Liebe Schwestern und Brüder,
es war eine armselige Zeit, als der Prophet Joel den Text der heutigen Lesung schrieb. Die Heuschrecken hatten ganz Juda so verwüstet, dass nichts, aber auch gar nichts zum essen übrig blieb – nicht einmal für das tägliche Opfer im Tempel. Unsere Zeit heute hat – wenigstens in unseren Breitengraden – ganz andere Sorgen: Vogelgrippe, Terror, Arbeitssituation…
Der Prophet erkennt in den Zeichen der Zeit Vorboten schrecklicheren Unglücks, ja, Strafen und mahnt deshalb zur Umkehr. Für uns heute gehört der Aschermittwoch zum jährlichen Ritual, er ist sozusagen erwarteter Ruf zur Umkehr! Aber welche Chance liegt darin! Der Prophet Joel tut dies mit den Worten: „Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider!“ Dieser einfache Anruf hat es in sich. Wir verstehen unmittelbar diese Sprache, die im Bild eine Wirklichkeit anspricht, die wir nicht einfach abstrakt formulieren können: „Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider!“ Ein Kleid, ein Gewand, ein Stück Papier kann man zerreißen, aber das Herz?
Liebe Schwestern und Brüder,
ein wesentlicher Teil unserer Glaubensverkündigung lebt von einer bildhaften, metaphorischen Sprachweise, die ihren Grund im Enthüllen durch das Verhüllen hat. In unserer Suche nach Gott stoßen wir immer wieder auf Erfahrungen, die sich nicht in abstrakte Gedankenvorgänge binden lassen. Vielmehr versuchen wir uns einem Geheimnis zu nähern, das sich uns entzieht, wenn wir es fassen, ja, begreifen wollen. – Ist es in der Kunst anders?
Unser Glaube ist Teil einer Offenbarungsreligion, die im lateinischen Wort für Offenbaren „Revelatio“ das Enthüllen in sich trägt. Es wird eine Wirklichkeit berührt, die sich dem kognitiven Verstehen nicht durch analysierenden Verstand erschließt, sondern durch Bilder, die im Vorgang des Verhüllens zugleich enthüllen.
Das Verhüllen als symbolische Tür
So war schon im Alten Bund die Tora, das von Gott geoffenbarte Gesetzbuch, hinter einem Vorhang verborgen. Und noch heute werden die Schriftrollen in Tücher gewickelt, dem Toramantel. Wir Christen bewahren den in der eucharistischen Speise gegenwärtigen Herrn hinter einem Vorhang, im Tabernakel auf. Das Verhüllen wird hier gleichsam zu einer symbolischen Tür, durch die wir uns Gott annähern. In der Bibel gibt es – wie gerade von Dominik Meiering in seiner kunsthistorischen Dissertation über die Verhüllung des Reichstags von Christo und Jeanne-Claude aus der Perspektive christlicher Tradition nachweist – zwei Grundtypen: das biblische Vorhangmotiv und das biblische Verhüllungsmotiv.
Nach Empfang der Zehn Gebote erhielt Moses von Gott den Auftrag, IHM eine „Wohnstätte“ aus Zelttüchern zu bereiten. Diese „Stiftshütte“ – wie Luther sie nannte – wurde zum zentralen mobilen Heiligtum während der Wüstenwanderung. Nur einmal im Jahr, am Versöhnungsfest, durfte der Hohepriester mit dem darzubringenden Opfer hinter den Vorhang treten. Der göttliche Auftrag an Moses lautet: „An diesem Tag entsühnt man euch, um euch zu reinigen. Vor dem Herrn werdet ihr von allen Sünden wieder rein. Dieser Tag ist für euch ein vollständiger Ruhetag.“ (Lev 16,30)
Während Salomo in dem von ihm errichteten Tempel nicht mehr das Allerheiligste durch einen Vorhang trennte, wurde dies beim Wiederaufbau unter König Kyrus nachgeholt. Der Vorhang wird als ein substantielles Ausstattungsstück dieses Kultortes und zugleich als Zeichen der Gottesoffenbarung verstanden. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem Vorgang, als Pompejus als Sieger den Tempel betrat und zum Entsetzen der Priesterschaft den Vorhang des Tempels beiseite zog und dahinter nichts vorfand. (Meiering, Manuskript Christo-Logie, S. 81f.) Der Vorhang selbst enthielt die Botschaft der verborgenen Gegenwart Gottes unter seinem Volk.
Und wie war es mit dem Zerreißen des Vorhangs im herodianischen Tempel zur Sterbestunde Jesu? (Vgl. Mk. 15,38) In der Verbindung vom Zerreißen des Vorhangs im Tempel und dem Sterben Jesu Christi am Kreuz erhält das Vorhangsmotiv eine weiterführende Bedeutung, die im Hebräerbrief so ausgedeutet wird, dass wir in der Hoffnung „einen sicheren und festen Anker der Seele (haben), der hineinreicht in das Innere hinter dem Vorhang; dorthin ist Jesus für uns als Vorläufer hineingegangen, er, der nach der Ordnung Melchisedeks Hoherpriester ist auf ewig.“ (Hebr. 6,19f.). Durch das Blut Jesu dürfen wir in das Heiligtum Gottes eintreten durch den Vorhang hindurch! Das Vorhangmotiv wird so in der Bibel mit der Entsündigung, der Versöhnung mit Gott verknüpft und besagt, dass wir durch den Opfertod Jesu Christi hinter den Vorhang, der den heiligen Ort der Gegenwart Gottes vom profanen Raum abtrennt, gelangen können.
Alles biblische Reden von Gott geschieht in dem Denk- und Sprechbereich von Verhüllen und Enthüllen, vom Aufzeigen des Geheimnisses und der Offenbarung.Sprechende Zeugen hierfür sind die Offenbarung Gottes im brennenden Dornbusch: „Da verhüllte Mose sein Gesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.“ (Ex 3,6) und der Bericht von der Gegenwart Gottes beim Auszug des Volkes aus Ägypten: „Der Herr zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten.“ (Ex 13,21)
In der Berufungsgeschichte des Propheten Ezechiel hören wir ebenfalls: „Ich sah: Ein Sturmwind kam von Norden, eine große Wolke mit flackerndem Feuer, umgeben von einem hellen Schein.“ (Ez 1,4) Verwandte kraftvolle Bilder lesen wir in der Berufungsgeschichte des Propheten Jesaja, der den Herrn auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen sieht: „Der Saum seines Gewandes füllte den Tempel aus.“ (Jes 6,1)
Die verhüllte Gegenwart Gottes
Ähnliches erleben wir auch in den Theophanien des Neuen Testamentes, etwa bei der Taufe Jesu im Jordan. Die verhüllte Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus wurde durch die Offenbarung des Heiligen Geistes, der wie in der Gestalt einer Taube herabkam, und in der Stimme des Vaters angesprochen. Ähnlich geschah dies in der Verklärung auf dem Berg Tabor: „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt; seine Kleider wurden strahlend weiß.“ (Mk 9,2f.) Nachdem Moses und Elija erscheinen, um diese Gottesoffenbarung zu bestätigen, folgt wieder das Zeichen der Gegenwart Gottes: „Da kam eine Wolke … und aus der Wolke rief eine Stimme: Das ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.“ (z.B. Mk 9,7f.) Viele weitere Beispiele lassen sich finden. Aber lassen wir es hierbei bewenden. Entscheidend ist, dass sich im Verhüllen zugleich das Enthüllen erschließt, ein Vorgang, der für die Kunst im allgemeinen und für die bildende Kunst im besonderen gilt.
Wir feiern diesen Aschermittwochsgottesdienst in der Sepultur des Domes. Georg Meistermann
(1911 - 1990) hat hier 1956 einen Fensterzyklus geschaffen, der diesem Prinzip des Enthüllens durch das Verhüllen folgt. Die Themen des kirchlichen Jahreskreises fasste er in diesen neun Fenstern: Advent – Epiphanie – Österliche Bußzeit – Paschamysterium – Pfingsten – Trinität – Eucharistie – Allerheiligen – Allerseelen.
Seinem künstlerischen Credo folgend: „Kunst ist nicht aufs Verstehen, sondern auf Erkennen aus“ (Hofmann, Grenzüberschreitungen, S. 95) baute er seine Fenster aus der scheinbaren Unvereinbarkeit von kompositorischem Gerüst und in die Balance differenzierter Farbfelder übergehender Bilder auf. Er vereinbarte das Starre mit dynamisch Fließendem. Oder umgekehrt: Aus einzelnen dünnen Strichen konzentrierte und kontrastierte er den Bildaufbau in große Flächen hinein.
Er sagte selbst einmal: „In der Technik der Einzelführung arbeite ich immer schon mit gelagerten Strichführungen, so dass man den Eindruck hat, durch diese Strichlagen und ihre verschiedene Rhythmen so hindurch zu sehen, wie man etwa durch einen Bindfadenregen hindurchsieht. Man sieht eben in den Regen selbst, und ich denke, auf diese Weise in der Malerei ein Bild zu machen, in das man auf eben solche Weise hineinsieht, wie es dann auch aus sich selber zu entstehen scheint. Die Problematik liegt zwischen großflächigen, mehr oder weniger schweren, geschlosseneren Formen und farbigen, unbegrenzten zerfransten Formen, die eher Erscheinungen andeuten, wobei ich manchmal auf sehr großräumige Kontraste und ein andermal auf sehr detaillierte Farbigkeit komme.“ (Ebd. S. 100f.)
Diesem technischen Vorgang entspricht ein inhaltlicher: Durch das Verhüllen des Blickes wird ein Durchblick in eine dahinter liegende Bildsicht ermöglicht. Meistermann versucht die Fläche an sich, den Bildgrund aufzubrechen und in eine nicht mehr sichtbare, dahinter liegende Dimension zu gelangen. Über eine Entkörperlichung der Wände, der Bilder und der Fenster will er die Materie entstofflichen. So wird für ihn das materielle Universum zu einem Symbol des nicht mehr Wahrnehmbaren. Seine Fenster leben aus dem anspruchsvollen Spiel von Linie, Fläche und Farbe, vom Kontrast der Helligkeitswerte und dem Gebrauch der Valeurs. Das Entscheidende dabei ist der Versuch, aus Transparenz Transzendenz und aus schlichten, starken, wirksamen Zeichen die Wirklichkeit Gottes aufscheinen zu lassen.
In dieser Feier wird uns gleich das Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet. In einem Segensgebet zur Aschenweihe heißt es: „Segne diese Asche, mit der wir uns bezeichnen lassen, weil wir wissen, dass wir Staub sind und zum Staub zurückkehren.“ Dies ist aber nur der materielle Verweis auf unsere irdische, körperliche Existenz. Im letzten geht es um die himmlische Wirklichkeit, auf die wir hinleben dürfen und die mit der Besiegelung eines Kreuzes auf der Stirn in der Apokalypse angesprochen wird (vgl. Apk 7,3ff.). Der Verweis auf unsere irdische, endliche Existenz ist zugleich der Aufruf, die himmlische, ewige Verheißung nicht aus dem Blick zu verlieren. Darum heißt es weiter in dem Segensgebet: „Hilf uns, die vierzig Tage der Buße in rechter Gesinnung zu begehen. Verzeihe uns unsere Sünden, erneure uns nach dem Bild deines Sohnes und schenke uns durch seine Auferstehung das unvergängliche Leben.“ So wird das Auftragen des Aschenkreuzes zu einem verhüllenden Zeichen unserer Endlichkeit, das unseren Glauben an das Ewige Leben enthüllt. Amen.
(1006/0357)