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„Für Paulus ist die erste Aufgabe der Kirche der Mensch“

Interview mit Professor Dr. Bernhard Heininger zum Völkerapostel: Ohne Paulus wäre das Christentum in seiner heutigen Gestalt nicht möglich

Würzburg (POW) Nicht nur im aktuellen Paulusjahr gehört eine Lesung aus dem Römerbrief des Völkerapostels fest zur Feier der Auferstehung Jesu. Warum das so ist und was die Texte des Paulus auch heute noch aktuell macht, erläutert Professor Dr. Bernhard Heininger, Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Exegese der Universität Würzburg, im folgenden Interview.

POW: Die Kirche begeht derzeit das Paulusjahr. Sie gedenkt damit eines Mannes, der vor 2000 Jahren gelebt hat. Was hat der Apostel den Menschen des 21. Jahrhunderts zu sagen?

Professor Dr. Bernhard Heininger: Sehr viel. Paulus ist ein theologischer Denker, der den Menschen und seine Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt seines theologischen Denkens gestellt hat. Wenn Sie so wollen, ist er der erste frühchristliche Anthropologe. Themen wie Sünde, Krankheit, Tod und Erlösung, menschliche Schwächen und Krisen, aber auch, wie das Leben gelingen kann und zum Heil führt – wir würden heute eher sagen: wie der Mensch glücklich wird – sind heute noch so aktuell wie damals.

POW: An Ostern und in der Osterzeit feiert die Kirche das Auferstehen Jesu nach Kreuz, Leid und Tod. Paulus hat als erster eine explizite Deutung und Theologie der Vorgänge entworfen. Können Sie die wesentlichen Inhalte kurz skizzieren?

Heininger: Das ist ein Bücher füllendes Thema (lacht). Der Tod Jesu, für die Christen der lange erwartete Messias, war für den radikalen jüdischen Toraschüler Paulus ein echter Anstoß; deswegen spricht Paulus vom Skandal des Kreuzes. Denn ein Gekreuzigter galt als ein von Gott Verfluchter – nachzulesen im Buch Deuteronomium. Für Paulus war es deshalb in seiner vorchristlichen Zeit definitiv unmöglich, diesen an das Holz Gehängten als Messias zu verkünden. Das war einer der wesentlichen Gründe, weswegen er zunächst die Christen verfolgte.

POW: Wie ging Paulus nach seiner Berufung zum Heidenapostel bei Damaskus mit dem Tod Jesu um?

Heininger: Paulus schließt sich den Deutungen der frühen Christen vor ihm an. Dabei spielt die sühnetheologische Deutung, die vielen Menschen heute große Probleme macht, eine wichtige, wenn auch nicht die alles entscheidende Rolle. Aber man muss genau hinschauen: Paulus sagt im Römerbrief ja nicht, dass ein zorniger Gott ein Opfer braucht, sondern dass Jesus und damit letztlich Gott der Ort ist, bei dem man seine Sünden abladen kann. Das ist eigentlich gegen die Opferpraxis des Tempels gerichtet. Jesus macht sozusagen den Weg zu Gott wieder frei. Mindestens ebenso prominent ist der Stellvertretungsgedanke, dass Jesus „für uns“, uns zuliebe gestorben ist. Damit ist gesagt: Jesus lebt – stellvertretend „für uns“ – vor, wohin ein verfehltes Leben führt, nämlich in den Tod, obwohl er selbst natürlich kein verfehltes Leben führt. Das heißt „für unsere Sünden“. Daneben gibt es noch weitere Deutungen wie zum Beispiel die Vorstellung des „Loskaufs“ oder der Versöhnung, die er besonders im zweiten Korintherbrief stark macht. Versöhnung heißt in diesem Fall: Dass derjenige, der verletzt worden ist, den ersten Schritt macht, unter das gegenseitige Schuldaufrechnen einen Schlussstrich zieht und so die Spirale der Gewalt durchbricht.

POW: Im Römerbrief, 6,3-11, der neutestamentlichen Lesung der Osternacht, geht es um das Hineingenommensein in Christi Tod. Können Sie diese Stelle erläutern?

Heininger: Die Taufe der Christen wird als ein Mit-Sterben und in gewisser Weise als Mit-Auferstehen interpretiert. Paulus relativiert letzteres und spricht von der Berufung zu neuem Leben in der Taufe. Er kennt einen sogenannten eschatologischen Vorbehalt, das heißt, die endgültige Auferstehung steht für ihn noch aus. Das mag uns heute selbstverständlich vorkommen, aber andere frühchristliche Theologen glaubten, mit der Taufe sei die Auferstehung tatsächlich schon geschehen. Solche Vorstellungen wurden vielleicht in Korinth und sicher bei den Kolossern vertreten. Paulus korrigiert diese Vorstellung. Er sagt, wir sind zu einem neuen Leben und zu einem neuen Lebenswandel berufen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Erwachsenentaufe damals der Normalfall war.

POW: Welche wesentlichen Impulse darüber hinaus verdankt das Christentum allein dem Wirken des Paulus?

Heininger: Ohne Paulus wäre das Christentum, wie wir es heute kennen, nicht möglich. Die große Streitfrage damals lautete: Müssen die Heiden, die an Jesus als Messias glauben, auch jüdisch leben, das heißt, sich beschneiden lassen, den Sabbat halten und ihr Essen an den jüdischen Speisegeboten ausrichten. Der judenchristliche Flügel um Jakobus herum wollte das so. Dagegen hat sich Paulus energisch gewehrt. Für ihn genügte der Glaube an Jesus Christus.

POW: Hat Paulus das jüdische Gesetz generell abgelehnt?

Heininger: Nein, er hat sich gegen diese speziellen Vorschriften ausgesprochen, aber in seiner Ethik hat er typische Positionen eines jüdischen Diasporajuden vertreten, zum Beispiel in der Frage der Ehemoral oder der Homosexualität. Dabei sind auch Vorstellungen der zeitgenössischen Philosophie mit eingeflossen. Sie prägen unsere Moralkodizes noch heute.

POW: Wie politisch sind die Texte des Paulus im 21. Jahrhundert? Als Stichworte seien Amt und Gemeindestruktur genannt.

Heininger: Die katholische Kirche hat sich diesbezüglich von Paulus ein Stück weit entfernt. Die paulinischen Gemeinden kennen noch keine ausgeprägte Ämterstruktur. Erste Entwicklungen dieser Art finden sich lediglich im Philipperbrief. Das Christentum war damals noch in seiner formativen Phase. Für Paulus spielt ein egalitäres Kirchenmodell die größere Rolle. Er betrachtet die Gemeinde als einen großen Organismus, in dem alle Glieder gleich wichtig sind und zusammenarbeiten müssen, damit das Ganze funktioniert. Konkret entwickelt wird das im Bild von der Gemeinde als Leib Christi im ersten Korintherbrief. Jeder hat ein Charisma, eine Begabung, die entfaltet werden muss. Eine Gemeinde, wie Paulus sie sich vorstellt, hat vier Dimensionen: Es gibt kerygmatische (Apostel, Propheten, Lehrer), diakonische (Dienste und Hilfsleistungen), kybernetische (Leitungsdienste) und ekstatisch-pneumatische Charismen (Exorzismen und Heilungen, Zungenrede). Selbstverständlich gilt das alles für Männer und Frauen, Restriktionen für Frauen kommen erst eine Generation später. Man kann es auch anders sagen: Eine Kirche, die ihren „Charme“ behalten beziehungsweise für Außenstehende attraktiv sein will, muss vier Merkmale aufweisen: Sie muss etwas zu sagen haben, muss (Lebens-)Hilfe anbieten, über eine gute Verwaltung verfügen und dem kreativen Element genügend Raum lassen. Dass sie darüber hinaus sensibel ist, das heißt, auf die Nöte der Menschen hört und auf sie zugeht, ist für Paulus selbstverständlich. Für Paulus ist die erste Aufgabe der Kirche der Mensch.

POW: Paulus hat in seinen Briefen immer ganz auf die spezielle Situation der Gemeinde Bezug genommen. Wenn Paulus heute an die Gemeinden in Deutschland schriebe: Was wären die Kerngedanken seines Briefes?

Heininger: Das ist eine schwierige Frage und man kann die Verhältnisse von vor 2000 Jahren auch nicht einfach auf die heutige Zeit übertragen. Manches ist aber strukturell durchaus ähnlich. Paulus hatte es mit einer multikulturellen Gesellschaft zu tun, die von hoher Mobilität geprägt war. Die soziale Bandbreite in seinen Gemeinden war groß. Zahlenmäßig waren die paulinischen Gemeinden sicherlich deutlich kleiner. Insofern sind die Ratschläge, die Paulus einer Gemeinde von 100 bis 200 Personen erteilt, für Gemeinden oder Pfarreiengemeinschaften von – sagen wir – 10.000 Christen, nur bedingt geeignet. Dennoch: Die strukturellen Impulse lassen sich sicherlich übernehmen und vielleicht auch seine Art, Menschen zu motivieren. Vielleicht würde er schreiben: Lasst mehr zu!, also das kreative Element in der Kirche stärken wollen.

POW: Haben Sie einen Tipp für Gläubige, die Paulus besser kennen lernen und verstehen möchten?

Heininger: Seine Briefe lesen. Vielleicht am Anfang nicht unbedingt den Römerbrief, sondern den ersten Brief an die Thessalonicher, der auch der älteste Paulusbrief ist. Dann langsam „steigern“, und den Römerbrief am Ende lesen. Im Übrigen verweise ich auf die zahlreichen und guten Einführungen des Katholischen Bibelwerks zum Thema Paulus.

POW: Stellen Sie sich vor, sie könnten Paulus eine Frage stellen: Wie würde sie lauten?

Heininger: Ich würde ihn fragen, wie er das alles geschafft hat, seine weiten Reisen, seine vielen Gemeindegründungen und vieles mehr. Ohne eine gewisse Besessenheit geht das meines Erachtens nicht.

POW: Bleibt Paulus also auch für einen Exegeten immer ein Rätsel?

Heininger: Er bleibt immer interessant. Paulus war kein systematischer Theologe, sondern denkt stark situativ. Für meine Begriffe entwickelt sich die paulinische Theologie. Daher bleibt sie immer spannend und, wenn Sie so wollen, auch ein wenig rätselhaft.

Interview: Markus Hauck (POW)

(1609/0474; E-Mail voraus)

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