellschaft, welche die verschiedensten ethischen Einstellungen aufweist, schlechthin unverträglich sei.
Man muss sich diesen Standpunkt vergegenwärtigen, um den seither eingetretenen Meinungswandel allein in Deutschland ermessen zu können: Ein nationaler Ethikrat wurde eingerichtet (auch wenn dessen Anbindung beim Bundeskanzleramt umstritten ist, wurde doch das Faktum selbst weithin akzeptiert), ebenso haben nahezu alle demokratischen Parteien in den letzten Jahren so genannte „Wertekongresse“ veranstaltet. Der Grund für diesen Umschlag dürfte zum einen in der theoretischen Erkenntnis liegen, dass der demokratische Staat zwar weltanschaulich neutral, aber keineswegs wertneutral ist, weil er von Voraussetzungen lebt, die er selbst weder schaffen noch im letzten garantieren kann.2 Dazu kommt die rein praktische Einsicht, dass in einer immer pluraler und multikultureller werdenden Gesellschaft ein ethischer Minimalkonsens (mir ist allerdings das Wort Grundkonsens sympathischer!) notwendig ist, um ein geordnetes und friedliches Zusammenleben der verschiedensten Gruppen und Individuen zu gewährleisten. Werden also die Schnittmengen zwischen Ethik und Politik wieder größer? Vorsicht vor voreiliger Freude – manches lässt auch misstrauisch werden. Gerade im Medienzeitalter hat der neue Trend zur Ethik auch seine spezifischen Risiken, wenn zum Beispiel die Wertedebatte zu plakativ und oberflächlich geführt wird. Dann wirkt sie nämlich wie ein Begriffscontainer, in den unterschiedslos und unvermittelt alles Mögliche an Motiven, Grundsätzen und Perspektiven hineingepackt wird, ohne dass eine innere Vermittlung geschieht.3 Es kann durchaus sein, dass auf der allgemeinen Begründungsebene von Werten ein verbaler Gleichklang herrscht, ohne dass man sich in der Anwendung einig ist. Ein Beispiel: So berufen sich etwa CDU und SPD in ihren Grundsatzprogrammen auf die gleichen Grundwerte (Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität), vertreten aber – trotz großer Koalition – teilweise recht gegenläufige Ansichten zur Frage, wie denn die Verwirklichung dieser Grundwerte bei konkreten Sachentscheidungen aussieht.4 Auch ist es mit einer oberflächlichen Werteethik – ich sage das auch an die eigene Adresse unserer Kirchen – nicht getan. Sie drückt sich – vereinfacht gesprochen, so aus: Für jegliches Defizit in der Gesellschaft scheint Abhilfe in Sicht, wenn man sich nur auf die passenden Werte besinnt. Ob bei Wettskandalen im Sport, bei Korruption in der Wirtschaft, bei Spendenaffären in der Politik, bei Gewalt an Schulen: in einem vereinfachten Deutungsschema werden Diagnose und Therapie in eins gesetzt. Was an sozialen Missständen durch den Verlust an Werten entstanden ist, wird sich durch ihre Rückkehr wieder ausgleichen lassen. Doch so einfach ist es nicht. Wir wissen alle: Werte sind das Ergebnis von Überzeugungen und kein Naturzustand, der verschüttet wurde und den man nur wieder herzustellen braucht. Es geht also darum Überzeugungsarbeit zu leisten – auch im Verhältnis von Ethik und Politik. Gerade wenn wir sicher sind, dass die Demokratie unter allen bekannten Staatsformen die besten Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen bietet, ist sie kein Selbstläufer – als Institution braucht sie konkrete ethisch fundierte Haltungen. Diese sind aber nicht nach dem ironischen Diktum zu sichern: „Hab’ feste Grundsätze, hänge sie aber so hoch, dass du im Alltag bequem darunter hindurchlaufen kannst.“ Das führt nicht weiter; es braucht immer wieder die konkrete Abstimmung zwischen aktueller Tagespolitik und den sie tragenden Einsichten. Dass Sie sich in der konkreten Arbeit des Kreistages darum bemühen wollen, sehe ich als Grund für meine Einladung heute Abend. Aber ich sage eines vorweg: Ich betrachte mich nicht als geistlichen Prinzipienreiter, der vom hohen Ross herunter in das Handgemenge des politischen Alltags hinein Belehrungen erteilt. Meine Perspektive ist viel eher die eines Mitsuchenden, der von den eigenen Erfahrungen her den Dialog anstrebt und damit Vermittlungsarbeit in einer Aufgabe leisten will, die uns alle angeht. Von dieser Intention her ist auch das jüngste gemeinsame Wort der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland zu verstehen, das den Titel trägt: „Demokratie braucht Tugenden.“5 Ich habe den Text für Sie alle mitgebracht, weil er vieles enthält, was nachdenkenswert ist. Meine eigenen Überlegungen können natürlich nicht erschöpfend sein (das würde bei Ihnen und mir nur zu Erschöpfungszuständen führen!). Ich behelfe mir deshalb damit, dass ich die folgenden Gedanken an drei Elementen festmache, die meines Wissens bei der Vereidigung von Mandatsträgern auf allen politischen Ebenen – im Bund, in den Ländern, in den Kreisen und Kommunen – auftauchen: Sie haben versprochen, dem Gemeinwohl zu dienen, dabei Ihrem Gewissen zu folgen und Gerechtigkeit gegen alle zu üben. Gemeinwohl – Gewissen – Gerechtigkeit: ich meine, dass diese drei Grundworte gut geeignet sind, um Perspektiven für die Verhältnisbestimmung von Ethik und Politik zu gewinnen. Mehr als Denk- und Gesprächsanstöße können meine Gedanken freilich nicht sein.
1. Gemeinwohl
Was ist zunächst unter dem Wort „Gemeinwohl“ zu verstehen? Die Vorstellung, alle Einzelinteressen in einer Bürgergesellschaft fügten sich in einer Art Selbstregulierung harmonisch zum sinnvollen Ganzen, wenn man sie nur den Gesetzen des Marktes oder der lenkenden Hand des Staates überließe, ist längst erschüttert. Mittlerweile wird sogar offen die Frage geäußert, wie sich verhindern ließe, dass der Sozialstaat zum Sozialfall verkommt.6 Diese Befürchtung ist gar nicht so weit hergeholt wie es scheint – keine Geringere als Gesine Schwan, über Parteigrenzen hinaus respektierte Kandidatin bei der letzten Bundespräsidentenwahl, hat bei einer Kabinettsklausur der vorigen Regierung ziemlich unverblümt die Befürchtung geäußert, das ständige Hantieren mit dem Globalisierungsdruck als Begründung für alle möglichen Maßnahmen werde immer mehr zum Killerargument, das letztlich eine gemeinwohlorientierte Politik unmöglich mache. Demgegenüber gelte es, das Vertrauen der Menschen in den Sozialstaat zurückzugewinnen.7 Gerade Vertrauen lässt sich aber nicht verordnen; es kann nur durch glaubwürdiges Handeln gewonnen werden. Die Situation wird dadurch nicht einfacher, wenn man als Maßstab für das Gemeinwohl so etwas wie einen Grundkonsens des Volkes ansetzt, das die Mandatsträgerinnen und –träger repräsentieren. Gibt es bei den zunehmenden Tendenzen zur Individualisierung der Lebensbereiche, die eine Kehrseite der Globalisierung darstellen, überhaupt noch so etwas wie einen „nationalen Grundkonsens“ des ganzen Volkes – und wenn ja, wie sieht er aus? Unstrittig ist, dass die politischen Akteure als Volksvertreter das Volk nicht nur in seiner Gesamtheit, sondern auch in seinen Unterschieden vertreten. Aber genauso ist festzuhalten: Die berechtigten Einzel- und Gruppeninteressen in einer pluralen Gesellschaft stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind sehr differenziert, oft auch in gegenseitiger Abhängigkeit miteinander verflochten; sonst wäre ein Zusammenleben auf sozialer und ethischer Basis – eben als Gemeinwohl verstanden – nicht möglich. Die Politik hat gegenüber diesem Gemeinwohl eine ständige Gestaltungsaufgabe. Deren Prinzipien sind einerseits durch die allgemeinen Menschenrechte vorgegeben; andererseits müssen diese ständig mit aktuellen Entscheidungen vermittelt werden, die oft sehr komplex sind und ein hohes Maß an Sachverstand wie Fingerspitzengefühl fordern8: Wie lässt sich wirtschaftliche Dynamik fördern, ohne dass dabei soziale Schieflagen entstehen? Wo kollidiert die Freiheit wissenschaftlicher Forschung mit dem Schutz der Menschenwürde? Wie lässt sich eine Gesellschaft gestalten, in der Alteingesessene ebenso ihren Platz haben wie Migranten? Wie viel Einheitlichkeit braucht und wie viel Unterschiedlichkeit verträgt das sich neu bildende Europa?9 Sie spüren, die Suche nach dem Gemeinwohl lässt sich nur in Spannungsbögen mit verschiedenen Polen benennen. An der Schnittstelle von Ethik und Politik, um die es dabei immer wieder geht, ist deshalb oft von den gestaltenden Personen bei ihrem Mühen um konkrete Entscheidungen die Berufung auf das Gewissen gefragt. Ihm allein, so wird oft betont, seien Mandatsträger letztlich verpflichtet.
2. Gewissen
Die Berufung auf das Gewissen10 als Kompass für politische Entscheidungen scheint zunächst auch eine unter Demokraten akzeptierte Selbstverständlichkeit zu sein, aber auch sie ist nicht so unanfechtbar, wie man zunächst meinen könnte. Das Gewissen nämlich wird in unserer pluralen Gesellschaft immer weniger als gemeinsame Grundlage bei der Entscheidungsfindung verstanden, sondern als Rückzugsmöglichkeit für den Einzelnen. Mit diesem Rückgriff wird es möglich, eine Position einzunehmen, deren Berechtigung von anderen nicht mehr in Frage gestellt oder überprüft werden darf, weil sie eben gleich mit den Gewissen als letzter Instanz argumentiert. Ein dialogischer Wertevergleich oder zumindest eine Güterabwägung ist dann nicht mehr möglich. Dabei droht eine im Ansatz ja berechtigte Selbstverwirklichung ins Kommunikationslose einer bloßen Selbstbestätigung abzugleiten, weil einem solchen extrem individuell verstandenen Gewissen nur zu leicht jene Verantwortung abgeht, die das eigene Ich an übergreifenden Werten ausrichtet, die dem Einzelnen voraus liegen und ihn auf die Gemeinschaft hin verweisen. Hart ausgedrückt: Es droht eine Art Etikettenschwindel; eine zu schnell und vordergründig ins Spiel gebrachte Gewissensentscheidung wird leicht zur willkürlichen Beliebigkeit, weil die dabei beanspruchte Freiheit keine Bindungsfähigkeit entwickelt, die sich am Anderen orientiert. Ihren klassischen Ausdruck findet diese Orientierung in der so genannten „Goldenen Regel“, die sowohl in der antiken Philosophie wie in der biblischen Bergpredigt auftaucht: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12). Aber auch eine Ausrichtung des Gewissens auf das Dialogprinzip hin birgt in sich noch keine Garantie für eine Werteverwirklichung, die Bestand hat. Auf die Maßstäbe kommt es an: Und diese Maßstäbe für die Gewissensentscheidung werden heute oft nicht mehr mit voraus liegenden ethischen Grundsätzen begründet, denen sich das Individuum und damit auch der einzelne politische Entscheidungsträger verpflichtet weiß. Sie werden vielmehr zunehmend aus den Erfahrungen des technischen Machens genommen und von wirtschaftlichen Interessen bestimmt: wichtig sind dann etwa Funktionalität, Effektivität, Lebensqualität. Diese „neuen Werte“ sind aber merkwürdig inhaltsleer. Es gibt zwar seit einiger Zeit eine so genannte „Ethik des Diskurses“,11 eine gemeinsame Güterabwägung zur Findung von Verhaltensmustern, bei der aber auch nicht vorgegebene und schon gar nicht transzendente Werte zählen, sondern allein das korrekte Zustandekommen einer Entscheidung. Darüber hinaus ist alles verhandel- und wandelbar. Ein extremes Beispiel: Moralisch verwerflich ist in dieser Logik nicht der Drogenkonsum, sondern nur noch der Umstand, dass der Dealer dem Konsumenten beim Handel falsche Angaben über den Stoff gemacht hat. In der „Ethik des Diskurses“ wird die Frage nach dem Unverfügbaren im menschlichen Leben ebenso ausgeblendet wie die schon genannte Frage, ob Staat und Gesellschaft von Voraussetzungen leben, die sie selbst weder schaffen noch garantieren können. Wenn nur die erhoffte Steigerung der Lebensqualität groß genug erscheint, wird nur zu leicht alles Machbare vor dem Gewissen gerechtfertigt; nicht hinter der Forschung zurückzubleiben, wird dann zum unentrinnbaren Zwang, der seine Richtung selbst bestimmt. Menschsein wird dabei nur zu leicht verzweckt; die Menschenwürde wird als unantastbarer Maßstab schleichend relativiert. Wie weit hilft dabei die häufig erhobene Forderung, dass sich Gewissensentscheidungen am Maßstab der Gerechtigkeit orientieren müssen?
3. Gerechtigkeit
In seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hat der Philosoph Hans Jonas bereits 1987 sehr klar gefordert, das „Ethos der Selbstbezogenheit“ müsse auch durch Bemühungen um mehr Gerechtigkeit im politischen Bereich überwunden werden.12 Aber was ist gerechte Politik? Und was heißt „Gerechtigkeit gegenüber jedermann“, etwa im Amtseid des Kanzlers, der Kanzlerin – ist so etwas überhaupt möglich? Nehmen Sie das Stichwort Gesundheitsreform: Während die einen die Gerechtigkeit etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung am gleichen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung festmachen, plädieren die anderen für eine gleiche Verteilung von Leistungsansprüchen gerade unabhängig von der Fähigkeit zum Eigenbeitrag. Ist es möglich, den Zusammenhang zwischen Leistungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit zu wahren? Stichwort Arbeitsmarktreform: Die Frage etwa, ob die „Hartz IV“ genannten Reformen gerecht sind, ob sie die solidarische Lastenverteilung fördern und eine selbständige menschenwürdige Lebensführung der Betroffenen ermöglichen, hängt wieder vom Verständnis von „Gerechtigkeit“ ab: So fragt Gesine Schwan, ob im politischen Konflikt wenigstens der Grundkonsens über ein Gerechtigkeitsminimum möglich ist, zum Beispiel in der Definition der Armutsgrenze: „Der Staat kann finanziell in seiner Sozialpolitik nicht mehr den Lebensstandard der Arbeitslosen sichern, sondern nur noch vor dem Rückfall in die Armut bewahren.“13 Aber auch dabei bleibt die Frage: Was ist im konkreten Fall gerecht, was ist zumutbare solidarische Lastenverteilung, was macht das Minimum einer menschenwürdigen Lebensführung aus? Es wäre schon viel erreicht, wenn die notwendige politische Auseinandersetzung um eine gerechte Gesellschaft so ausgetragen würde, dass das Ergebnis dieses demokratischen Konflikts keine allseitige Handlungsblockade ergibt, sondern Wege zu dem schon erwähnten Grundkonsens eröffnet. Dafür ist es jeweils neu nötig, die Ansprüche und Absichten kritisch zu reflektieren, welche die politischen Akteure mit ihren Entwürfen für Verordnungen und Gesetzen verbinden. Dazu ist detaillierte Sachkenntnis genauso nötig wie das Mühen um ethische Einsichten mit dem Maßstab der Menschenwürde. Wenn es um Gerechtigkeit geht, ist im Verhältnis von Politik und Ethik noch ein Aspekt unverzichtbar: Eine Gerechtigkeit, die sich am Gemeinwohl orientiert und mit Gewissensbildung zusammenhängt, darf nicht bloß gegenwartsbezogen sein, sondern hat eine Zukunftsdimension, die manchmal gegen allzu momentverhaftete Interessen geltend gemacht werden muss. Das gilt nicht nur für die Abschätzungen von Folgen technik- und energiepolitischer Entscheidungen im Blick auf ihre Umweltverträglichkeit. Es geht um mehr: Nämlich um eine Generationengerechtigkeit, welche die Gegenwartsfixierung der Politik zugunsten einer langfristig angelegten Zukunftsverantwortung aufbricht. Man könnte es mit einem Wort von Angela Merkel auch so ausdrücken: „Wir können nicht alles verfuttern, was eigentlich künftigen Generationen gehört.“14 Dem steht zwar die Kurzfristigkeit vieler politischer Vorgänge und das Denken in Wahlperioden entgegen, aber trotzdem bleibt der Satz im gemeinsamen Wort der Kirchen gültig: „Die gewählten Politikerinnen und Politiker müssen auch Repräsentanten derer sein, die heute noch keine Stimme haben.“15 Wenn politisches Handeln diese Dimension ausblendet, droht eine strukturelle Ungerechtigkeit, die unabsehbare Folgen hat. Ethische Überlegungen, über die durchaus kontrovers zu diskutieren ist, helfen, diese Zukunftsverantwortung zu sichern.
Damit möchte ich meinen Streifzug durch das weite Themenfeld von Ethik und Politik abbrechen – ich hoffe, Sie haben meine Ausführungen nicht als abgehobene Horizontschleicherei empfunden, sondern als Beitrag zum gemeinsamen Suchen danach, welche Maßstäbe für konkrete Schritte zu einer menschenwürdigen Gesellschaft gelten müssen. Sie könnten mich jetzt natürlich fragen: Sie kommen doch als überzeugter Christ und katholischer Priester – haben Sie da über allgemein ethische Maßstäbe hinaus noch spezielle Kriterien? Auch dazu gäbe es sicher viel zu sagen16, zum Abschluss möchte ich nur so viel anmerken: Es gibt für meine Auffassung keine christliche Politik im eigentlichen Sinn des Wortes, sehr wohl aber eine Politik von Christen oder eine christlich verantwortete Politik, die durchaus verschiedene Formen und Optionen annehmen kann. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die ethische Reflexion des politischen Handelns über das rein Weltliche hinaus im Religiösen, im Gottesbezug, verankern. Das ist für gläubige Menschen kein Widerspruch, weil für sie religiöser Glaube und vernunftgeprägte Ethik letztlich auf den einen Schöpfer zurückgehen, der Welt und Menschen aus Liebe ins Dasein ruft und ihnen von daher einen unzerstörbaren Wert gibt.18 Nicht zuletzt von diesem Gedanken ist das Weihnachtsfest geprägt, auf das wir zugehen. Christlich motiviertes Handeln in der Welt – auch in Gesellschaft und Politik – will in aller Gebrochenheit und Vorläufigkeit etwas davon sichtbar machen. Deshalb wird in der viel beachteten Enzyklika „Deus Caritas est“ von Papst Benedikt XVI. auch der Gedanke geäußert, dass die Übernahme von politischer Verantwortung eine Form des christlichen Liebesdienstes sein kann.19 Ich möchte dieses Wort aufgreifen und Ihnen als Abgeordneten des Kreistages einmal ausdrücklich für Ihr Bemühen danken, im politischen Wettstreit unsere Heimat auch auf Zukunft hin lebens- und liebenswert zu erhalten. Dabei darf man ruhig zugeben, dass Politik immer nur die Kunst des Möglichen ist.20 Aber mein Wunsch für Sie zum Weihnachtsfest und für das neue Jahr geht dahin, dass es Ihnen gelingt, das Mögliche gut und das Gute möglich zu machen.
(5106/1830)
Anmerkungen:
1) Vgl. M. Weber, Politik als Beruf (München 1919)27ff.
2 ) E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders.: Recht, Staat, Freiheit (Frankfurt/Main 1991) 93-114, bes. 112.
3) H.-J. Höhn, Verkannt oder überschätzt? Zum fragwürdigen Mehrwert der Werte, Amos 1 (2006) Heft 4, 3-10.
4) Interessante Überlegungen dazu finden sich bei M. Schramm, Der Preis der Werte. Wirtschaftsethische Notizen, Amos 1 (2006) Heft 4, 11-18.
5) Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft des demokratischen Gemeinwesens. Gemeinsame Texte 19 (Hannover/Bonn 2006).
6) J. Röser, Einfach anständig. Die innere Moral zwischen Ethik und Volk, in: Christ in der Gegenwart 58 (2006) 410.
7) G. Schwan, Das Vertrauen der Menschen in die soziale Demokratie zurückgewinnen. Referat auf der Kabinettsklausur in Neuhardenberg am 09.07.2004 (Manuskript) 4.
8) Eine gute Problemskizze bietet A. Lob-Hüdepohl: Nicht vom hohen Ross herab. Politikberatung durch ethische Ideenagenturen, Herder-Korrespondenz 60 (2006) 79-83.
9) Näheres dazu bei K. Hillenbrand, Europa im Wandel – was wird aus den christlichen Werten? (Würzburg 2006) bes. 22 ff.
10) Einen differenzierten Überblick bietet E. Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung (Freiburg/Br. 2003) bes. 13-62.
11) Vgl. dazu K. Müller, Werte durch Konsens? Zur anthropologischen Grundlage der Normfindung. Die politische Meinung 51 (2006) 4.
12) H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung (Frankfurt/M. 1979) 22 ff.
13) G. Schwan, Das Vertrauen der Menschen zurückgewinnen, 11.
14) A. Merkel, Europas Werte in einer globalen Welt, Zur Debatte – Themen der Katholischen Akademie in Bayern Nr. 7/2005,5.
15) Demokratie braucht Tugenden, 28.
16) Vgl. dazu K. Lehmann, Glauben bezeugen, Gesellschaft gestalten. Reflexionen und Positionen (Mainz 1993) bes. 363-415.
17) Weiterführende Überlegungen bei U. Ruh, Der Glaube und die Politik, Herder-Korrespondenz 60 (2006) 163-165.
18) Grundsätzliches dazu findet sich bei J. Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs (Freiburg/Br. 2005) 22 ff und 33.
19) Enzyklika „Deus Caritas est“ von Papst Benedikt XVI. vom 25. Dezember 2005; Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 171 (Bonn 2006) Nr. 28.
20) Bleibend wichtig in diesem Zusammenhang: H. Maier, Kirche und Gesellschaft (München 1972) 15-33.