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Reportage

Holunder- oder doch Kräuterlimonade?

Selbstversuch: Ein Abendessen in der Dunkelheit – Dunkelcafé im Kilianeum macht den Alltag blinder und sehbehinderter Menschen erlebbar

Würzburg (POW) Vor mir steht ein vegetarisches Schnitzel mit Pommes, dazu Ketchup und Mayo. Normalerweise wäre mir beim Servieren schon das Wasser im Mund zusammengelaufen. Doch es gibt ein Problem: Ich sehe mein Essen nicht. Um mich herum ist es stockdunkel. Meine Kollegin Anna-Lena Ils und ich besuchen das Dunkelcafé im Kilianeum-Haus der Jugend in Würzburg, eine Aktion der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) in Kooperation mit dem Café Dom@in. Dort können Besucherinnen und Besucher sich in die Lebensrealität blinder und sehbehinderter Menschen hineinversetzen.

In einem Vorraum gewöhnen wir uns langsam an die Dunkelheit. Thorsten Langner, Jugendbildungsreferent der DPSG für Inklusion, organisiert die Aktion. „Wenn ihr Angst bekommt, euch schwindlig wird oder sonstige Schwierigkeiten auftreten, meldet euch und ein Teamer kümmert sich um euch“, erklärt er. Dann öffnet er die Tür zum Café.

Dort höre ich die Stimme von Jutta Neddermeyer (66). Durch eine Antibiotika-Unverträglichkeit haben sich ihre Augen entzündet. Mit 38 Jahren ist sie dadurch erblindet. Sie ist eine der Teamer, die sich im Dunkelcafé um die Gäste kümmern. Außer ihr sind noch zwei weitere sehbehinderte Menschen im Raum, die die Besucherinnen und Besucher zu ihren Plätzen führen und sie bedienen. Neddermeyer hat eine tiefe, raue und freundliche Stimme. Sie erklärt uns genau, was passiert. Zuerst bilden wir eine Kette: Ich fasse Anna-Lena an den Schultern und Neddermeyer nimmt ihre Hand. Die ersten Schritte in der Dunkelheit sind schwierig. Ich habe den Impuls, meinen Kopf einzuziehen, und denke, ich stoße gleich irgendwo dagegen. Aber dieser Impuls legt sich nach wenigen Augenblicken. „Bei uns bleiben wir auf dem Teppich“, scherzt Neddermeyer. Ich spüre unter meinen Füßen einen Stoff. Dieser Teppich führt zu den Tischen im Raum. Die Tische sind mit Nummern aus Holz markiert, sodass die Teamer sie finden können. Neddermeyer führt unsere Hände zu den Stuhllehnen, danach ist es leicht, sich hinzusetzen. Anschließend fragt sie uns, was wir trinken und essen möchten.

Die Vorbereitung ist für Langner und sein Team jedes Jahr wieder eine Herausforderung: „Es ist sehr, sehr aufwendig, weil Licht unglaublich gemein ist. Früher war es immer so, dass man das im Herbst gemacht hat, wo es früher dunkel geworden ist. Jetzt haben wir es durch Corona zeitlich nicht geschafft und haben gedacht, wir machen es nach Ostern, wo es noch nicht so lange hell ist. Aber es ist jetzt schon sehr, sehr hell.“ Das Abdunkeln des Cafés dauert laut Langner mehrere Tage. Aber der Aufwand hat sich gelohnt. Ich kann kein bisschen Licht wahrnehmen. Obwohl ich vorher für Pressefotos bei Licht im Raum war, kann ich nicht sagen, wie weit wir gegangen sind und wo unser Tisch genau steht. Wir ertasten, dass der Tisch rechteckig ist, die Sitzflächen rund sind und es keine Tischdekoration gibt. Eigentlich dachte ich, dass ich in der Dunkelheit andere Sinne viel intensiver wahrnehme. Doch es ist alles wie immer. Ich höre zwar, dass sich die anderen Menschen im Raum unterhalten, aber nicht, was sie sagen. Auch den Geruch des Essens, der aus der Küche strömt, nehme ich nur leicht wahr.

Neddermeyer ruft in den Raum: „Tisch 6, wo seid ihr? Könnt ihr mal klopfen?“ Wir klopfen leise auf den Tisch, damit sie uns finden kann. Neddermeyer stellt die Getränke auf den Tisch und wartet, bis sie eine Berührung an der Flasche spürt, dann lässt sie los. So kann sie sicher sein, dass die Gäste die Flaschen fest in der Hand halten. Wir haben uns zwei Limonaden bestellt, allerdings wissen wir nicht welche Sorten. Das versuchen wir jetzt zu erraten. Ich lege mich schon nach dem ersten Schluck auf Holunder fest und Anna-Lena glaubt, dass sie eine Kräuterlimo trinkt.

Was das Essen angeht, hat Anna-Lena die geschicktere Wahl getroffen. Sie kann ihr Chili con Carne einfach löffeln. Bei meinem Veggie-Schnitzel ist das schwieriger. Wo liegen die Pommes, wo das Schnitzel, wo Ketchup und Mayo? Das Konzept von Messer und Gabel werfe ich schnell über Bord und ertaste meinen Teller mit den Händen. Beim Schnitzel packt mich aber doch der Ehrgeiz. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass ich sogar zwei Schnitzel vor mir liegen habe. Ich will sie mit dem Besteck zumindest in grobe Teile stückeln. Als ich einen großen Bissen vom Schnitzel mit der Gabel zum Mund führe, verabschiedet es sich allerdings mit dem Ketchup auf meine Hose und von dort in die Dunkelheit. Mist!

Bei meinem Geschmackssinn frage ich mich doch, ob ich ihn intensiver wahrnehme. Die Pommes schmecken sehr gut gewürzt und kross. Die Mayo ist beim Probieren sahniger und das Ketchup saurer, als ich es in Erinnerung habe.

Neddermeyer kommt ab und zu vorbei und fragt, ob alles in Ordnung ist. Ziel der Aktion ist, dass die Teamer beim Bedienen auch genügend Zeit haben, mit den Gästen über ihre Behinderung zu sprechen. „Augen zu und durch. Warum soll ich rumheulen?“, ist Neddermeyers Einstellung dazu. Sie erzählt uns zum Beispiel, wie sie im Alltag zum Bäcker geht. Ihre Wohnung liege in der Nähe einer Bäckerei. Um über die Straße zu kommen, bitte sie Menschen um Hilfe. Danach finde sie selbstständig zum Bäcker, da sie riechen könne, wo sich das Gebäude befindet. Ihr gefällt an der Aktion, dass man offen und ehrlich über alles reden könne. Ganz wichtig ist ihr: „Wir Blinden und Sehbehinderten wollen kein Mitleid, wir wollen Verständnis.“

Ich fahre immer wieder mit der Gabel über meinen Teller und freue mich jedes Mal, wenn ich mir noch ein Stück Pommes oder Schnitzel angeln kann. Anna-Lena ist schon lange fertig und irgendwann kann auch ich auf meinem Teller nichts mehr erfühlen. Neddermeyer räumt unsere Teller ab und wischt meine Schnitzel-Kleckerei weg. Wir verlieren jedes Zeitgefühl. Für das Abendessen im Dunkelcafé gibt es zwei Zeitfenster. Neddermeyer erklärt, dass bald die zweite Schicht an der Reihe ist. 20 Menschen haben dort einen Platz reserviert. Deshalb wird es für uns nun Zeit, das Café zu verlassen. Mit Neddermeyers Anleitung bilden wir wieder eine Kette und gehen zur Tür. Im Vorraum gewöhnen wir uns nun an die Helligkeit. Das Tageslicht wirkt auf einmal unglaublich grell.

Als Erstes überprüfen Anna-Lena und ich unsere Getränkesorten. Wir haben genau falschrum geraten. Anna-Lena hatte Holunder und ich Kräuter.

Vincent Poschenrieder (POW)

(1723/0476; E-Mail voraus)

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