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„Märchen sind offen für Erfahrungen mit Gott“

Interview mit Sabine Lutkat, Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, und Dr. Dietmar Kretz, Studienleiter an der Domschule Würzburg, zum Internationalen Märchenkongress „Macht und Ohnmacht“

Würzburg (POW) Unter dem Titel „Macht und Ohnmacht. Erfahrungen im Märchen und im Leben“ findet vom 21. bis 25. September 2016 in Würzburg der Internationale Kongress der Europäischen Märchengesellschaft statt. Welche Idee hinter dem Motto steckt und was Märchen und Religion verbindet, erläutern Sabine Lutkat, Präsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, und Dr. Dietmar Kretz, Studienleiter an der Domschule Würzburg, im folgenden Interview.

POW: Der Kongress steht unter der Überschrift „Macht und Ohnmacht. Erfahrungen im Märchen und im Leben“. Wie kamen Sie auf dieses Thema?

Sabine Lutkat: Jeder Mensch hat in seinem Leben mit den Begriffen Macht und Ohnmacht zu tun, jeden Tag, in den unterschiedlichsten Beziehungen. Märchen enthalten viele Bilder, die das Verhältnis von Macht und Ohnmacht beschreiben. Sie haben Bezug zu aktuellen Lebenserfahrungen. Ein Vortrag behandelt beispielsweise das Thema „Märchenkinder zwischen Ohnmacht und Leiden, Flucht und Erfolg“. Wie reagieren Kinder und Jugendliche, wenn solche Märchenbilder auf ihre eigenen Erfahrungen treffen? Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, um mit Macht umzugehen: Man kann vor ihr fliehen, sich ihr stellen, sich auflehnen oder sich arrangieren.

Dr. Dietmar Kretz: Besonders kann auch jede zwischenmenschliche Interaktion unter dem Gesichtspunkt von Macht und Ohnmacht beschrieben werden. Davon sind auch die Märchen stark geprägt. Bei der Auswahl der Einzelthemen liegt hier natürlich ein Schwerpunkt. Wobei natürlich auch der Blick auf das Ich, also die eigene Persönlichkeit, immer mitschwingt.

POW: Märchen werden oft als reine Geschichten für Kinder angesehen.

Lutkat: Märchen waren ursprünglich Geschichten von Erwachsenen für Erwachsene. Es ging darum, Lebensdeutungen und -erfahrungen weiterzugeben. Die Zuhörer sollten spüren: Das sind Geschichten des Lebens, die mit mir und meiner Lebenserfahrung zu tun haben. Sie haben einen Bezug zum Leben. In Deutschland kennen Kinder und Erwachsene meist nur die immer gleichen Grimm‘schen Märchen. Aber wenn man über Deutschland, über Europa hinausgeht, gibt es einen unendlichen Schatz an Märchen.

Kretz: Märchen sind verdichtete Lebenserfahrungen, die immer wieder weitererzählt wurden. Irgendwann wurden sie dann verschriftlicht. Wir kennen das auch von einigen Texten aus der Bibel. Und wenn Märchen dann erzählt werden, nicht vorgelesen, dann werden bei den Zuhörenden Emotionen geweckt. Vermutlich auch, weil sich der Erzähler selbst als Person hineingibt. Die Sprache wird so zum Ereignis. Auch hier gibt es Parallelen zur Bibel. Ich kann mich noch gut erinnern: Wenn ich den Schülern im Religionsunterricht eine Bibelstelle nicht nur vorgelesen, sondern erzählt habe, waren alle – ich eingeschlossen – viel mehr mit dabei.

POW: Viele Menschen empfinden Märchen als grausam. Kinder werden ausgesetzt, Hexen verbrannt…

Lutkat: Die Grausamkeit in Märchen ist immer wieder ein Aspekt, zum Beispiel in Gesprächen mit Eltern. Doch was wird als grausam empfunden? Die Grausamkeit bildet oft die Bestrafung des Bösen ab. Das Böse kann und soll vernichtet werden. Diese Bestrafung des Bösen schafft letztlich ein Grundvertrauen, einen Lebensoptimismus. Würde man das weglassen, dann würde dem Märchen das Mut-Machende fehlen. Das wäre, als würde im Fernsehkrimi nur noch der Böse gewinnen.

POW: Gibt es Anknüpfungspunkte zwischen Märchen und Religion?

Lutkat: Prinzipiell sind Märchen offen für Erfahrungen mit Gott. Sie passieren überall, ohne dass das explizit benannt wird. Ein Beispiel hierfür sind die hilfreichen alten Männer und Frauen, die einfach so auftauchen und wieder verschwinden, ohne dass erzählt wird, woher sie kommen oder wer sie sind. Sie stehen den Märchenfiguren hilfreich zur Seite, geben notwendige Gaben, sie können aber auch prüfen und strafen. Ein weiterer Aspekt, der auf die religiöse Dimension der Märchen verweist, ist die Tatsache, dass es im Märchen sowohl die diesseitige Welt mit den Figuren Mutter, Vater, König, Königin, Dummling oder Aschenputtel gibt, daneben aber auch die sogenannte Jenseitswelt, die Anderswelt existiert. Beide Welten stehen im Austausch miteinander und sind nicht voneinander abzutrennen. Auch das Grundvertrauen ins Leben und seinen Sinn, das die Märchenhauptfiguren auszeichnet, ist letztendlich eine zutiefst religiöse Lebenshaltung.

Kretz: Märchen eröffnen – wie Kunst, Musik, Literatur – Diskurse zur Wirklichkeitsdeutung. Damit können sie helfen, dass der Mensch sich selbst, die Welt und auch Gott versteht. Genau hier setzt auch kirchliche Erwachsenenbildung an. Ihre Basis ist, wie jedes pastorale Handeln, der Glauben an die Berufung des Menschen, zu der uns das Zweite Vatikanische Konzil verpflichtet. Das Thema „Macht und Ohnmacht“ beschreibt ja nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch gemeinschaftliche Aspekte. Damit sind wir auch bei der Kirche. Markant ist dabei, dass wir als Kirche unsere Hoffnung auf ein Zeichen setzen, das für die Ohnmacht steht: das Kreuz. Daher bin ich schon gespannt auf die drei Theologen und ihre Beiträge auf dem Kongress.

sti (POW)

(2016/0577; E-Mail voraus)

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