Liebe Frau Kestler, verehrte Angehörige von Dr. Klaus-Peter Kestler, liebe Mitbrüder, werte Trauergemeinde!
„Der letzte dem Menschen unbekannte Kontinent ist bekanntlich der Mensch!“ Dieses Wort des französischen Philosophen Edgar Morin kommt mir zunehmend in den Sinn, seit mich die furchtbare Nachricht vom Tod Klaus-Peter Kestlers sprachlos und hilflos macht, verwirrt und aufwühlt.
Da ist ein hochbegabter Mensch, der als Priester in großer Souveränität vielen zum Lebenshelfer und
-deuter geworden ist, eloquent und streitbar für seine Überzeugung, mit klarem Urteil über die Wirklichkeit, auch die dunkle Wirklichkeit des Lebens, der sich aber vermutlich schwer tat, den eigenen Schwachpunkt anzunehmen und für sich nur noch einen – diesen schrecklichen – Weg zu sehen vermochte. Da ist ein starker Mensch, dem aber in seiner Furcht vor dem vielleicht mit verschuldeten Verlust seiner eigenen Ehre und menschlichen Würde die Kraft gefehlt hat wider die destruktiven Kräfte der eigenen Seele.
Da ist ein Mensch, der allein schon von seinem ärztlichen Ethos her, erst recht als Christ und Priester auf seine Mitmenschen hin orientiert und jederzeit zu Rat und Hilfe bereit und ständig damit zu Gange war. In seinem seelischen Engpass hat ihn offensichtlich der Gedanke nicht mehr erreicht, er könnte mit seinem Tod anderen Menschen Hoffnung und Lebensfreude nehmen, angefangen von seiner gewiss geliebten Mutter über die vom Leben gebeutelten Menschen in seinen Gemeinden bis hin zu jenem Lokführer, der ohnmächtig dem Geschehen zusehen musste, das über Klaus-Peter hereinbrach. Da ist ein Mensch, ein Mann des Glaubens, wofür schon seine eigene Lebensgeschichte spricht, der in einer entscheidenden Stunde seines Lebens sich anscheinend von Gott verlassen fühlte und uns schuldig geblieben ist, was er immer sein wollte – ein Zeuge des Glaubens.
Welch ein Gewebe von Widersprüchen scheint doch ein Mensch zu sein. Selten hat mich etwas so wie der Tod von Klaus-Peter vor die Erkenntnis gestellt, welch ein Rätsel, welch ein Geheimnis doch der Mensch ist, jeder Mensch – selbst für die, die ihn lieben, und die, die meinen, ihn ganz gut zu kennen.
„Was einer ist, was einer war, im Tode wird es offenbar!“ Nein, es wird eben nicht offenbar! Auch der Tod Klaus-Peters bleibt ein Geheimnis. Ist er ein Ausdruck dafür, dass er sein Leben in den letzten Stunden als wertlos angesehen hat, oder meinte er, seine Ehre nur auf diese tragische Weise retten zu können?
War sein Tod ein Aufschrei nach einer Art von Aufmerksamkeit und Zuwendung, die Hochachtung und Respekt nicht ersetzen können, für die er, der sich selbst einmal einen Einzelgänger nannte, aber nicht die Initiative zu ergreifen im Stande war? Wollte er mit seinem Tod echte oder vermeintliche Schuldgefühle gut machen? Oder wollte er mit seinem Tode andere schützen, Menschen, denen gegenüber er sich schuldig fühlte, seine Mutter, die ihm sehr viel bedeutete, seine Kirche, an der er hing, wusste aber nicht mehr den richtigen Weg?
Ist sein Tod ein erschütternder Ausdruck eines mangelnden Vertrauens zu Gott oder hat er gar im Tod den Zugang zu jenem Licht gesucht, von dem er immer wusste, dass es die augenblickliche und jede Finsternis eines Herzens aufzuheben vermag? Also gerade keine Untreue gegen Gott, eher Ausdruck seiner Hoffnung auf ihn – in verkehrten, dem Menschen eigentlich entzogenen Lettern? Fast möchte ich dies vermuten, wenn ich an seine Auseinandersetzung mit dem Tod denke, von der er bei seinem Eintritt in das Priesterseminar sprach, der für ihn gerade nach seinen klinischen Erfahrungen mit dem „grauenvollen Tabu des Todes“ in einem ganz anderen Licht erschien?
Klaus-Peter hat auch das Geheimnis seines Todes mit ins Grab genommen. Die letzte Frage, vor die uns der Tod Klaus-Peters stellt, und zugleich die bedrückendste ist die nach Gott in diesem dramatischen Geschehen: Was bedeutet es unter den Augen Gottes, dass er von der Bühne des Lebens abgetreten ist, dass er meinte, nicht mehr in diesem Leben mit seinen hellen und dunklen Seiten mitzuspielen vermochte? Warum hat Gott, der uns seinen Namen kundgetan hat mit jenem geheimnisvollen: „Der ich je und je da sein werde“, warum hat dieser Gott Klaus-Peter nicht gehalten? Warum hat er ihm keinen rettenden Engel geschickt? Hat er ihn fallen lassen? Warum hat er diesen tragischen Tod zugelassen?
Die Antwort auf diese Frage bleibt uns vorenthalten. Denn mehr als alles andere ist dieser Gott Geheimnis – der ganz Andere, dessen „Gedanken nicht unsere Gedanken und dessen Wege nicht unsere Wege sind“. Doch eines wissen wir von ihm, durch diesen Jesus, seinen Sohn, unseren Bruder verbrieft und von Paulus geradezu eingehämmert: Gott ist „für uns“! Gott ist es, der uns gerecht macht. Nicht wir! Wir sind es nicht und machen es nicht. Wir bleiben nur immer etwas schuldig, uns selbst und andern. Darum möchte ich das wohl glauben und auch für Klaus-Peter glauben: Nichts kann uns trotzdem scheiden von der Liebe Christi, dieser Ikone Gottes in unserer Welt, weder Tod noch Leben, weder jene Mächte, die zwischen Gott und den Menschen verblendend treten können, noch ein Geschöpf, auch wenn wir an ihm oder durch es schuldig geworden sind. Ich möchte mit dem Johannesevangelisten annehmen, was er uns als Erfahrung mit diesem Jesus mitteilt: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass er sie rette.“ Was da in unseren Heiligen Schriften den Lebenden gesagt ist, gilt auch den Toten. Das ist kein Freibrief für eine willkürliche Lebensführung. Aber ich denke, dass Gott viele Möglichkeiten hat, Menschen den Glauben zu schenken, in dem sie ihre Schuld und zugleich seine Gnade erkennen, selbst noch in der Stunde eines so grässlichen Todes.
Ich denke nicht, dass wir hier sitzen, um uns nur diese oder jene, freundliche oder unfreundliche Gedanken zu machen angesichts dieses unbegreiflichen Todes von Dr. Klaus-Peter Kestler. Ich denke, dass wir uns in diesen Tagen bestimmen lassen sollten von diesem Tod. Sonst wäre er tatsächlich umsonst! Diejenigen, die Klaus-Peter geliebt, die ihm nahe gestanden haben, werden lernen müssen und wollen: dass Liebe jetzt Trauer heißt, Trauer, in der wir Abschied nehmen müssen von der gemeinsamen Welt mit ihm, in der wir aber zugleich ein neues Verhältnis zu ihm zulassen. Wir alle aber wollen neu anfangen mit der Liebe, wollen Verfehlungen nicht aufrechnen, Wege zu entdecken suchen, auf denen wir einander näher kommen, wollen den geschwächten und geplagten Menschen Liebe und Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und wir wollen auch Gott Gott sein lassen und uns zugleich in seine Hände geben. Amen.
(4706/1662; E-Mail voraus)