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„Jeder Mensch ist gleich wertvoll“

Familie Glaser hat sich bewusst für ein Pflegekind mit Behinderung entschieden

Thulba (POW) Sommer 1996. Marion und Michael Glaser wohnen in einem schmucken Haus in Thulba und mit den beiden Kindern Philipp (8) und Kathrin (7) ist auch das Familienglück perfekt. Weil sich das Ehepaar noch ein drittes Kind wünscht, denkt es aufgrund der positiven Erfahrungen guter Freunde über ein Pflegekind nach. Beim Ausfüllen des Bewerbungsbogens vom Jugendamt kommt dann die Frage auf, ob die Familie auch ein Kind mit Behinderung aufnehmen würde. Glasers kreuzen kurzerhand Ja an, denn „Kinder kann man schließlich nicht aus dem Katalog bestellen“.

Wenig später ist es so weit: Am 13. Dezember 1996 fährt die Familie ins Krankenhaus Fulda, wo ihr die fünf Monate alte Selina vorgestellt wird – laut Arztbericht ein „fittes Mädchen mit Down-Syndrom, das mit viel Geduld und regelmäßiger Förderung alles erlernen kann“. Zehn Tage hat die Familie Zeit, um sich zu entscheiden und auf den Einzug des Babys vorzubereiten. „Wir haben uns über das Down-Syndrom informiert, Bekannte besucht, die ein charmantes, relativ selbständiges Down-Kind haben, und uns dann aus dem Bauch heraus für Selina entschieden“, berichtet Marion Glaser.

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„Der Start war wunderbar“, erinnert sie sich zurück – obwohl Philipp und Kathrin anfangs etwas skeptisch gewesen seien. Doch in den darauffolgenden Monaten wurde den Glasers bewusst, dass Selina gehörlos ist, und nach etwa einem Jahr war klar, dass Selina zu den „schwachen“ Down-Syndrom-Kindern mit Mehrfachbehinderung gehört. „Den Boden unter den Füßen weggezogen“ habe ihnen diese Erkenntnis nicht. „Unser Vorteil war, dass wir die Entscheidung bewusst getroffen haben“, sagt Marion Glaser. Schon immer habe sie außerdem „großes Gottvertrauen“ gehabt: „Es kommt wie es kommt, und es ist gut so!“

Leicht waren die darauffolgenden Jahre trotzdem nicht: Erst mit drei Jahren konnte Selina sitzen, mit fünf begann sie zu laufen. Bis heute ist Selina inkontinent, zeigt auto-aggressives Verhalten und hat einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus. Als sich 2001 unverhofft noch einmal Nachwuchs ankündigt, bringt das die Familie an den Rand der Belastbarkeit: „Ich hatte Angst, noch ein behindertes Kind zu bekommen und dann keinem meiner vier Kinder mehr gerecht werden zu können“, sagt Marion Glaser. Doch Sohnemann Tim kam gesund zur Welt, und schon bald erwies sich der kleine Knirps als „unser großes Glück“, denn „der hat nach einem ganz normalen Leben geschrien“, lacht die mittlerweile zweifache Oma.

Das „ganz normale Leben“ ist es denn auch, was die Familie auch in schwierigen Momenten für ihre Aufgabe gestärkt hat. Von Anfang an habe das Haus offen gestanden: Die Kinder konnten zu jeder Tages- und Nachtzeit Freunde mitbringen, der Kühlschrank war immer voll, es gab stets ein Bett für spontane Gäste. „Es muss sich nicht alles um Selina drehen. Jeder soll das tun können, was ihm wichtig ist. Denn: Jeder Mensch ist gleich wertvoll“, begründet Marion Glaser.

Eine weitere Grundmaxime sei es, „sich vorbehaltlos auf jeden Menschen einzulassen und ihn da abzuholen, wo er ist, und nicht da, wo man ihn haben will“. Für Selina bedeutet das, dass sie zunächst die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) und dann die Katharinenschule der Lebenshilfe Schweinfurt besucht hat. Jetzt verbringt sie fünf Tage pro Woche in der Nüdlinger Werkstatt, einer Einrichtung zur Förderung und Betreuung erwachsener Menschen.

Dass sich Glasers vor über 23 Jahren für ein Kind mit Behinderung entschieden haben, können viele Menschen nicht verstehen. Auch offene Ablehnung schlage ihnen immer wieder entgegen – wenn Marion Glaser beim Einkaufen abschätzig beäugt oder auf dem Spielplatz gefragt werde, ob sie während der Schwangerschaft getrunken habe oder nicht gewusst habe, dass ihr Kind eine Behinderung habe. Äußerungen wie diese machen Marion Glaser fassungslos. Wieder andere Menschen bringen ihr große Bewunderung entgegen – doch auch das hört sie nicht gerne. „Keine Last, sondern ein Geschenk“ sei Selina für die Familie: „Selina nimmt uns so an, wie wir sind. Sie strahlt, sie fordert nicht, macht keine Vorwürfe, nimmt die Dinge so, wie sie kommen, und lebt im Jetzt.“

Hinzu komme, dass die Familie gute Wegbegleiter hatte. Der Erziehungsbeistand vom Jugendamt, der stets für Sorgen und Probleme ansprechbar war und immer wieder neue Impulse gegeben hat, gehört ebenso dazu wie ein befreundeter Heilerzieher, mit dessen Hilfe das Elternpaar regelmäßig für Auszeiten für sich selbst sorgt.

Ein wichtiger Kraftquell seien auch die Freizeiten des Familienbunds der Katholiken (FDK) für Familien mit einem Kind mit Behinderung. „Man stärkt sich gegenseitig, lacht über Bemerkungen, über die man allein vermutlich geheult hätte, bekommt Anregungen und Tipps.“ Über den Familienbund wurde Marion Glaser auch auf das Internetportal „intakt.info“ aufmerksam. Neben fundierten Fachbeiträgen zum Thema Down-Syndrom findet sie dort bis heute regelmäßig Antworten auf spezielle Fragen und Probleme. „Über die Community profitiere ich von den Erfahrungen anderer und sehe, welche Möglichkeiten es noch gibt“, sagt Marion Glaser. Auch für die Suche nach einem geeigneten Wohn- und Betreuungsplatz für Selina wird die Familie auf die umfangreiche Datenbank des Internetportals und die Erfahrungen anderer Familien zurückgreifen. „Offenheit, Information und Vernetzung sind alles“, betont Marion Glaser und berichtet deshalb gerne beim Familienforum zum „intakt“-Neustart aus dem Familienleben mit Behinderung.

Anja Legge

(1020/0258; E-Mail voraus)

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