Würzburg (POW) Einblicke in Theologie und Praxis des Judentums gewährt die neue Buchreihe „Würzburger Einführungen ins Judentum“, welche die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken herausgibt. Im folgenden Interview spricht der Neutestamentler und Judaist Professor em. Dr. Dr. Karlheinz Müller (71), Autor des ersten Buchs der Reihe, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Juden und Christen und erläutert, was er für einen gelingenden Dialog der zwei Religionen für wichtig erachtet.
POW: Welches Anliegen verbinden Sie mit der Reihe „Würzburger Einführungen ins Judentum“?
Professor Dr. Dr. Karlheinz Müller: Die Informationen über das Judentum, die sich in der Presse finden, sind normalerweise sehr stark fixiert auf die Judenvernichtung im Dritten Reich. Die Serie versucht, an die Innenseite des gläubigen Judentums heranzuführen. Durch die Eröffnung des Museums im Würzburger Zentrum „Shalom Europa“ liegt der Schwerpunkt eindeutig auf den Einblick in das Judentum: Juden und Nichtjuden können hier lernen, wie die Religion im Wesentlichen funktioniert. Dieses Anliegen hat auch die Reihe, die von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit herausgegeben wird.
POW: Warum nimmt der Titel auf Würzburg Bezug?
Müller: Wir wollen kein augenloses Judentum schildern. Hier in Würzburg gibt es eine funktionierende Gemeinde traditionellen Zuschnitts – das Wort „orthodox“ vermeide ich bewusst. Die Reihe wendet sich an Juden wie Nichtjuden gleichermaßen. Sie will sehr genau sein, aber nicht abstrakt, deswegen kommen die meisten Informationen aus den entsprechenden hebräischen Werken.
POW: Wie viele Bände sind in der Buchreihe geplant?
Müller: Ich denke an zehn Bände. Aber zunächst brauchen wir die Einnahmen aus dem Verkauf des ersten Bands, um den nächsten Band herausgeben zu können. Das Buch kostet 7,50 Euro und ist in „Shalom Europa“ und bei der jüdisch-christlichen Gesellschaft zu beziehen. Dank der Zusammenarbeit mit der Studentenfirma Wunderlich und Weigand konnten wir das Projekt kostengünstig umsetzen.
POW: Welche weiteren Themen wollen Sie beleuchten?
Müller: Der nächste Band beschäftigt sich mit dem wichtigsten Gebet der Juden, dem Schma. Der folgende Band untersucht den Schabbat in der Praxis in einem jüdischen Haus. Die Reihe fängt bei Null an und versucht, den jüdischen wie den bildungswilligen nicht-jüdischen Leser von Anfang an einzuführen. Weitere Bände werden sich mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde zum Beispiel im Mittelalter, aber auch mit den Themenkomplexen Tod, Trauer und Bestattung sowie den Festen beschäftigen.
POW: Die Reihe beginnt mit dem Thema „Die Bibel, wie Juden sie lesen“. Wieso haben Sie sich für dieses Thema entschieden?
Müller: Zu diesem Thema gab es bereits eine Ausstellung. Es geht bei dem Buch darum, durch eine ansprechende Gestaltung zum Lesen zu verführen. Geboten werden Texte, die einfach gehalten sind, ohne dass inhaltliche Abstriche gemacht werden. Der Leser wird in den Umgang der Juden mit der Bibel eingeführt. In zehn Kapiteln wird unter anderem darüber informiert, dass Juden sich im Gebrauch der Bibel wesentlich von den Christen unterscheiden. Die einfache Formel der Kirchen stimmt so nicht. Sie sagen, wir hätten mit den Juden sehr viel gemeinsam, zum Beispiel das Alte Testament. Juden achten sehr wohl darauf, dass sie sich an bestimmten Stellen von den Christen unterscheiden. Das verlangt den Respekt der christlichen Seite.
POW: Welche Dinge sind das konkret?
Müller: Das betrifft nicht nur die Speisen, sondern auch die Bibel. Wir haben höchstens die hebräische Textfassung gemeinsam. In der Wertung gibt es große Unterschiede. Juden interessieren sich vor allem für die ersten fünf Bücher der Bibel, die schriftliche Tora. Darin sind nach ihrer Überzeugung die 613 Gebote und Verbote enthalten, von denen Gott das Leben und Überleben des Judentums abhängig gemacht hat. Das heißt, Juden lesen genau das innerhalb der ersten fünf Bücher des Alten Testaments, was Christen meist nicht lesen, was christliche Theologie-Professoren in ihren Vorlesungen größtenteils aussparen. Ich habe in meiner umfangreichen Ausbildung nicht einen Kommentar zum Buch Levitikus gehört.
POW: Auch das Lesen der Tora hat eine besondere Rolle im Gottesdienst der Juden, erläutern Sie in dem Buch.
Müller: Das zeigt sich auch massiv im Umgang mit der Bibel. Die ersten fünf Bücher, soweit sie in der Gemeinde Schabbat für Schabbat verlesen werden, haben eine ganz komplizierte Herstellung. Sie müssen von Hand auf Pergament geschrieben werden, das von reinen Tieren stammt, welche die Juden auch essen. Warum das so ist und wer das alles macht, zeigt das Buch. Gerade diese Informationen werden oft ganz ausgespart, wenn es heißt, die Juden lesen auch das Alte Testament. Oder nehmen Sie die Tatsache, dass diese schriftliche Tora, die dann als Rolle vorliegt, auch bekleidet ist mit bestickten Brokatstoffen – wie ein König. Sie trägt außerdem zwei „Glockentürme“, damit man hört, dass der König kommt, wenn die Tora vom Toraschrein zur Bima getragen wird.
POW: Das Buch führt aber nicht nur in die Tora selbst ein, sondern erklärt auch Gegenstände und Symbole, die eng damit verbunden sind.
Müller: Der Gebrauch der Bibel verdichtet sich bei den Juden auch in gewissen Zeichen. Zum Beispiel im Gebetsmantel, dem Thallit. Wenn der Jude den Gebetsmantel anzieht, stellt er sich sprichwörtlich unter die 613 Gebote und Verbote. Juden gehen übrigens nicht davon aus, dass diese das letzte Wort Gottes sind. Am Sinai ist zugleich ein zweiter Strom von Offenbarung ausgegangen: der Strom der mündlichen Offenbarung. Diese ist weit mehr als nur die Auslegung der Gebote auf den Alltag in ganz unterschiedlichen Kulturzusammenhängen. Die Halachah ist auch immer ein Prozess der Entscheidung – oft auch gegen den Wortlaut der 613 Ge- und Verbote. Wie wollen Sie sonst erkennen, dass man sich auch am Schabbat verteidigen darf. Bis zur Makkabäerzeit haben die Juden sich am Schabbat nicht verteidigt, was die umliegenden Völker für sich zu nutzen gewusst haben. Die Halachah ist mündlich, weil der Streit eine entscheidende positive Größe im Judentum ist: Der Wille Gottes bedarf immer wieder der Festlegung. Deswegen ist dieser Vorgang immer wieder der Entscheidung der Mehrheit unterworfen. Das heißt, eine Gemeinde kann so, eine andere anders entscheiden. Darin sind die einzelnen Gemeinden autark, die mit Hilfe ihrer Rabbiner entscheiden. Über die Jahrtausende hinweg sind die Gebote und Verbote unglaublich erweitert worden. Da sind ganze Bibliotheken entstanden.
POW: Sind die Informationen für Juden nicht schon allzu vertraut?
Müller: Die jüdische Gemeinde in Würzburg hat 1100 Mitglieder, von denen nur 200 nicht russischer Abstammung sind. Weil die Infrastruktur größtenteils zerstört wurde, hat auch diese Gruppe Probleme, mit Hilfe des Gemeinderabbiners die übrigen Juden an die Praxis heranzuführen.
POW: Wie ist die jüdische Gemeindeleitung in die Buchreihe involviert?
Müller: Wir haben in Würzburg eine Gemeindeleitung – ich denke vor allem an Dr. Josef Schuster – der es außerordentlich angenehm ist, dass der Eindruck weggenommen wird, das Judentum wolle etwas hinterm Berg halten. Im Übrigen ist die christlich-jüdische Gesellschaft in Würzburg von Anfang an auf den Grundsatz verschworen, weniger über Juden als vielmehr mit Juden zu reden. Das geht nicht, ohne dass man Bescheid weiß, worüber Juden religiös reden. Deswegen wird sich ein Band sicherlich auch der Sprache widmen. Was heißt es, wenn Juden davon sprechen, dass sie „Tora leinen“? Diese und ähnliche Begriffe sammeln wir derzeit und wollen sie auf möglichst launige und einfach zu lesende Art darstellen. Übrigens ist unsere christlich-jüdische Gesellschaft die einzige in Deutschland, die eine solche Buchreihe hat. Beteiligt sind viele jüdische Insider. Wie eng die Zusammenarbeit ist, sieht man auch daran, dass die Gesellschaft die Museumsführer für „Shalom Europa“ ausbildet.
POW: Ganz generell gefragt: Gibt es Vorurteile und falsche Vorstellungen, die Christen oft vom Judentum haben und auf die Sie mit der Buchreihe hinweisen wollen?
Müller: Es gibt viele Einzelheiten. Zuweilen kommt es zu einer gewissen Vereinnahmung der Juden von christlicher Seite. Auf massivste Weise wird das Gemeinsame behauptet, und dann erscheint das Judentum als Vorstufe des Christentums. Es ist etwas komisch, wenn ich in den Würzburger Dom komme und vor einer exzellenten Menora stehe. Man kann auf die Idee kommen, dass die Ideologie des Domes etwa so läuft: Am Anfang steht der siebenarmige Leuchter als Symbol für das Judentum. Von dort aus geht der Weg über die Propheten hin zum wiederkehrenden Christus. Oder in der Michaelskirche, die für die Juden schwierig ist: Das Kreuz im Chorraum hat zwölf Türen, aus denen die zwölf Apostel kommen und über denen auf Hebräisch die Namen der zwölf Stämme Israels stehen. Da hat man das Gefühl, dass die Christen die Juden nur noch mitleidig als eine abgestoßene Raketenstufe betrachten. Das halte ich für ein fürchterliches Vorurteil, das durchaus gutmeinend ist und mit Hilfsbereitschaft verbunden ist. Es vergisst aber, dass Christen gegenüber den Juden ihren Absolutheitsanspruch aufgeben müssten. Mit Juden auf Augenhöhe und reflektiert zu reden geht nur, wenn man in Kauf nimmt, Abstriche bei der eigenen Dogmatik zu machen.
POW: Heißt das letztlich nicht, christliche Kernaussagen aufzugeben, wenn man sagt: unser Messias ist nicht der Messias?
Müller: Nein, das Problem ist, dass die messianische Erwartung der Juden verfälscht wurde, indem man das, was wir als Christologie haben, in die Erwartung der Juden hineingesteckt hat. Die Messiaserwartung der Juden hat überhaupt nicht den Rang, den wir Christen ihr zubilligen. Wir müssen den Juden keineswegs vorschreiben, welchen Messias sie erwarten. Selbst bei uns ist der Begriff des Christos, des Messias, ein Begriff des Hungers und nicht der Sättigung. Also können wir doch ohne weiteres mit den Juden sprechen, ohne die Vorstellung zu entwickeln, dass sie Christen werden müssten, um das Heil zu erlangen. Man muss einfach die völlige Intaktheit der jüdischen Religion anerkennen. Die Vorstellung der Missionierung der Juden muss völlig aufgegeben werden. Die evangelische Kirche betont, dass sie bewusst darauf verzichtet.
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