So sollt ihr mit allen Heiligen dazu fähig sein,
die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen
und die Liebe Christi zu erkennen,
die alle Erkenntnis übersteigt (Eph 3,18-19)
Dieses Wort aus dem Epheserbrief haben wir als Jahresmotto gewählt. Länge und Breite, Höhe und Tiefe der Liebe Christi ermessen, so formuliert der Apostel Paulus anschaulich. Es geht um ein neu vermessen unseres Christseins, das immer wieder Maß zu nehmen hat an der Liebe Christi. Gerade weil sie unsere Erkenntnis übersteigt, kommen wir mit diesem neu vermessen nie an ein Ende. Jede Zeit und jede Generation ist aufgerufen, diesen geistlichen Raum und diese geistliche Geographie neu auszuloten.
„Geistliche Feldgeschworene“ werden
Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe und eine echte Herausforderung. Denn es bedeutet, sich mit den alten Maßen nicht zufrieden zu geben, sondern wie „geistliche Feldgeschworene“ das Terrain neu abzuschreiten und die Grenzen zu begutachten, über die uns Christus führen möchte. Das gilt besonders in diesem Jahr, in dem wir unsere Pastoralen Räume festschreiben wollen. Aber dieses wunderbare Wort behält seine Gültigkeit auch für die kommenden Jahre, in denen wir vor der Aufgabe stehen, diese Räume mit Leben zu erfüllen.
Unsere drei Frankenapostel können uns dabei hilfreiche Wegbegleiter sein. Denn sie brachen damals aus der Enge ihrer Heimat Irland aus, getrieben von der Sehnsucht, der Liebe Christi Raum zu geben. Sie wollten selbst Länge und Breite, Höhe und Tiefe der Liebe Christi neu vermessen.
Im Folgenden möchte ich mit Ihnen diese vier Dimensionen betrachten und danach fragen, was sie für uns bedeuten könnten.
Die Höhe ermessen – die Sehnsucht nach Christus wachhalten
Beginnen wir mit dem Ermessen der Höhe. Für mich bezeichnet diese Dimension die lebendige Gottesbeziehung im Gebet. Der unendliche Gott zieht uns über uns hinaus. Das Gebet hilft uns, auf unserem geistlichen Weg nicht stehen zu bleiben. Im Gebet sind wir aufgefordert, uns selbst in Gott hinein zu überschreiten. Der Apostel Paulus formuliert es im Philipperbrief so: „Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“
Diese Berufung zu erneuern geht nur, indem ich beim Beten meine eigene Lebenswirklichkeit vor Gott bringe. Ich frage mich, welche Fortschritte ich mache in meinem Beten, oder ob ich seit Jahren auf der Stelle trete? Bin ich erstarrt und verspüre keine Herausforderung mehr, oder helfen mir meine Lebenserfahrungen, seien sie gut oder schlecht, mich im Glauben weiterzuentwickeln? Das geht nur, wenn ich bewusst Zeiten des Gebets und der Stille pflege. Nicht umsonst betone ich immer neu den Wert des kontemplativen Betens. Nur im wachen Wahrnehmen seiner Gegenwart kann ich erfahren, was Gott von mir will und wohin er mich ruft. Stets neu ergeht die Aufforderung aus der Heiligen Messe an mich, das Herz zu Gott zu erheben aus der Befangenheit im eigenen Trott und in der eingefahrenen Routine.
Das verlangt als innere Haltung die „Hochgemutheit“, wie die Alten so schön sagten. Nicht Hochmut, der meint, schon alles zu wissen und der mit Gott fertig ist. Nicht Hochmut, sondern Hochgemutheit, also die Haltung, in der ich von Gott etwas erwarte und die mich dann auch dazu befähigt, mein eigenes Leben zu ändern und mir Großes zuzutrauen, wenn ich merke, dass Gott mich ruft. „Selig, die ein reines Herz haben“, ruft Jesus uns zu. Die diesem Ruf folgen und ihn nicht aus Bequemlichkeit abtun oder sich herausreden, wenn der Herr sie auffordert, ihm zu folgen.
Wer die Höhe immer neu ermisst, der hat keine Angst vor der Wirklichkeit und er hat keine Angst vor dem Wachsen an der Wirklichkeit. Aus dem Vertrauen auf Gott traut er sich selbst Großes zu. Das führt uns auch schon zur nächsten Dimension.
Die Breite ermessen – Christus im Nächsten erkennen
Die Breite ermessen ist für mich gleichbedeutend mit dem Ermessen der gesamten Bandbreite der Herausforderungen unserer Welt. Denn Christus begegne ich immer im Nächsten. „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?“ fragen im Gleichnis vom Endgericht die Gläubigen (Mt,25,45). Darauf antwortet der Herr: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ Dem armen Christus müssen wir auf der Spur bleiben und uns fragen lassen, ob wir die Menschen in Not wirklich erreichen oder ob wir uns nur mit uns und unseren eigenen Problemen beschäftigen, um den Erhalt unseres eigenen Kirchturms kreisen.
Wenn Kirche Sakrament des Heils für die Welt sein will, sichtbares Werkzeug des Heils sein will, dann muss sie nach den Armen fragen. Im Blick auf das Vermessen unserer Pastoralen Räume wird das eine der entscheidenden Fragen sein: Schaffen wir es, Pastorales Handeln und Caritatives Tun so miteinander zu vernetzen, dass wir eine pastorale Caritas und eine caritative Pastoral leben? Das geht nur, wenn wir genau hinschauen. Deshalb habe ich darum gebeten, dass wir uns noch in diesem Jahr Gedanken machen, was es für uns als Kirche bedeutet, im Sozialraum der Menschen zu arbeiten. Denn erst der Blick auf die konkrete Not hilft uns zu erkennen, wohin der Herr uns ruft. Und im Blick auf die Not erkennen wir als Kirche auch unsere eigenen blinden Flecken.
Das verlangt als innere Haltung den Wagemut, der hinschaut, wo Hilfe fehlt, der Missstände offen benennt, und der auch bereit ist, beherzt anzupacken. Der Wagemut ist gut zusammengefasst in der Seligpreisung: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden.“
Die Corona-Tage sind und waren eine gute Vorübung für das Wahrnehmen der Not in unserer Umgebung. Sie haben schlaglichtartig deutlich gemacht, was wir eigentlich alle schon längst wussten, aber nie richtig wissen wollten. Dass unser Gesundheitssystem auf Kante genäht ist und dass wesentliche Dienstleistungen viel zu gering bewertet sind. Dass falsche Anreize in der Wirtschaft zu unmenschlichen Arbeitsverhältnissen führen und zu regelrechter Ausbeutung, die sich dann niederschlägt in erhöhter Gefährdung der Arbeitnehmer durch Ansteckung und Krankheit. Dass die Einsamkeit in unserer direkten Umgebung groß ist und dass viele Menschen der Nähe und der Begleitung bedürfen.
Für die vielen Hilfen, gerade auch aus der Mitte unserer Gemeinden bin ich zutiefst dankbar. Ich wünsche mir, dass wir diese wache Haltung der Hilfsbereitschaft uns erhalten und die Phantasie und den Einfallsreichtum, einander unkompliziert zu helfen. So schreiten wir die wahren pastoralen Räume ab, in die der Herr uns führen möchte.
Das führt uns aber auch schon zur nächsten Dimension.
Die Tiefe ermessen – das Kreuz Christi umfassen
Unter dem Ermessen der Tiefe verstehe ich die Wahrnehmung des Kreuzes und der Gebrochenheit unserer Welt. Wer die Tiefe ermisst, stellt sich bewusst seinen Grenzen. Wer in die Abgründe schaut, bekennt sich zu seinem Versagen.
Das gilt zuerst für die Kirche selbst. Damit befassen wir uns beim Synodalen Weg. Wie gehen wir als Kirche mit dem Versagen angesichts des Missbrauchs um und wird es uns gelingen, einen Weg zusammen mit den Betroffenen zu gehen, um aufzuarbeiten, was geschehen ist und die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen? Was bedeutet, innerhalb der Kirche transparent zu kommunizieren? Wie können Partizipation und Beteiligung der Gläubigen verbessert werden?
Das Kreuz ermessen gilt aber auch für die globalen Krisen unserer Tage, der Bedrohung der Umwelt durch den Klimawandel und damit einhergehend die Migrationsbewegungen weltweit, ausgelöst durch Dürre und Wassermangel. Oder die aktuelle Corona-Krise, die für die ärmeren Länder, in denen bspw. unsere Partnerbistümer liegen, neben den hygienebedingten Einschränkungen und den gesundheitlichen Folgen vor allem gravierende wirtschaftliche Konsequenzen hat und diese Länder auf Jahre zurückwirft.
Das Kreuz erfahren wir in der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft, in der die Kommunikation verroht und eine wirkliche Auseinandersetzung immer schwieriger wird, weil man statt differenzierter Lösungen einfache Erklärungen bevorzugt mit der Pflege von Feindbildern und Verschwörungstheorien.
Sich dem Kreuz zu stellen, erfordert die Haltung der Demut, in der wir die Grenzen anerkennen, die noch dem besten Wirken gesetzt sind, ohne jedoch zu resignieren und zurückzustecken. Insofern preist Jesus die Trauernden selig, diejenigen, die wahrnehmen, dass es um die Welt nicht zum Besten bestellt ist. Die aber in einer rechten Traurigkeit darüber nicht verzweifeln und zu Zynikern werden, sondern im Blick auf Gott sich immer neu aufraffen, um der echten Lebensfreude Geltung zu verschaffen.
Zu diesen Trauernden, die Jesus seligpreist, gehören auch die Märtyrer unserer Tage, Menschen, die – wie unsere Frankenapostel – ein Lebenszeugnis gesetzt haben im Vertrauen auf Gott, der die Opfer nicht vergisst und im Vertrauen auf den Sieg Gottes am Kreuz. Das führt uns zur letzten Dimension.
Länge ermessen – die Hoffnung nicht aufgeben
Unter dem Ermessen der Länge verstehe ich den langen Atem, den man braucht, wenn man sich der Mühe unterzieht, die Maße der Liebe Christi neu zu vermessen. In unserer schnelllebigen Zeit verliert man rasch die Geduld. Wenn Veränderungen nicht in kurzer Zeit zu bewerkstelligen sind, macht sich rasch ein Klima der Aggression breit. Von daher versteht man, warum Jesus die seliggepreist, die keine Gewalt anwenden. Er weiß, dass alles, was mit Gewalt erzwungen wird, nur Gegengewalt provoziert. Gewalt aber ist ein Zeichen für Hoffnungslosigkeit und Resignation. Wer wirkliche Veränderung will, muss den langen Atem mitbringen und versuchen, in Ausdauer Prozesse miteinander zu gestalten. Das gilt im Blick auf die Kirche in den Bereichen der Kirchenreform genauso wie in der Ökumene, das gilt gesellschaftlich für den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft und das Erreichen der Klimaziele. Die Langmütigen und die keine Gewalt anwenden sind die, die das Land erben werden, verheißt Jesus. Dazu bedarf es der Beharrlichkeit und des Vertrauens in den guten Geist Gottes, der die Welt zum Guten hin wandeln will.
Der goldene Maßstab des Engels der Apokalypse
Im letzten Buch der Bibel, der Apokalypse des Johannes wird erzählt, wie der Seher Johannes einen Engel sieht, der die Heilige Stadt Jerusalem ausmisst (Offb 21,15-17):
Und der Engel, der zu mir sprach, hatte einen goldenen Messstab, um die Stadt, ihre Tore und ihre Mauer zu messen. Die Stadt war viereckig angelegt und ebenso lang wie breit. Er maß die Stadt mit dem Messstab; ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich: zwölftausend Stadien. Und er maß ihre Mauer; sie ist hundertvierundvierzig Ellen hoch nach Menschenmaß, das der Engel benutzt hatte.
Golden ist der Stab des Engels, weil die Liebe göttlich ist und die Maßlosigkeit zum Maß hat. Menschenmaß sind die 12.000 Ellen, weil unser Gott in Jesus Christus unser menschliches Maß angenommen hat. Der goldene Messstab verhindert, dass wir beckmesserisch und knapp bemessen. Denn er erinnert uns an die Idealmaße Gottes, der will, dass alle in der Heiligen Gottesstadt Platz finden.
So bleibt am Ende die Bitte, der Herr möge uns bei unseren Messversuchen seinen heiligen Engel zur Seite stellen. Er helfe uns, an die Grenzen des Menschenmaßes zu gehen, eingedenk des Wortes des Herrn, der uns daran erinnert, dass wir mit dem Maß gemessen werden, mit dem wir andere messen (Mt 7,2). Nur so werden wir in der Lage sein, zusammen mit allen Heiligen die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe der Liebe Christi zu ermessen. Amen.