Das Wort des Jahres: Vulnerabilität – Verletzlichkeit
Hätte mich jemand gefragt, welches das Wort des Jahres wäre, dann wäre mir nicht zuerst „Heißzeit“ oder „Funklochrepublik“ eingefallen. Das Wort, das mich in diesem Jahr besonders beschäftigt hat, heißt „Vulnerabilität“. Zu Deutsch „Verletzlichkeit“. Vulnerabilität ist ein Fachbegriff aus dem Kontext der Risikoanalyse. Wer nach der Vulnerabilität sucht, der möchte die Schwachstellen identifizieren, an denen ein System oder eine Institution sich angreifbar macht und verwundbar wird. Die Analyse der Vulnerabilität verfolgt das Ziel, die offenen Flanken zu schließen oder abzusichern.
Vulnerabilität – Risikoanalyse in den unterschiedlichen Lebenswelten
Die Materialforschung, aus der dieser Begriff stammt, untersucht Werkstoffe auf ihre Tragfähigkeit angesichts extremer Belastungen, um sie zu verbessern. Die Militärs sprechen von den „Fenstern der Verwundbarkeit“, die es zu analysieren und zu schließen gilt. Auch die Mediziner, die sich tagtäglich mit Verwundungen konfrontiert sehen, kennen den Begriff der Vulnerabilität. Nur wer um die Verwundbarkeit des menschlichen Körpers und der menschlichen Seele weiß, kann Strategien entwickeln, um mögliche Gefährdungen rechtzeitig zu erkennen und ihnen wirksam zu begegnen. Ebenso ist der Begriff geläufig in Ökonomie, Ökologie und Informatik.
Vulnerabilität und Kirche: der sexuelle Kindesmissbrauch
Die Beschäftigung mit dem sexuellen Kindesmissbrauch hat dazu geführt, dass der Begriff der Vulnerabilität neuerdings auch in der Theologie eine bedeutende Rolle spielt. Und das unter mehreren Aspekten. Im Blick auf die Gruppe der Betroffenen wurde deutlich, dass häufig die Kinder Opfer eines Übergriffes wurden, die besonders verletzlich waren und deshalb der besonderen Fürsorge bedurft hätten. Weil die Täter erkannten, dass ihnen niemand in die Quere kam, fühlten sie sich sicher.
Jenseits der Beziehung von Beschuldigten und Betroffenen wurde deutlich, dass auch die Institution Kirche höchst verletzlich war. Vermeintliche oder wie selbstverständlich angenommene Schutzmechanismen haben versagt. Dazu zählte die Annahme, dass Kinder gut in den Händen von kirchlichen Einrichtungen aufgehoben sind. Dazu zählte auch das Selbstverständnis, sich gerade für die Schwachen und Armen einzusetzen und dementsprechend verantwortungsbewusst mit ihnen umzugehen. Der Begriff von Heiligkeit und Perfektion führte dazu, mit Verfehlungen in den eigenen Reihen nicht zu rechnen und wenn sie denn vorkamen, sie nicht wahrnehmen zu wollen. So galt die erste Aufmerksamkeit eher der Institution Kirche als denjenigen, die durch sie zu Schaden kamen. Dass Macht immer dienende Macht bedeutet, schien unhinterfragt richtig zu sein. Deshalb kam nicht in den Blick, dass asymmetrische Beziehungen für Machtmissbrauch anfällig sind. Mit Schrecken musste man sich schließlich eingestehen, dass selbst Heiligstes missbraucht werden kann wie der Schutzraum der Beichte. Auch die priesterliche Lebensform, die nach außen hin den Eindruck besonderer Sicherheit erweckte, garantierte keinen verlässlichen Schutz.
Weihnachten und Vulnerabilität: Gott macht sich verletzlich
Vielleicht fragen Sie sich jetzt ein wenig genervt, ob der Missbrauch auch noch an Weihnachten thematisiert werden muss und ob es nicht möglich ist, diesem bedrängenden Problem wenigstens über die Feiertage zu entgehen. Ich denke, dass gerade Weihnachten der Ort ist, an dem man über die Verletzlichkeit sprechen kann und sprechen muss. Denn Gott macht sich in seiner Menschwerdung verwundbar. Er wird ein hilfs- und schutzbedürftiges Menschenkind.
„Entäußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt der Schöpfer aller Ding“, heißt es in dem Weihnachtslied „Lobt Gott ihr Christen alle gleich“. Indem er in diese Welt kommt, nimmt er bewusst das Risiko auf sich, verletzt zu werden. Davon handelt die Weihnachtsgeschichte, die vom Kindermord in Betlehem berichtet und von der Flucht der Heiligen Familie. Seit seiner Geburt stellt man dem göttlichen Kind nach und versucht es zu töten.
Verwundbarkeit als Grunddimension des Menschseins
Wenn Gott an Weihnachten Mensch wird und sich angreifbar macht, hat das Rückwirkungen auf das christliche Menschenbild. Das Ideal ist nicht der Supermann, dem niemand etwas anhaben kann. Auch wenn der uralte Traum der Menschheit von der Unverwundbarkeit weiter geträumt wird, ist seit Weihnachten klar, dass die Verwundbarkeit zum Menschsein dazu gehört.
Das ist tröstlich, weil Gott an Weihnachten unsere Schwachheit mit uns teilt. Der Gottmensch Jesus Christus ist eben kein Halbgott, sondern ganz Mensch und damit ganz verwundbar, aber Gott zugleich. Gerade seine Gottheit bürgt dafür, dass er sich aus Liebe ganz auf die Bedingungen unseres Menschseins einlässt. Aber ist es auch beunruhigend. Denn die Tatsache menschlicher Verwundbarkeit wird jetzt zum Auftrag des Christen.
Besondere Sensibilität für die Schwachen
Weil Gott sich aus Liebe zu uns Menschen verletzlich macht, ist der Mensch gerufen, eine besondere Sensibilität für die Schwachen und Verletzlichen zu entwickeln. Es geht nicht nur darum, für diese Menschen etwas zu tun. Es geht nicht um ein – im schlechtesten Fall – herablassendes Dienen. Sondern es geht seit der Menschwerdung Christi darum, aus dem Blickwinkel der Schwachen diese Welt und diese Kirche zu betrachten. Das ist der wahre Sinn der sogenannten Option für die Armen. In dieser Option geht es nicht zuerst darum, die Armen in den Blick zu nehmen, sondern es geht vielmehr darum, aus der Sicht der Armen die Welt zu betrachten. Aus dieser Perspektive wirkt wohlgemeinte Hilfe mitunter wie Bevormundung und Gängelung. Nur das zählt, was nicht nur für, sondern vor allem mit den verletzlichen Menschen auf den Weg gebracht wurde. So nimmt man sie ernst und gibt ihnen ihre Würde wieder, die ihnen zu oft genommen wurde.
Verwundbarkeit als Grundkategorie der Kirche
Im Blick auf die Institution Kirche heißt Verwundbarkeit, dass die Kirche um ihre Fehlbarkeit weiß. Das Konzil formulierte es in der Kirchenkonstitution (Lumen Gentium 8) so: „Während aber Christus heilig, schuldlos, unbefleckt war und Sünde nicht kannte, sondern allein die Sünden des Volkes zu sühnen gekommen ist, umfasst die Kirche Sünder in ihrem eigenen Schoße. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung.“
Einerseits ist die Kirche seit der Menschwerdung Jesu Christi dazu bestimmt, Sakrament des Heils zu sein für die Welt. Andererseits muss sie (neu) lernen, dass sie das nur sein kann, wenn sie immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung geht. Der göttliche Heilsauftrag kann verdunkelt werden durch die Schwachheit von Menschen. „Kirche in Menschenhänden“, formulierte Alfred Delp. „Das Werk Gottes ist Menschenhänden anvertraut und so oft auch Menschenhänden ausgeliefert.“
Die Kirche erweist sich als fragiles Gebilde. Im gleichen Maß wie die Kirche von Gott her geheiligt ist, im gleichen Maß bedarf sie der beständigen Umkehr. Was sie kraft göttlicher Stiftung ist, muss sie im täglichen Vollzug immer neu werden: Werkzeug des Heils für diese Welt.
Sorgfalt, Selbstkritik und Demut ohne endgültige Sicherheit
Das hält an zur Sorgfalt, zur Selbstkritik und zur Demut. Das heißt für mich nicht, dass man einfach alles über Bord werfen muss, was bisher gegolten hat. Aber es heißt sehr wohl, dass die Selbstverständlichkeit, mit der man davon ausgegangen ist, gut zu sein, einer gesunden Skepsis weichen muss. Diese Vorsicht ist die Haltung derer, die wissen, dass es im menschlichen Leben wie im Leben der Kirche keine endgültige Sicherheit gibt, was die irdische Gestalt der Kirche und ihr Wirken anbelangt. Sie muss lernen, sich zu ihrer Verletzlichkeit und Fehlbarkeit zu bekennen. Sie muss lernen, dass unhinterfragte und ungeteilte Macht dazu führen kann, Macht zu missbrauchen. Das anzuerkennen ist keine Schande, sondern eine Gnade. Denn aus dem Impuls der Selbstsicherung und dem Bestreben, fehlerlos dazustehen, erwuchs eine Haltung, die Fehler ausblendet und bagatellisiert.
Heiligkeit heißt, um seine Fehlbarkeit zu wissen
Heiligkeit heißt nicht Perfektion. Die Heiligen sind vielmehr die, die um ihre Fehlbarkeit wissen. Es sind die, die ihre Schwachheit annehmen können, weil Christus uns schwache Menschen angenommen hat. „Weil ich schwach bin, bin ich stark“, sagt Paulus im zweiten Korintherbrief (2Kor 12,10) und fasst damit zusammen, worum es an Weihnachten geht. Dass der Mensch sich nicht selbst überhebt, sondern demütig wird. Seine Größe besteht darin, erlöst mit der eigenen Fehlerhaftigkeit umgehen zu können, ohne sie in falschem Stolz zu leugnen.
Weihnachten als Fest der Verwundbarkeit, die bleibt
An Weihnachten werden die Menschen empfindsam und empfindlich. Die Hoffnung auf Erlösung bringt es mit sich, das Unerlöste im eigenen Leben, in der Welt und in diesem Jahr auch das Unerlöste in der Kirche besonders schmerzlich wahrzunehmen. Und das ist gut so. Denn in der Menschwerdung Jesu Christi wurde das „Fenster der Verwundbarkeit“ nicht geschlossen, sondern geöffnet und offen gehalten.
Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst
Im Bewusstsein der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit knien wir in diesem Jahr als Kirche an der Krippe nieder. Wir staunen über den Mut Gottes, seine Kirche schwachen Menschen anzuvertrauen. Und wir freuen uns, dass die Verheißung aus dem Johannesevangelium an Weihnachten aufs Neue bekräftigt wird: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,5).
Das göttliche Licht, das von dem Kind in der Krippe ausgeht, kann durch kein menschliches Fehlverhalten zum Erlöschen gebracht werden. Es leuchtet uns voll Gnade und Wahrheit. Voll Gnade, weil Gott kommt, um die Macht der Sünde zu brechen. Voll Wahrheit, weil es die Kirche dazu ruft, sich ungeschminkt der eigenen Wahrheit zu stellen und im Blick auf den umzukehren, der die Wahrheit selbst ist. So beten wir mit Paul Gerhard und seinem Lied „Ich steh an deiner Krippe hier“ stammelnd und voll Freude zugleich:
Ich lag in tiefster Todesnacht,
du warest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht
Licht, Leben, Freud und Wonne.
O Sonne, die das werte Licht
des Glaubens in mir zugericht’,
wie schön sind deine Strahlen!