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„Mehr Zivilgesellschaft wagen!“

Auftakt der Kampagne „Armut trifft…“ – Professorin Dr. Jutta Allmendinger sprach über Dimensionen von Armut und bestärkte die beteiligten Verbände in ihrem gemeinsamen Kampf gegen Armut

Würzburg (POW) Als vorbildhaft hat Dr. Jutta Allmendinger, Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität Berlin sowie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), das gemeinsame Engagement katholischer Verbände im Bistum Würzburg gegen Armut gewürdigt. Bei der Auftaktveranstaltung der Kampagne „Armut trifft…“ referierte die renommierte Wissenschaftlerin im Würzburger Burkardushaus vor rund 50 Präsenz- und weiteren 30 Onlineteilnehmern über Armut in Deutschland.

An der auf mehrere Jahre angelegten Kampagne „Armut trifft...“ beteiligen sich neben dem Familienbund der Katholiken (FDK) als Initiator die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), das Kolpingwerk, die Ackermann-Gemeinde, der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB), die Ländliche Familienberatung der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) und der Katholischen Landvolkbewegung (KLB), die Caritas, der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), die Gemeinschaft Sant‘ Egidio und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Ziel sei es, „das eher unterbelichtete Thema Armut stärker in die Öffentlichkeit zu bringen“, erklärte Claus Schreiner vom FDK zu Beginn. Zugleich wolle man „gemeinsam überlegen, was auf welcher Ebene dagegen unternommen werden kann, denn: Es ist ein Skandal, dass so viele Menschen an oder unter der Armutsgrenze leben!“

Allmendinger begann mit einigen konzeptionellen Überlegungen. „Armut nur an finanziellen Aspekten festzumachen, greift zu kurz“, stellte sie klar und betonte das Recht auf Teilhabe – an der gesellschaftlichen Entwicklung, an Wohlstandsvermehrung, Kultur, Wissenschaft und Politik. Zur rein materiellen Einkommens- und Vermögensarmut treten damit weitere Dimensionen wie Umsetzungs- und Gestaltungsarmut, Bildungs-, Wohn- und Gesundheitsarmut. Dass Deutschland beim Einkommen mittlerweile ein relativ stabiles Niveau erreicht hat, habe mit Maßnahmen wie Mindestlohn und Hartz IV zu tun, sagte Allmendinger. Das Vermögen konzentriere sich dagegen immer mehr auf wenige Menschen, der Anteil armutsgefährdeter Menschen nehme zu. Günstiger Wohnraum werde immer seltener, das Bildungsgefälle zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Schichten immer größer. Der Grund dafür liegt nach Erfahrung der Soziologin darin, dass viele Eltern und Kinder gar nicht erreicht werden. „Es reicht nicht, nur das Bildungssystem zu verbessern. Wir brauchen eine aufsuchende Bildungsunterstützung in Kitas und Schulen.“ Und: „Die Integration via Sprache ist zentral.“ Bei der Stadtplanung müsse ein höherer Anteil an günstigem Wohnraum berücksichtigt werden: „Das hat auch Effekte auf die Durchmischung der Schulen, baut Stereotypisierung und Vorurteile ab.“

Am wenigsten von Armut betroffen sind nach Aussage der Soziologin Haushalte mit zwei Vollzeiteinkommen, am meisten bedroht Alleinerziehende. Corona habe die Situation noch verschärft: „Viele Kinder haben deutlich weniger gelernt, die Ungleichheit ist extrem gestiegen, Gesundheitsarmut und Selbstbestimmungsarmut haben zugenommen, psychologische Stabilität und Sozialität gelitten.“

Das Argument, dass Hilfen aus dem Bildungs- und Teilhabegesetz kaum genutzt würden, entwertete Allmendinger vehement: „Die Gelder werden nur marginal abgegriffen, weil die Bürokratie viel zu hoch ist. Die Menschen wissen gar nicht, wo es welche Hilfe gibt.“ Hier brauche es vereinfachte Zugänge und ein Vorgehen aus einer Hand, mit geringen bürokratischen Hürden, ohne großen Zeitaufwand und Schameffekte. Zu überdenken sei auch das Familienmodell, erläuterte Allmendinger weiter. „Wir geben Müttern viele Anreize für Unterbrechungen und Teilzeit, was dazu führt, dass sie später in ganz anderen Berufen arbeiten müssen als sie sich vorgestellt haben.“ Der entsprechende Bewusstseinswandel sei in den Familien im Gange, „jetzt müssen wir das auch auf betrieblicher Ebene umsetzen“.

Nach der Fragenrunde mit der Expertin gaben die beteiligten Verbände Einblicke in ihre tägliche Arbeit oder sprachen erste Lösungsansätze an. Carolin Vollmuth vom SkF forderte eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes und die Einführung von Kindergrundsicherung und Grundeinkommen. Dorothea Schömig vom Kolpingwerk betonte den Stellenwert von Kolpinghäusern und -schulen, in denen vorbehaltlos und solidarisch geholfen werde. Hans-Peter Dörr von der Ackermann-Gemeinde machte klar, wie Deutschland sich seinen Wohlstand erkaufe – mit prekären Einkommens- und Wohnverhältnissen von Arbeitsmigranten und dem Leiden der in den Herkunftsländern zurückgelassenen Kinder. Der KDFB forderte gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit und eine partnerschaftliche Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit. „Die Übernahme von Kindererziehung, Pflege und gesellschaftlichem Engagement muss ohne ein höheres Risiko für Altersarmut möglich sein“, sagte Liselotte Feller. Die KAB sieht in der Anhebung des Mindestlohns auf 14 Euro ein probates Mittel zur Armutsbekämpfung. Es würde mehreren Millionen Menschen helfen und wirke auch gegen Altersarmut, rechnete Robert Reisert vor. Angelika Haaf von der Ländlichen Familienberatung richtete den Blick auf hoch verschuldete Landwirtsfamilien. Hinter großen Höfen verberge sich neben Armut häufig ein Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung, Familienleben und sozialer Teilhabe sowie starke psychische Belastung.

Neben der schmerzlichen Bestätigung des Armutsausmaßes nahmen die Teilnehmer des Abends vor allem Ermutigung mit. „Es ist ein gutes Zeichen für unsere Gesellschaft, dass so viele Menschen hochgradig aktiv sind“, resümierte Allmendinger. Um die anstehenden Probleme zu lösen, brauche man Geld, ebenso wichtig sei aber die Bereitschaft zur Öffnung, zu gegenseitiger Akzeptanz und Anerkennung. „Beim Impfen haben wir gesehen, wie wichtig es ist, in die verschiedenen Milieus hineinzugehen. Hier müssen wir künftig mehr Zivilgesellschaft wagen!“

Die Zufriedenheit eines Landes geht nach Ansicht der Soziologin mit einer „möglichst hohen Teilhabe aller und möglichst wenig Ungleichheit“ einher. An diesem Punkt müsse man ansetzen. „Wir brauchen den Zusammenschluss von Vereinen, Organisationen und Stiftungen und das Zusammengehen mit der Zivilgesellschaft.“ Der Druck, den man gemeinsam erzeugen könne, sei nicht wenig, betonte sie und gab der Kampagne den Rat mit auf den Weg: „An einem Strang ziehen, zusammenführen, sichtbarmachen!“

Unterstützung bei diesem Ziel sagte auch Domkapitular Albin Krämer, Leiter der Hauptabteilung Seelsorge, zu. Er sieht in der Kampagne eine Chance, die Gesellschaft mitzugestalten. „Verbände sind das Auge des Bischofs“, so Krämer: „Sie schauen und hören hin, wo Not ist, wo es brennt, wie der Alltag geht.“ Die Verantwortlichen bat er, gut im Gespräch zu bleiben und ihre reiche Erfahrung einzubringen, denn auch in den künftigen pastoralen Räumen werde Sozialraumorientierung eine wichtige Rolle spielen.

Anja Legge (FDK)

„Armut trifft…“  Die nächsten Veranstaltungen 

  • Familienforum „Armut trifft… Familien“ des FDK in Kooperation mit dem SkF am Samstag, 20. November, 9.30 bis 16 Uhr, Martinushaus Aschaffenburg, mit Professor Dr. Christoph Butterwegge.
  • „Armut trifft… Arbeitnehmer/-innen – Wertvoll arbeiten“ der KAB am Samstag, 14. Mai 2022, 10.30 bis 16 Uhr, Martinushaus Aschaffenburg.   

(4321/1027; E-Mail voraus)

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