Nairobi/Münsterschwarzach/Erlach (POW) Seit 1962 wirkt Professor Dr. Ingbert Klinger (73) in Ostafrika. Der aus Erlach bei Ochsenfurt stammende Münsterschwarzacher Missionsbenediktiner lehrte zunächst am Priesterseminar in Peramiho in Tansania Philosophie und wechselte 1979 an das Institut für Philosophie in Nairobi/Kenia. Später lehrte er Philosophie an der Katholischen Universität in Nairobi, wo er bis heute wirkt. Der unterfränkische Missionar gilt als hoch angesehener Philosoph Ostafrikas.
POW: Professor Klinger, Sie beschäftigen sich mit Gotteslehre. Was ist wichtig, wenn ein Afrikaner über Gott spricht?
Professor Dr. Ingbert Klinger: Sie werden entschuldigen, wenn ich zuallererst Ihre Frage auf die gegenwärtige Situation in Afrika abändere: Was ist wichtig, wenn ein Afrikaner, der noch tief in seiner Tradition verwurzelt ist, über Gott spricht? Wenn ich mit diesem Menschen spreche, weiß ich, dass Gott ihm in seinem Leben und in allem, was geschieht, gegenwärtig ist. Alle Experten sind sich einig, dass der lebendige Glaube dieses Afrikaners sich in spontanen Ausrufen, Sprichwörtern und Segenswünschen kundtut. Der meist wiederkehrende Ausruf ist „Gott ist groß“ (Mungu Mkuu). Wenn immer etwas Schönes geschieht, besonders das Unerwartete, sagt dieser Mensch: „Gott ist groß“. Der Segenswunsch, den der in seiner Tradition lebende Mensch immer wieder und spontan und aus der Tiefe seines Seins kommend spricht, ist „Gott segne Dich“ (Mungu akubariki).
POW: Welche Ihrer persönlichen Erlebnisse untermauern dies?
Klinger: Viele Jahre lang musste ich täglich vom Sitz meiner Gemeinschaft auf dem Berg 40 Kilometer zur Universität fahren. Wenn es regnete und ich eine Mutter mit Kindern oder eine ältere Person am Straßenrand gehen sah, hielt ich an und lud sie ein. Beim Aussteigen – das wusste ich – kam es dann: „Möge Gott Dich segnen“. Der tiefe Klang dieser Worte rieselte wie ein sanftes Licht durch mich hindurch. Ich wusste: Der Tag ist gelaufen. Eigentlich könnte ich zurückfahren. Einmal, auf der Heimfahrt, sah ich am Straßenrand eine größere Gruppe von Leuten. Es sah komisch aus. Vier Männer trugen mit zwei Stangen einen Stuhl auf ihren Schultern. Darauf saß ein Kranker. Schnell begriff ich: Das ist ein sehr kranker Mensch. Ich hielt in ihrer Nähe an und gab ein Zeichen: „Wohin geht Ihr?“ – „Zum Kenyatta Hospital.“ – „Da kann ich Euch helfen.“ Spontan kam der Ausruf: „Gott ist groß.“ Die Begegnungen zeigen mir: Dem noch in seiner Tradition lebenden Menschen in Afrika ist Gott nahe. Wenn der christliche Glaube diesem Menschen Jesus Christus als den „Sohn Gottes“ und den „barmherzigen Heiland“ nahe bringt, dann kann dieser Mensch ein erstaunlich tiefer Christ werden.
POW: Was ist wichtig, wenn ein junger Mensch in Afrika über Gott spricht?
Klinger: Haben wir schon in Europa den krassen Gegensatz zwischen Alt und Jung, so ist dieser in Afrika noch unvorstellbar größer. Der Einfluss der Medien, die moderne Musik, die in Afrika wohl noch tiefere Wirkung ausübt, die „Sucht“ nach Bildung – das Zauberwort für junge Menschen –, die Nacht in der Diskothek, die liberalen Theorien im Unterricht und vieles mehr: all das hat eine unvorstellbare Wirkung auf den jungen Menschen. Über 40 Jahre habe ich ernsthaft versucht, mit jungen Menschen zu philosophieren. Mein Hauptfach war „Natürliche Gotteslehre“. Als Hilfe für meine Studenten, sowohl zukünftige Priester als auch andere von verschiedensten Fakultäten, habe ich die Hauptgedanken veröffentlicht. Der Titel sagt alles: Philosophie, Wissenschaft und Gott. Wie auf der ganzen Welt – relativ von Land zu Land verschieden – haben die eben genannten Faktoren die jungen Menschen geprägt. In Afrika ist der tiefe Glaube am Schwinden. Das Zauberwort ist auch hier Wissenschaft. Dabei wird diese Wissenschaft nicht selten als gottfeindlich dargestellt.
Immer wieder treffe ich frühere Studenten und diese sind immer dankbar. Zuerst mache ich ihnen klar, dass Gott kein „Ding“ ist, das man beweisen kann. Zugleich aber zeige ich auf, dass wir für unseren Gottesglauben gute Gründe entdecken können: die messianischen Prophetien; die Schönheit und Ordnung der Natur, die nicht so sehr von Denkprozessen als vielmehr intuitiv wahrgenommen wird – wie alle schönen Künste; die ethische Ordnung wurzelnd im menschlichen Gewissen; der Urgrund und Ursprung aller Wahrheit (und Liebe). Wenn wir bedenken, wer Gott ist, dann versuche ich die Analogie anzubieten. Wenn immer wir fragen, wer Gott ist, dann ist die Antwort immer mit Bezug auf das Geschaffene gegeben. Philosophisch werden wir nie wissen, wer Gott in sich selbst ist. Gott, in sich selbst, bleibt uns hier auf dieser Erde unbegreifbar. Im ersten Kapitel des Buches gebe ich das Zeugnis von großen Menschen wieder, wie sie Gott erfahren haben. Dabei lernen wir vor allem die inneren Bedingungen (Gestimmtheiten) der menschlichen Person kennen, ohne welche alles Nachdenken über Gott für diese Person fruchtlos bleibt: Liebe zur Wahrheit, Innerlichkeit, Ehrlichkeit.
POW: Wie sollte eine Afrikanische Theologie aussehen? Was ist für die Weiterentwicklung der Theologie in Afrika wichtig?
Klinger: Jede Theologie, ob in Afrika, Europa, Asien und Amerika, muss in meinen Augen zuerst und zutiefst biblische Theologie sein. Das Wort Gottes muss das Zentrum jeder Theologie sein. In diesem Sinn ist Theologie theozentrisch und christozentrisch. Es ist Gott, der die Initiative ergreift. Er erschafft uns. Er ruft Abraham. Er sendet seinen eingeborenen Sohn, das Wort, das Fleisch wird. Er bietet uns seinen Bund an. In den Sakramenten und in seinem Wort wirkt er unser Heil. Er wird uns auferwecken am Jüngsten Tag. Ein sehr wichtiger Schritt war die Herausgabe einer „African Bible“, an der sachkundige Theologen mitgearbeitet haben.
Der transzendentale Ansatz zur Theologie – beispielsweise bei Rahner und Lonergan – geht vom konkreten Menschen aus, der immer entweder in der Gnade Gottes lebt oder sich ihr verschließt. Hier ist der Punkt, wo Afrikanische Theologie entstehen kann. Hier liegt auch der Knotenpunkt von Afrikanischer Philosophie und Theologie. Ein Kernstück Afrikanischer Philosophie ist das Verständnis der „Person“. Während Europa die menschliche Person zu allererst als Individuum gesehen hat, war in Afrika der Mensch als gemeinschaftsbezogenes Wesen verstanden. Dieser Personbegriff gibt wertvolle Hilfe zum Zugang zur Trinität. „Salus in communitate“ (Heil in Gemeinschaft) wird vom afrikanischen Person-Begriff sehr leicht verständlich. Auch die Feier der Liturgie als ein Tun der Gemeinschaft (Kirche) ist dem afrikanischen Menschen wesenseigen. Ein weiterer Aspekt, den der transzendentale Zugang zur Theologie in Afrika mit sich bringen kann, ist das Sprechen und Denken in konkreter und oft allegorischer und bildhafter Weise. Man sagt, Afrikaner seien nicht gut in Mathematik und Logik. Das ist teils richtig, aber größerenteils falsch. Sobald dem Menschen hier konkrete Denkinhalte angeboten werden, kann er außerordentlich „exakt“ sein – ohne diese konkreten Denkinhalte ist er oft hilflos.
POW: Stichworte Inkulturation und globale Welt …
Klinger: Was Inkulturation angeht, so ist vor allem in der Liturgie viel geschehen. Besonders der Gesang in der jeweiligen Sprache und vor allem im afrikanischen Rhythmus und in der afrikanischen Melodie, zusammen mit passenden Tanzweisen, hat die Liturgie den Menschen näher gebracht. Im Bereich der Theologie (Dogmatik) bewegen sich die Dinge langsam. Professor Nyamiti an der Katholischen Universität von Nairobi hat eine Reihe von teilweise interessanten Artikeln über die „Ancestor-Theologie“ geschrieben. Darin wird Christus als der „Große Ahne“ (Ancestor) verstanden. Dann wird der Begriff „Ancestor“ in den Bereich der Trinität eingeführt. Hier wird alles delikater. Wenn wir Inkulturation ausschließlich als Einbetten der christlichen Botschaft in die afrikanische Tradition verstehen, dann haben wir einen anderen Aspekt der Inkulturation vergessen, das heißt, die Einbettung unseres Glaubens in die Welt der Jugend. Die Jugend Afrikas tanzt die modernen weltweiten Tänze und lässt sich die ganze Nacht mit solchen Melodien voll saugen. In der Liturgie liebt sie Gitarre und Saxophon und moderne Melodien. Von der Grundschule und Hauptschule, vom Gymnasium bis zur Universität wird für den jungen Menschen die Wissenschaft zum Ideal. Zum Ideal auch deswegen, weil die Bildung der Weg zum Fortschritt ist. Wie müssen wir darauf reagieren? Bei der Neuauflage meines Buches über „Philosophie, Wissenschaft und Gott“ habe ich ein neues Kapitel eingeschoben. Nach der Erörterung von „Schöpfung und Vorsehung“ habe ich das Kapitel über „Schöpfung und Evolution“ eingearbeitet. Ich bin der Ansicht, dass dieser neue Aspekt der Inkulturation des Glaubens in die moderne Welt der Wissenschaft und Technologie inzwischen wichtiger geworden ist als die Inkulturation des Glaubens in die Tradition.
POW: Sie schreiben ein Buch über den Atheismus. Wie sehen Sie den Atheismus des 21. Jahrhunderts und wie sollte die Kirche damit umgehen?
Klinger: Wir müssen zwischen dem Philosophischen oder Theoretischen Atheismus und dem Praktischen oder Pragmatischen Atheismus unterscheiden. Der letztere lässt sich am besten als Indifferentismus bezeichnen. Natürlich ist diesem Indifferentismus der Philosophische oder Theoretische Atheismus vorausgegangen. Darum zeige ich in drei Kapiteln die Entwicklung vom 16. und 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart auf: ein zunehmender Rationalismus, ein zunehmender Empirizismus, eine zunehmende Subjektivierung der Erkenntnis. Alle drei Entwicklungen haben zu einem jeweils spezifischen Atheismus geführt. Ohne diese Entwicklungen zu verfolgen, ist es unmöglich, den Philosophischen Atheismus der Gegenwart zu verstehen. Sachlich und fachlich mit diesem Atheismus umzugehen, ist nicht die größte Herausforderung.
Für den Glaubenden und für die Kirche ist der Indifferentismus die große Herausforderung; denn diese geht unser Leben an. Wie müssen gegen den Strom schwimmen. Die Medien, Fernsehen, Videos, Internet und vieles mehr zeigen schon dem jungen Menschen, ja schon dem Kind, eine sehr oft gottfeindliche Welt. Die Werteordnung wird im jungen Menschen von Grund auf durcheinander gebracht. Die Ansprüche der Menschen werden zunehmend höher. Denken wir nur an Urlaub und Urlaubsziele. Oft nimmt das Fernsehen den Menschen kostbare Zeit: der Ruhe, des Lesens, des Gesprächs, des Gebetes. Unser Wohlstand hat uns oft zu seinen Sklaven gemacht.
POW: Welche Heilmittel empfehlen Sie?
Klinger: Der Mensch sollte immer wieder Ruhe und Stille suchen. Wichtig ist die Bereitschaft für ein tieferes Gespräch. Wir dürfen keinem Minimalismus verfallen, beispielsweise den Sonntagsgottesdienst auf höchstens 40 bis 50 Minuten begrenzen. Darüber hinaus gilt es, karitativ und sozial tätig zu sein.
(4107/1397; E-Mail voraus)
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