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Krieg, Wunder von Bern und Mauerfall

Interview mit Bischof em. Dr. Paul-Werner Scheele zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen in den zurückliegenden 80 Jahren

Würzburg (POW) Am Sonntag, 6. April, vollendet Bischof em. Dr. Paul-Werner Scheele sein 80. Lebensjahr. Von 1979 bis 2003 leitete er das Bistum Würzburg. Darüber hinaus engagierte er sich mehrere Jahrzehnte für die Einheit der Christen. Neben seinen zahlreichen kirchlichen und wissenschaftlichen Aufgaben hat Bischof Scheele viele bedeutsame politische und gesellschaftliche Ereignisse erlebt oder mit Interesse verfolgt. In folgendem Interview schildert er seine Gedanken zu ausgewählten Ereignissen der vergangenen 80 Jahre.

POW: Die Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933.

Bischof em. Dr. Paul-Werner Scheele: Weder die Tatsache noch ihre Folgen habe ich als Fünfjähriger wahrgenommen. Die Auswirkungen bekam ich zu spüren, als unsere katholische Volksschule eine Horst-Wessel-Schule wurde. Ein Schlüsselerlebnis wurde die Beschlagnahme des Pallottinerklosters in meiner Heimatstadt Olpe im Jahr 1941. Sie vollzog sich ähnlich wie in Münsterschwarzach. Damals war ich unter den Protestierenden und konnte die Brutalität der Machthaber, aber auch die Solidarität der Katholiken erleben.

POW: Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939.

Bischof Scheele: Mit elf Jahren konnte ich weder wissen, was der Kriegsbeginn bedeutete, noch welche Auswirkungen er auch auf mein Leben haben würde. Als ich später Berichte über dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs las, wurde mir klar, dass die Stimmung und Haltung der Bevölkerung ganz anders war als 1914, als man weithin mit Begeisterung in den Krieg zog. Die häufigen Fliegeralarme und bald schon die Bombenangriffe ließen einen die Kriegsfolgen auch in der Heimat erleben. Wiederholt mussten wir den Ausgebombten aus dem Ruhrgebiet helfen, die man ins Sauerland transportierte. Dann fielen Bomben auch auf meine Heimatstadt. Drei von ihnen trafen unsere Pfarrkirche und richteten großen Schaden an.

POW: Das Kriegsende am 8. Mai 1945.

Bischof Scheele: Das Kriegsende war eine Erlösung; für mich persönlich bedeutete es auch das Ende der Gefahr, der ich durch besondere Umstände ausgesetzt war. Nachdem ich wegen gesundheitlicher Probleme nicht wie meine Klassenkameraden Luftwaffenhelfer war, wurde ich Anfang 1945 zur Luftwaffe eingezogen. Als unser Lager auf dem Stegskopf im Westerwald von den näher rückenden alliierten Truppen gefährdet war, wurde unsere Einheit nach Süddeutschland verlegt. So kam ich am Palmsonntag nach Schaippach. Dort konnte ich die Abendmesse mitfeiern. Anderntags habe ich mich in aller Frühe auf den Weg zur Heimat gemacht. In der Nacht nach einem schweren Luftangriff auf Olpe kam ich am 29. März zuhause an. Umgehend suchte ich Zuflucht auf dem Einhof meines Vetters. Als ich dort 17 Jahre alt wurde, war das für mich wie eine Neugeburt. Vier Tage später wurde Olpe von amerikanischen Truppen besetzt. Am 8. Mai wurde uns endlich der Friede geschenkt.

POW: Die Verkündigung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 23./24. Mai 1949.

Bischof Scheele: Während meiner Freisemester konnte ich im Münchener Landtag die Debatte über das Grundgesetz intensiver verfolgen als es durch Medienberichte möglich gewesen wäre. Leidenschaftlich wurde das Für und Wider diskutiert. Aus Sorge um den Föderalismus stimmte die Bayerische Regierung zunächst nicht zu. Mit der Verkündung des Grundgesetzes beginnt die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In monatelanger gemeinsamer Bemühung ist eine Grundordnung erarbeitet worden, die sich immer wieder bewährt hat. Heutzutage besteht Anlass, mit Nachdruck auf den Artikel 1 hinzuweisen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

POW: Das Wunder von Bern am 4. Juli 1954.

Bischof Scheele: Einem Priester in der lippischen Diaspora hatte ich seit langem versprochen, am 4. Juli 1954 Gottesdienste bei ihm zu übernehmen. Zu meinem Bedauern entging mir damit die Übertragung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft. Stattdessen erlebte ich einzelne Teile in besonders intensiver Weise. Vor meiner Rückfahrt bekam ich am Radio den Anfang des Spieles mit. Mein Mitbruder, der an sich vom Fußball nicht viel hielt, wurde durch den Reporter mitgerissen. Dann musste ich zu dem Bus, der mich wieder nach Paderborn brachte. Auf jeder Station erkundigte sich der Fahrer, wie es inzwischen steht. Das wurde allen im Bus sogleich verkündet. Als wir am Ziel waren, hatte auch die deutsche Mannschaft das Ziel erreicht. Weil es niemand zuvor für möglich gehalten hatte, war die Freude übergroß.

POW: Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961.

Bischof Scheele: Die Nachricht vom Bau der Berliner Mauer hat mich im Heiligen Land erreicht. Mit einem Schulkollegen war ich per VW-Käfer und Zelt bis Jerusalem gekommen. Beide staunten wir, dass wir so oft auf die deutsche Situation angesprochen wurden, bis wir erfahren haben, was in Berlin geschehen war. Weil viele damals befürchteten, es würde zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, war die Aufmerksamkeit besonders groß. Da ich seit 1953 jährlich meine Mitbrüder in dem Ostteil des Erzbistums Paderborn und später auch in den thüringischen Dekanaten unserer Diözese besuchte, konnte ich immer wieder unmittelbar erleben, wie verheerend es sich auswirkte, dass der letzte freie Zugang zum Westen versperrt wurde.

POW: Die 68er-Bewegung.

Bischof Scheele: Wie ein Erdbeben hat die 68er-Bewegung verschiedene Bereiche des Lebens erfasst und verändert. Heute noch sind die Auswirkungen zu spüren. Als der damalige Dekan der katholisch-theologischen Fakultät an der Ruhruniversität Bochum habe ich heftige Attacken erlebt, die das Universitätsleben gefährdeten. Sie fanden ein baldiges Ende, als energisch Widerstand geleistet wurde und man vergeblich versuchte, die Arbeiterschaft in die Bewegung einzubeziehen.

POW: Die Mondlandung am 20. Juli 1969.

Bischof Scheele: Was die erste Mondlandung bedeutete, hat der US-Astronaut Neil Armstrong treffend auf den Punkt gebracht. Als er als erster Mensch den Fuß auf den Mond setzte, sagte er: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein gewaltiger Sprung für die Menschheit.“ Vor ihrer Rückkehr hinterließen die Astronauten auf einer Edelstahlplatte die Worte: „Wir kamen für den Frieden der ganzen Menschheit.“ Während die ersten russischen Erfolge in der Raumfahrt als Sieg des Kommunismus gefeiert wurden, stand die Mondlandung im Zeichen der Völkergemeinschaft. Äußeres Zeichen dafür war die Tatsache, dass rund 600 Millionen Zuschauer am Fernsehen die Aktionen der Astronauten verfolgen konnten.

POW: Die Olympischen Spiele 1972 in München.

Bischof Scheele: Ein frohes Fest sollten die Olympischen Spiele werden, die 1972 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Deutschland ausgetragen wurden. Zehn Tage lang erlebt die Welt heitere Spiele. Dann wird alles durch einen Anschlag palästinensischer Terroristen auf die Mannschaft aus Israel überschattet. Es kommt zu einem entsetzlichen Blutbad. Nie werde ich die Aufführung des Requiems von Verdi durch Künstler der Mailänder Scala vergessen, die in jenen Tagen stattfand. Frühzeitig hatte ich eine Karte erwerben und mich auf die herausragende Darbietung freuen können. Es wurde mehr. Dass in der Tat Tote zu beklagen und weitere Todesfälle zu befürchten waren, verlieh der Aufführung eine neue, erschütternde Dimension.

POW: Der Fall der Mauer am 9. November 1989.

Bischof Scheele: Dass unser Vaterland nach jahrzehntelanger Trennung wieder vereinigt wurde, ohne dass ein Schuss fiel, ist für mich nach wie vor ein wunderbares Ereignis. Selbst kurz vor dem Fall der Mauer war das nicht zu erwarten. Für mich ist das Geschehen im November 1989 ein mutmachendes ökumenisches Signal. Es lässt mich hoffen, dass die Einheit der Christen, die viele als Utopie ansehen, uns eines Tages geschenkt wird.

POW: Die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990.

Bischof Scheele: Den Tag der deutschen Einheit habe ich in einem ökumenischen Kontext erlebt. Zunächst hatte ich es bedauert, dass die jährliche Tagung der katholisch/evangelischen Dialogkommission, die ich damals zu leiten hatte, ausgerechnet mit diesem historischen Datum kollidierte. Natürlich hätte ich das Fest gern in Deutschland erlebt. Nun tagten wir in Norwegen. Im norwegischen Fernsehen konnten wir die Ereignisse in Deutschland gut verfolgen. Professor Lothar Ullrich aus Erfurt und ich haben gestaunt, wie intensiv die positive Wertung des Geschehens bei unseren Gastgebern und bei den Mitgliedern unserer Kommission war, die aus aller Welt stammten. Es zeigte sich, dass die friedlich gewonnene Einheit ein Geschenk war, das über die Grenzen Deutschlands hinaus vielen zugute kam.

POW: Der 11. September 2001.

Bischof Scheele: Als am Fernsehen die ersten Bilder vom Anschlag auf das World Trade Center zu sehen waren, dachten manche, es handle sich um Aufnahmen aus einem Sciencefiction-Film. Unvorstellbar erschien, was hier gezeigt wurde. Auf die Frage, wie das geschehen konnte, haben Experten geantwortet: „Das Zusammenbrechen der riesigen Türme in Manhattan ist durch einen Schneeballeffekt verursacht. Wie ein Schneeball in den Bergen immer größer werden kann, so dass schließlich eine tödliche Lawine entsteht, so ist die Last von Stockwerk zu Stockwerk immer größer geworden, so dass am Ende die ganzen Gebäude zerstört worden sind.“ Da drängte sich die Frage auf: „Kann ein solcher Schneeballeffekt nicht auch in den Menschen ausgelöst werden? Kann das nicht verheerende Folgen haben, die selbst die Katastrophe in den USA noch übertreffen?“ Das ist in der Tat eingetreten, noch ist kein Ende abzusehen. Umso wichtiger ist es, dass es einen Schneeballeffekt des Guten gibt. Zu ihm beizutragen ist uns allen aufgegeben.

(1308/0421)