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Jugend ist Zukunft

Gedanken von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand bei der Verleihung des Bischof-Stangl-Preises am 23. März 2012 in Würzburg

„Jugend ist Zukunft“ - als ich kürzlich einem Bekannten aus Brasilien, den ich vom gemeinsamen Studium her kenne, von der Stiftung erzählt habe, die diesen Namen trägt, da gab er den Kommentar: „Typisch deutsch. Wir entwickeln Visionen, ihr schafft Strukturen.“ Ich gebe zu , dass mich dieser Satz seither sehr beschäftigt hat. Aber muss man Visionen und Strukturen gegeneinander ausspielen? Gewiss, organisatorische Maßnahmen können in lebloser Bürokratie erstarren, aber genauso besteht bei Visionen die Gefahr, dass sie abheben und sich von der Realität entfernen. Eine vermittelnde Ebene zwischen Visionen und Strukturen sind für mich Perspektiven, die bei der Wirklichkeit ansetzen, sich aber nicht damit begnügen, sondern weiterführende Schritte entwickeln! „Jugend ist Zukunft“ - wenn der Name unserer BDKJ-Stiftung wirklich ein weiterführendes Programm sein soll, lassen sich die damit verbundenen Perspektiven am ehesten unter dem klassischen Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ gewinnen. Ich möchte dazu einige Anregungen geben.

1. Sehen setzt die Bereitschaft voraus, die Wirklichkeit differenziert wahrzunehmen.

Diese Wahrnehmung darf nicht binnenkirchlich ansetzen, sondern beginnt beim Blick auf die gesamtgesellschaftliche Situation. Dabei zeigt sich als erstes, dass der Satz „Jugend ist Zukunft“ gar nicht so selbstverständlich ist, wie er klingt: Junge Menschen werden aufgrund des demographischen Wandels immer mehr zur „Mangelware“. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass sich der Anteil der Jungen unter 20 Jahren an der Bevölkerung in 50 Jahren fast halbiert. Auf immer weniger junge Menschen werden immer mehr Herausforderungen zukommen: In einer hochdynamischen Welt wird es immer neu die Bereitschaft zum Eingehen auf veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse brauchen. So ergibt sich heute schon im Blick auf die Lebenssituation der Jugendlichen ein gegensätzliches Bild: Einerseits wächst der größte Teil der jungen Menschen bei uns in einem nie gekannten Wohlstand auf: Interessant ist, wie viel Geld im Schnitt bereits Heranwachsenden zur persönlichen Verfügung steht. Andererseits gibt es in unserem reichen Land eine erschreckend hohe Kinderarmut – die Zahl der jungen Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen nimmt zu. Jüngere Studien haben gezeigt, dass sich die Lebenslagen von Jugendlichen stark nach Bildung, Gesellschaftsschicht und etwa auch Migrationshintergrund unterscheiden.

Vor diesem Hintergrund ist die religiöse Gesamtsituation Jugendlicher zu sehen: Dabei zeichnet die empirische Forschung ein komplexes Bild: Auf der einen Seite wird ein fortschreitender Bedeutungsrückgang der christlichen Kirchen festgestellt, auf der anderen Seite ist gerade bei jungen Menschen verstärkt die persönliche Suche nach einem guten, sinnvollen Leben spürbar. Kennzeichnend ist dabei: So, wie aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Jugendliche heute gezwungen sind, für ihre Zukunftssicherung Bildungsmaßnahmen und Qualifikationsschritte selbst anzugehen, so wollen sie auch in religiösen Fragen selbst Regie führen. Die Shell-Studie von 2006 spricht deshalb von „Egotaktikern“ mit einem Trend zur selbstverantworteten Sinnkonstruktion. Aus dieser Individualisierung religiöser Einstellungen ergibt sich naturgemäß eine Pluralisierung von Haltungen. So unterscheidet der Würzburger Religionspädagoge Hans-Georg Ziebertz in seiner Studie z.B. „nichtreligiöse, kirchlich-christliche, christlich-autonome, konventionell-religiöse und autonom-religiöse Jugendliche“. Zugleich warnen Beobachter der Jugendszene allerdings davor, „Ego-Taktiker“ als „Egomane“ zu sehen: Sie registrieren unter Jugendlichen sowohl eine Aufgeschlossenheit für die Sinnfrage wie eine hohe Bereitschaft zum Engagement für andere – allerdings wird ein klar umrissenes, zeitlich begrenztes, projektorientiertes, sinnstiftendes Engagement bevorzugt. So geht mit der Pluralisierung und Individualisierung der religiösen Jugendszene auch ein Trend zur Eventisierung einher.

Ein Blick auf die kirchliche Jugendarbeit im engeren Sinn spiegelt diese Tendenzen wider: Es ergibt sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Formen – von den Verbänden über die Jugendsozialarbeit, die Sternsinger, Ministranten und Musikgruppen, die geistlichen Gemeinschaften, die Angebote in der Schulpastoral und in der Gemeindekatechese. Weiterhin gibt es auch im ästhetischen Bereich jugendpastorale Projekte wie die seit einigen Jahren entstehenden Jugendkirchen. Nicht zu vergessen ist das Projekt der in den 80er Jahren entstandenen internationalen Weltjugendtage, die zu einem eigenen Markenzeichen geworden sind. Insgesamt zeigt sich – im Gegensatz zu den früher vorherrschenden mehr „politischen“ Akzenten – eine größere Spiritualisierung der Jugendarbeit, die jedoch keine signifikanten Auswirkungen etwa auf die Teilnahme am gemeindlichen Sonntagsgottesdienst hat. Wie ist diese Vielfalt zu sehen, wie sind diese widersprüchlichen Wahrnehmungen zu bewerten?

2. Beim Urteilen sollte man sich in jedem Fall vor vorschnellen Vereinfachungen hüten. Ich möchte in diesem Abschnitt meiner Ausführungen im Blick auf die kirchliche Jugendarbeit drei Bereiche heraus greifen, in denen Herausforderungen für die Zukunft liegen:

Im Blick auf die gesamtgesellschaftliche Situation dürfen uns die „Modernisierungsverlierer“ unter den Jugendlichen nicht gleichgültig lassen, die an den immer höher werdenden Anforderungen scheitern – sei es, weil ihnen die materiellen Möglichkeiten fehlen, weil sie die geforderte Leistung schlicht nicht erbringen können oder weil es an den nötigen psychischen Voraussetzungen mangelt. Gerade in diesem Teil der Jugendszene ist dann zunehmende Gewaltbereitschaft festzustellen. Wenn im kirchlichen Handeln Spiritualität und Diakonie zusammengehören, dann kann sich Jugendarbeit nicht nur auf die Hilfe bei der individuellen und gemeinschaftlichen Sinnsuche im engeren Bereich beschränken, sondern muss auch jene im Blick haben, die im rasanten gesellschaftlichen Wandel leicht auf der Strecke bleiben. Die geforderte „Option für die Jugend“ darf niemals bloß binnenkirchlich verstanden werden, sie fordert vielmehr uns heraus, junge Menschen bei ihrer Orientierungssuche in einer pluralen Gesellschaft so zu unterstützen, indem sie nicht als Objekte der Betreuung oder gar Fürsorge gesehen, sondern als – wenn auch oft komplexe – Persönlichkeiten ernst genommen werden.

Im Blick auf die allgemeine Religiosität zeigt sich die Herausforderung für die Zukunft kirchlicher Jugendarbeit so: Einerseits hat die schon erwähnte Jugendstudie festgestellt, dass in Deutschland knapp 20 Prozent der Jugendlichen zumindest punktuell kirchliche Kontakte suchen; der Rest lebt eine individuell geprägte Religiosität ohne institutionelle Anbindung oder glaubt überhaupt nicht. Andererseits berichtet dieselbe Untersuchung, dass sich das Wertesystem kirchenferner Jugendlicher kaum von dem gläubiger junger Menschen unterscheidet: Insgesamt stehen auf der jugendlichen Werteskala Freundschaft und Familie, aber auch Eigenverantwortung ganz oben. Auch die soziale Verantwortung besitzt einen hohen Stellenwert; weniger ausgeprägt ist das Interesse für Politik. Dieser Befund gibt zu denken und fordert unsere kirchliche Jugendarbeit heraus: Gelingt es uns, wieder neu den „Mehrwert“ des christlichen Glaubens deutlich zu machen, der eben nicht nur in einem allgemeinen Werteempfinden mit Sehnsucht nach Glück und eigenem wie familiärem Wohlergehen besteht, sondern seine Grundlage in der persönlichen und gemeinsamen Gottesbeziehung hat? Wo finden wir in der säkularen Gesellschaft solche Glaubenszugänge? Als „Einladung zum Leben mit Gott“ ist solches Mühen durchaus im guten Sinn missionarisch.

Im Blick auf die Grundaufgabe kirchlicher Jugendarbeit kann man sich deshalb nur dem Urteil des früheren „Jugendbischofs“ Franz-Josef Bode von Osnabrück anschließen: „In unserer gesamten Pastoral und nicht nur in der Jugendpastoral fehlt gelegentlich die Ausdrücklichkeit des Glaubens, das ausdrückliche Von-Gott-Sprechen. Wir müssen wieder lernen, freimütig davon zu reden, dass wir beten. Der Glaube darf nicht im Privatissimum verschwinden.“ Eine weitere Herausforderung an die Zukunft kirchlicher Jugendarbeit liegt darin, die Einheit in der Vielfalt zu suchen: Es ist gut und bereichernd, dass es eine Vielfalt von Trägern in der Jugendpastoral gibt, aber es braucht als Voraussetzung noch stärker das Wissen um die gemeinsamen Grundlagen. Das Gegeneinander verschiedener Akteure, das manchmal regelrecht die Züge von Verteilungskämpfen um personelle und finanzielle Ressourcen angenommen hat, sollte der Vergangenheit angehören. Ich sehe hier durchaus hoffnungsvolle Ansätze eines neuen Miteinanders ohne Profilverlust, wenn sich z.B. im Umfeld der Weltjugendtage und auch bei anderen Gelegenheiten die „klassischen“ Jugendverbände und die neuen geistlichen Gemeinschaften aufeinander zu bewegen und Berührungsängste überwinden. Freilich bleibt noch die Frage nach konkreten Schwerpunkten in der Zukunft.

3. Hier ist nun das Handeln gefragt. Bei der Suche nach Kriterien dafür orientiere ich mich an den jugendpastoralen Schwerpunkten, welche die Bischofskonferenz nach dem Weltjugendtag in Köln erarbeitet hat, an Impulsen aus unserem Bistum wie an eigenen Überlegungen. Drei Gedanken möchte ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – benennen:

Wenn Jugend auch in der Kirche Zukunft haben soll, spielt das personale Angebot eine entscheidende Rolle. Dies sage ich durchaus im Wissen um die knapper werdenden finanziellen und personellen Ressourcen. Verantwortliche in der Jugendarbeit sind heute weniger prinzipielle Ideengeber, sondern eher „Change-Agenten“, die junge Menschen auf dem Weg begleiten und helfen, aus christlicher Überzeugung heraus den Wandel und dieZukunft zu gestalten. Fordern wir solche profilierten Persönlichkeiten in genügender Weise?

Papst Johannes Paul II., der wie kaum ein Papst zuvor eine große Faszination auf junge Menschen ausübte, hat die Jugendlichen des öfteren in seinen Ansprachen als „Baumeister der Zukunft, als Wächter eines neuen Morgens“ bezeichnet. Für die in der kirchlichen Jugendarbeit Engagierten ergibt sich für mich von diesem Anspruch her die Verbindung mit einem biblischen Modell, das sich im alttestamentlichen Buch Numeri findet (Num 13, 1-14, 10): Das Volk Israel gerät nach dem Auszug aus Ägypten zunehmend in Unsicherheit und Orientierungsnot. In dieser Situation schickt Mose Kundschafter aus, die feststellen sollen, ob das Land der Zukunft wirklich bewohnbar ist. Die Mehrzahl der Kundschafter lässt sich von den festgestellten Schwierigkeiten ängstigen. Nur zwei, Josua und Kaleb, haben eine andere Sicht: Sie nehmen die Probleme wahr, erinnern das Volk aber gleichzeitig an seine Stärken, nämlich die Begleitung durch Gott und seine Verheißungen. Ich denke, hier liegt ein Zukunftsprofil für die Verantwortlichen der Zukunft: Sie sollen Herausforderungen ernst nehmen, aber gleichzeitig vom Glauben her Perspektiven aufzeigen. Funktionäre sind zu wenig, es braucht eben Kundschafter, die zugleich Zeugen sind. Ich bin froh, dass ich dies gerade bei uns im Bistum immer wieder wahrnehmen darf.

Schließlich ist es wichtig, die verschiedenen Jugendorganisationen und Aktionsebenen in der Kirche von den Bistumsleitungen her als „Biotope des Glaubens“ zu sehen und zu fördern, in denen die persönliche Suche nach Sinn und Orientierung in die Erfahrung christlicher Gemeinschaft hineingeführt wird. Nur so wird auch eine Beheimatung in der Kirche möglich sein, die durchaus auch die Form kritischer Solidarität annehmen kann. Diese Beheimatung wird nur gelingen, wenn Jugendliche in dem Sinn ernst genommen werden, dass ihnen etwas zugetraut und zugemutet wird – fordern und fördern sind gerade hier keine Gegensätze. Gerade im Kontakt mit jungen Menschen in unserem Bistum stelle ich immer wieder fest, dass sie nicht einfach Ansprüche stellen, sondern sich ebenso beanspruchen lassen, wenn eine Vertrauensbasis gegeben ist.

„Jugend ist Zukunft“ - ich meine, die gleichnamige Stiftung ist sowohl von Visionen geprägt und hat gleichzeitig Strukturen und Perspektiven im Blick. Denn die Zukunftssicherung kirchlicher Jugendarbeit braucht ein breites Spektrum von Bemühungen. Die zahlreichen Bewerbungen um den Bischof-Stangl-Preis, die auch in diesem Jahr eingegangen sind, können etwas davon deutlich machen. Für uns alle bleibt dabei die Frage wichtig, die der Namensgeber dieser Auszeichnung als Jugendreferent der Deutschen Bischofskonferenz gerade im Krisenjahr 1968 vorausschauend so formuliert hat: „Wie müssen wir leben und was müssen wir tun, damit unsere Jugendlichen eine Zukunft in der Kirche haben und darin verwurzelt sein können?“ Die Antwort ist jeweils neu fällig.