„Komm, Herr Jesus – Maranatha“ (Offb 22,20): Dieser Aufruf steht am Ende der gewaltigen Vision, die – unserer Kenntnis nach – Johannes der Evangelist am Ende des ersten Jahrhunderts auf Patmos aufgeschrieben hat. In einer Zeit, in der die ersten Christen durch das Ausbleiben der schon früh erwarteten, aber bisher ausgebliebenen Wiederkunft Jesu Christi von innen angefochten und durch die politisch gegebenen Verfolgungen von außen bedroht waren, schrieb der auf Patmos verbannte Seher ein faszinierendes Trostbuch, das einen Einblick in die gewaltigen Pläne Gottes geben sollte.
Selbst überrascht durch das Eingreifen Gottes schreibt Johannes zu Beginn der Apokalypse: „Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen und hörte hinter mir eine Stimme, laut wie eine Posaune. Sie sprach: Schreib das, was du siehst, in ein Buch und schick es an die sieben Gemeinden.“ (Offb 1,10 f.)
Bis heute gibt dieses visionäre Buch viele Rätsel auf. Zum einen führt es in eine die Geschichte als Heilsgeschichte ausdeutende Realität ein, die unseren Erfahrungshorizont sprengt, zum anderen bedient sich der Schreiber einer apokalyptischen Sprachweise, die eine Kenntnis dieser damals durchaus partiell bekannten Sprachgattung verlangt. Dazu gehört ein Einblick in die Sprach- und Zahlensymbolik, die den ganzen Text durchzieht. So steht die Zahl 3 für den dreieinigen Gott; die Zahl 4 für die Erde (mit ihren 4 Himmelsrichtungen, 4 Temperamenten, 4 Jahreszeiten ect.). Die Addition von 3 und 4 ergibt die Himmel und Erde verbindende Zahl 7. Die Multiplikation 3 mal 4 führt zur 12 mit den 12 Stämmen Israels, den 12 Aposteln und den 12 Toren des himmlischen Jerusalems. Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat sich in seinen Kompositionen dieser Zahlensymbolik geöffnet und sie – beispielsweise in der h-moll Messe – meisterhaft in Musik umgesetzt.
In einem großartigen Bogen verschlüsselt und entbirgt aber auch der Seher von Patmos das Geschaute in jeweils mächtiger anbrandenden Sinnwellen. So entfaltet er beispielsweise in einem siebener Rhythmus nach der ersten Vision des Menschensohnes inmitten der sieben Leuchter und sieben Sterne, in die er die sieben Sendschreiben an die Kirche einbettet, die Thronvision, die Georg Meistermann 1954 hier auf der Altarwand von Sankt Alfons einzufangen versucht hat.
Danach öffnet das Lamm, das alleine würdig ist, die sieben Siegel von dem verschlossenen Lebensbuch aufzubrechen, ein Siegel nach dem anderen. Und kaskardenartig schließen sich an die vier Lebewesen die vier apokalyptischen Reiter an.
Die Märtyrer, die unter dem Altar ruhen, rufen nach einem baldigen Endgericht, das mit der Öffnung des sechsten Siegels durch das Lamm eingeleitet wird. Wörtlich heißt es:
„Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz, wie ein Trauergewand, und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt.“ (Offb 6,12-14)
Mit der Öffnung des siebten Siegels treten die Engel mit den sieben Posaunen auf den Plan. Und mit dem Blasen der jeweiligen Posaune ergibt sich ein weiterer Schritt auf den Weg zum Endgericht hin. In diesen stürmischen Ablauf des Weltuntergangs hinein entfaltet sich im 12. Kapitel – wie in ein Medaillon gefasst – die Vision der apokalyptischen Frau. Mit ihr wird ein Bild der bedrohten Kirche in der Wüstenwanderung durch die Weltzeit hindurch gezeichnet, das aber eben auch den Schutz Gottes aufweist.
Die satanische Trinität als Widerpart zum Dreifaltigen Gott wird im Bild des Drachen, dem Tier aus dem Meer und dem Tier vom Lande gefasst. Beeindruckend wird deren teuflische List und Verführungskunst geschildert, die die Menschen in den Bann zieht. Auch das nachäffende Gebaren des Tieres aus dem Meer, das zehn Hörner und sieben Köpfe dem Lamm mit den sieben Hörnern und sieben Augen gegenüberstellt, entlarvt die dämonische Kraft des Satans. Dem gegenüber wird das Gefolge des Lammes auf dem Berg Zion in einer himmlischen Liturgie vor Augen geführt.
Wörtlich: „Dann hörte ich eine Stimme vom Himmel her, die dem Rauschen von Wassermassen und dem Rollen eines gewaltigen Donners glich. Die Stimme, die ich hörte, war wie der Klang der Harfe, die ein Harfenspieler schlägt. Und sie sangen ein neues Lied vor dem Thron und vor den vier Lebewesen und vor den Ältesten.“ (Offb 14, 2f.)
Das auch durch endzeitliche Katastrophen hindurch aufziehende Endgericht, das die Menschen wegen ihrer Sünden zur Verantwortung zieht, mündet letztlich in die Schilderung des Himmlischen Jerusalems als Ziel der ganzen Weltgeschichte. Dieses messianische Jerusalem wird nach dem Ausgießen der sieben Plageschalen als Wohnstatt der Menschen in der Kostbarkeit irdischer Schönheit beschrieben.
Die Grundsteine dieser nach allen Seiten hin offenen goldenen Stadt, die keinen Tempel besitzt, weil Gott selbst ihre Mitte und ihr Leben ist, diese zwölf Grundsteine bestehen aus kostbaren Edelsteinen, die zwölf Tore aus jeweils einer gewaltigen Perle. Der kristallklare Lebensstrom durchfließt diese Gottesstadt und schenkt mit den Lebensbäumen ewiges Leben. Wen wundert es noch, wenn Johannes am Ende der Geheimen Offenbarung ausruft: „Amen. Komm, Herr Jesus!“
Gerade weil im Zentrum der johanneischen Vision die himmlische Liturgie steht, die als Quelle und Ziel der in der Weltzeit bedrängten Kirche entfaltet wird, breitet Georg Meistermann (1911-1991) auf der hiesigen 10 x 20 Meter großen Altarwand – vor der sich die irdische Liturgie entfaltet – die ganze Breite der malerischen Palette aus.
Zwischen einer oberen blauen Himmelszone und einer unteren meergrünen irdischen Zone schiebt sich vor eine helle, nur mit zarten Pastelltönen gestaltete Fläche, ein regenbogenfarbiges, flammendes Zentrum, von dem aus sich sieben Feuerflammen in horizontaler Reihung nach unten hin senken. In diesem Fresko erkennen wir im mittleren Teil zahlreiche Wesen und Zeichen:
Die obere Himmelszone ist mit Engeln, der untere irdische Bereich mit Erdkugel, Ähre, Traube und Sichel gefüllt. Der wie durch die Augenlider in die Ferne gelenkte Blick erkennt in der hellen Fläche unterschiedliche Gestalten:
die in Zwölfergruppen horizontal gereihte Ältestenordnung, darüber Engelscharen. Diese zart pastös – gleichsam klirrende – Linienstruktur, die an Meistermanns ‚Bindfädenmalerei’ erinnert, lässt ein Fluidum entstehen, das im Kern des farbintensiven Zentrums, im ebenfalls nur linear sichtbaren Thronenden und dem Lamm, seine ausdrucksstärkste Verdichtung erreicht. Die Krone besteht aus sieben Hörnern (ein Symbol für die Allmacht). Die sieben Augen (Symbol für die Allwissenheit) sind über den ganzen Leib verteilt. Das Lamm empfängt von dem Thronenden das siebenfach versiegelte Lebensbuch. Der Thronende ist aus gegenständlichen und abstrakten Zeichen, aus körperlichen und geometrischen Strukturen aufgebaut und wirkt wie das Abbild der im visionären Bereich unbeschreibbar bleibenden Gottesgestalt.
Doch nicht nur in diesem schwer fasslichen und in der Andeutung verbleibenden lichten Kern von Thronendem und Lamm, sondern auch in der Gesamtkomposition versucht Meistermann das Unsagbare, „jene fremden Signale aufzugreifen und heranzubringen, die selber symbolisch über alle Realität gestellt sind.“ (Linfert, Carl: Georg Meistermann. Recklinghausen: Bongers 1958, S. 18)
Jeder Versuch, den so gewaltigen Stoff der Apokalypse in begrenzten Auszügen zu visualisieren, muss letzten Endes Bruchstück und Torso bleiben, denn die Künstler aller Epochen unterliegen unausweichlich dem Problemkreis des visionären Stoffes, der sich einerseits der bildlichen Erfassung leicht entzieht und sich doch andererseits im ‚eidon – ich sah’ des Visionärs geradewegs der Phantasie der Künstler aufdrängt.
Die Künstler aller Zeiten stehen vor dem Problem, Visionäres, also im Zustand der Ekstase ‚Geschautes’, das allein schon nur bruchstückhaft verbalisiert werden kann, aufzugreifen und erneut in ein Bild zu fassen. Wort- und Bildsinn müssen gleichermaßen erkannt und in eine eigene Bildsprache umgeschmolzen werden. Das Gestaltungsproblem liegt also schon zunächst im literarischen Stoff der Apokalypse begründet und setzt sich dann in der Rezeption durch den Künstler fort. Ein bloßes Wiedergeben einzelner Bildformeln vermag nicht dem Geist und der Kraft der Geheimen Offenbarung gerecht zu werden. Von daher ist für den Künstler wie für den Betrachter eine in die Meditation führende Betrachtung der Apokalypse nötig, damit sich der Reichtum dieser Offenbarung Gottes auch segensreich erschließt. Entscheidend ist die Erkenntnis, das sich die Kirche in ihrer Wüstenwanderung durch die Zeitgeschichte bei aller Bedrohung nicht entmutigen lässt, sondern Gott vertraut, der das letzte Wort sprechen wird und unsere tiefe Sehnsucht nach Vollendung und Heil erfüllen wird.
Ich hoffe sehr, dass dieses Würzburger Jahr der Apokalypse dazu beiträgt, diese Offenbarung des Johannes als Geschenk für unsere Zeit zu entdecken.
Amen.