Liebe Soldatinnen und Soldaten,
liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Die Tapferkeit der ukrainischen Streitkräfte und Zivilbevölkerung
Seit der furchtbare Krieg Russlands gegen die Ukraine tobt, ist es die ungeheure Tapferkeit der ukrainischen Verteidiger, der Streitkräfte wie der Zivilbevölkerung, die mir und vielen anderen Zeitgenossen alle Bewunderung abringt. Eine Tapferkeit, mit der die Aggressoren offenbar nicht gerechnet hatten. Eine Tapferkeit, die sich speist aus dem unbedingten Willen, fremder Gewalt nicht nachzugeben und das, was man sich mühsam aufgebaut und erarbeitet hat, um jeden Preis zu verteidigen.
Aus diesem Grund lohnt es sich, über die Tapferkeit nachzudenken. Sie gehört nach der ältesten Überzeugung der kirchlichen Lehrer zu den vier Grundtugenden, die die Grundlage jedes wahrhaft menschlichen Lebens bilden. Diese vier Grundtugenden oder Kardinaltugenden sind Klugheit, Gerechtigkeit, Maßhalten und Tapferkeit. Alle vier Tugenden sind immer nur zusammen zu haben und bürgen nur gemeinsam für ein sinnvolles Leben. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Die Tapferkeit als Tugend
Tapferkeit ist also eine Tugend. Das ist eine erste wichtige Feststellung. Tapferkeit wird damit nicht als plötzliche Gefühlswallung beschrieben, sondern sie wird unter die Tugenden gezählt. Tugend aber ist alles andere als eine momentane Eingebung. Eine Tugend ist vielmehr eine innere Geisteshaltung, die ein Mensch sich zu eigen macht und die er einübt, bis sie ihm zur zweiten Natur wird. Eine Tugend dient dazu, das Gute mit einer gewissen Leichtigkeit zu tun. Durch die Tugend werden nicht nur einzelne Handlungen des Menschen gut, sondern der Mensch selbst wird gut und er beginnt, ein gutes Leben zu führen.
Die Tapferkeit ist in dieser Welt notwendig, weil sich das Gute erfahrungsgemäß nicht einfach von selbst durchsetzt
Die Tugend der Tapferkeit ist notwendig, weil wir erfahren, dass sich das Wahre und das Gute nicht einfach von selbst einstellen. Um beides muss immer gerungen werden, in unserem eigenen Leben, aber auch in der Gesellschaft und in der Welt. Der Tapfere macht es sich zur Aufgabe, dem Guten zum Sieg zu verhelfen.
Das setzt allerdings voraus, dass der Tapfere über Klugheit verfügt. Denn nur wer klug ist, erkennt auch, was gut ist und wofür sich der Einsatz wirklich lohnt. Die Tugend der Tapferkeit ist also von der Tugend der Klugheit nicht zu trennen. Nur so ist gewährleistet, dass der Mensch sich für ein gerechtes Ziel verwendet.
Wer weiß, welches Gut er verteidigt und für welche Wahrheit er antritt, der ist im Ernstfall im Vorteil. Das zeigt sich momentan auch im Krieg in der Ukraine. Die Ukrainer wissen sehr genau, wofür sie kämpfen, was sie verteidigen und für welche Werte sie einstehen. Das verleiht ihrem Abwehrkampf eine innere Motivation, über die die Aggressoren nicht verfügen.
Die Tapferkeit ist kein Selbstzweck
Damit ist auch gesagt, dass Tapferkeit kein Selbstzweck ist. Wo die Tapferkeit verherrlicht wird und als Ideal gepriesen wird, ohne dass dazugesagt wird, wofür gekämpft wird und ob dieses Ziel auch wirklich gut ist und den Einsatz lohnt, droht höchste Gefahr. Denn dann erzieht man empfindungs- und gewissenlose Kampfmaschinen, die zum Töten abgerichtet werden. Das hat aber mit der Tugend der Tapferkeit nicht das Geringste zu tun.
Das zu betonen ist wichtig, weil mit der Verherrlichung der Tapferkeit in allen Diktaturen furchtbares Unheil angerichtet wurde. Zu oft wurden Menschen dazu gedrillt, ihr Leben auf Befehl zu riskieren für schlechte Zwecke. Dieser Tatbestand hat die Tapferkeit nachhaltig in Misskredit gebracht. Wir sind in dieser Beziehung seit der Erfahrung der Nazidiktatur gebrannte Kinder. Nein, Tapferkeit darf nie Selbstzweck sein. Sie ist kein Wert an sich. Sie wird nur dann eine Tugend, wenn sie dazu dient, einzig und allein dem Guten zum Sieg zu verhelfen.
Tapferkeit erwächst aus gerechtem Zorn
Insofern hängt die Tapferkeit auch mit dem Zorn zusammen, genauer mit dem gerechten Zorn. Der gerechte Zorn ist dabei zu unterscheiden von einem unkontrollierten Zornausbruch, der sich blindwütig austobt.
Die Tapferkeit ist aber alles andere als blindwütig. Tapferkeit ist hellsichtig. Sie stellt sich dann ein, wenn ich sehe, wie ein Gut mit Füßen getreten wird und wie offenkundig Unrecht geschieht. Der gerechte Zorn lehnt sich gegen dieses Unrecht im Inneren auf. Insofern ist also auch die Tugend der Gerechtigkeit und das Gerechtigkeitsempfinden des Menschen mit der Tapferkeit verbunden. Denn der Tapfere setzt sich dem Unrecht beherzt entgegen, weil er es zutiefst verabscheut und weil er den Rechtsbruch und die Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen gedenkt.
Tapferkeit und Maßhalten gehören zusammen
Nicht zuletzt hat Tapferkeit auch mit der Tugend des Maßhaltens zu tun. Denn in seinem Einsatz für das gute Ziel und die gerechte Sache wahrt der Tapfere das rechte Maß. Er lässt sich durch das Böse nicht zum Bösen hinreißen und Unrecht mit Unrecht vergelten. Vielmehr müht sich der Tapfere um maßvolles Handeln, vermeidet unnötige Opfer und greift auch nicht zu unlauteren Mitteln.
Er weiß um die Gefahr, die von der Gewalt ausgeht, die immer dazu neigt, in Gewaltexzesse auszuarten und über das Ziel hinauszuschießen.
So aber wird das Gute, das zu verteidigen man angetreten ist, durch schlechtes Handeln zutiefst beschädigt. Tapferkeit braucht Maßhalten.
Tapferkeit heißt nicht Furchtlosigkeit
Tapferkeit heißt nicht Furchtlosigkeit. Gerade der Tapfere fürchtet sich, weil er weiß, dass er verwundbar ist. Ohne Verwundbarkeit wäre die Tapferkeit nicht nötig. Der Tapfere ist nicht furchtlos. Er weiß, dass er im Kampf verwundet oder gar getötet werden könnte. Aber mehr als körperliche Versehrtheit fürchtet der Tapfere, das Gute nicht getan zu haben und vor der scheinbaren Übermacht des Bösen zu kapitulieren.
Es geht also um die richtige Furcht. Das wird im Leben immer ein Abwägungsprozess sein und bleiben. Sorge ich zunächst für meine eigene Sicherheit? Oder sorge ich mich um andere Menschen und um die Verwirklichung höherer Werte?
Der Tapfere, der sich für ein gutes Ziel verwendet, hat eine Entscheidung getroffen zugunsten eines höheres Ziels, das unter Umständen auch Gefahr für seinen eigenen Leib und sein Leben mit sich bringt.
Tapferkeit ist nicht zu verwechseln mit der Tollkühnheit
Das ist jedoch abzugrenzen von der Tollkühnheit. Denn der Tollkühne oder der Draufgänger handelt unüberlegt und setzt sein Leben ohne Grund aufs Spiel. Das erleben wir öfters bei Extremsportarten, bei denen Menschen ihr Leben völlig unnötig riskieren, im Letzten furchtlos mit ihrem Leben spielen, ohne damit einen Mehrwert zu verfolgen oder der Gemeinheit zu dienen.
Das Gegenteil ist der Fall. Sie kreisen nur um sich und ihr eigenes Erleben. Sie brauchen den Kick, der von der Todesgefahr ausgeht. Sie gefährden sich selbst und leider auch noch diejenigen, die ihnen im Notfall zu Hilfe eilen müssen.
Die Alten hätten gesagt, wer so etwas tut, sei bestenfalls leichtsinnig, schlimmstenfalls jedoch verrückt, in jedem Fall aber alles andere als tapfer.
Tollkühnheit ist daher mit Tapferkeit nicht zu verwechseln. Denn der Tapfere ist nicht tollkühn, sondern kühn. Er weiß um genau das Risiko, das mit dem Kampf für das Gute einhergeht. Aber er nimmt es in Kauf, weil es seinem Leben einen Sinn verleiht und weil er es sich – im Nachhinein betrachtet – nicht verzeihen könnte, sich für das Gute nicht stark gemacht zu haben.
Tapferkeit nimmt Maß an Jesu Kampf und Sieg über die Sünde der Welt
„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten“ (Mt 16,25), sagt Jesus im Evangelium. Dieses Wort meint die eben beschriebene Erfahrung. Es gibt Momente, in denen wir spüren, dass wir uns schuldig machen, ja dass wir unser Leben verlieren, wenn wir aus Feigheit oder Angst das Nötige nicht tun. Aber umgekehrt gilt: Wer um Jesu willen und um des Glaubens willen etwas wagt und sich einsetzt, der wird seinem Leben einen tieferen Sinn verleihen und der wird sein Leben in der Bewährung gewinnen.
Jesus selbst hat das vorgelebt. Er ist der exemplarische tapfere Mensch. Jesus hat sich in die Welt senden lassen, um gegen die Ungerechtigkeit und gegen die Sünde der Welt zu kämpfen. Im gerechten Zorn hat er gegen ungerechte Verhältnisse gekämpft. Er hat immer Maß gehalten. Andere hat er nicht geschädigt und sich nicht vom Bösen zu bösem Tun hinreißen lassen. Er war vielmehr bereit, in der letzten Konfrontation sein eigenes Leben dranzugeben. Er ist für die gerechte Sache gestorben, um uns zu erlösen und die Macht des Bösen ein für alle Mal zu brechen. Deshalb hat ihn Gott auferweckt von den Toten und ihm den endgültigen Sieg geschenkt.
Alle Tapferkeit von uns Christen nimmt im Letzten Maß an Jesus. Sie schaut auf den Jesus, der das Unrecht in der Welt wahrnimmt und der nicht wegsieht. Sie schaut auf seine Bereitschaft, selbstvergessen den Kampf gegen das Böse aufzunehmen. Sie schaut auf seinen Sieg über das Böse, den Gott ihm verliehen hat gerade in der scheinbaren Aussichtslosigkeit des Kampfes.
Jesus fürchtet nicht das Böse, er fürchtet nur, dem Bösen nicht die Stirn zu bieten und so seine Sendung zu verraten. Er vertraut fest darauf, dass sein Einsatz nicht sinnlos ist, weil er auf Gott setzt und auf den Sieg des Guten. Gott hat durch die Auferweckung Jesu seiner Lebenshingabe einen letzten Sinn verliehen.
Es ist die Hoffnung, mit diesem Jesus über das Böse zu siegen, die auch uns stärkt bei unserem Einsatz für das Reich Gottes in allen Widrigkeiten. Bitten wir den Herrn um die Gnade, in der Prüfung mit Jesus standzuhalten und mit ihm den guten Kampf aufzunehmen. Uns tröstet dabei das Wort des Herrn (Joh 16,33): „In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“
Amen.