Würzburg (POW) Als Konrektor am Förderzentrum mit Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in Würzburg hat Dr. Holger Preiß täglich mit Behinderung und Inklusion zu tun; mehrere Jahre war der Sonderpädagoge bei Intakt tätig und hat über virtuelle Selbsthilfe promoviert. Im folgenden Interview berichtet der Experte, warum Selbsthilfe so wichtig ist und warum das Portal www.intakt.info Vorbildfunktion hat.
POW: Inklusion wird mittlerweile in einem Atemzug mit Behinderung genannt, die Realität ist aber oft schwierig. Welche speziellen Probleme und Bedürfnisse haben Eltern mit einem Kind mit Behinderung?
Dr. Holger Preiß: Eltern, die sich für den Weg der Inklusion entscheiden, sind darauf angewiesen, dass sie für ihr Kind die Hilfen erhalten, die es benötigt. Besucht das Kind spezialisierte Einrichtungen, können Eltern auf das Know-how von Fachleuten zurückgreifen, die Erfahrung mit der Förderung, Therapie und auch der leider nicht immer wohlwollenden Genehmigungspraxis von Kostenträgern haben. Jenseits von Spezialeinrichtungen Unterstützung zu finden ist dagegen nicht immer einfach und gelingt auch nicht allen Eltern. Im Sinne der Kinder mit ganz besonderen Bedürfnissen empfinde ich es als unannehmbar, wenn die bestmögliche Förderung oder Hilfsmittelversorgung davon abhängt, ob Eltern zufällig an die richtigen Leute geraten. Eine bessere Vernetzung vorhandener Angebote halte ich deshalb für ein wesentliches Ziel.
POW: Welchen Beitrag kann hier die Selbsthilfe leisten?
Preiß: Ein Großteil der Unterstützung geht heute von spezialisierten Einrichtungen aus, die Jahrzehnte Erfahrung gesammelt haben. Wenn Eltern eine Beschulung in der Inklusion wählen, erhalten sie manchmal jedoch keinen Kontakt zu diesen Netzwerken. Selbsthilfe von Eltern untereinander hat hier das Potential, Wissens- und Erfahrungslücken auszugleichen. Darüber hinaus gibt es Dinge, die Fachleute in Beratungsstellen nur selten oder gar nicht erfahren, weshalb sie pragmatische Lösungen einfach nicht anbieten können. Wie viele Berater sind schon mal in der Situation, für einen Jugendlichen mit schwerer geistiger Behinderung einen Zahnarzt zu finden, der sich Zeit für eine Behandlung nimmt, vielleicht auf spielerische Art eine Handpuppe einsetzt oder für eine einfache Vorsorgeuntersuchung auch eine Vollnarkose anbietet, weil der Patient anders nicht dazu zu bewegen ist?
POW: Welche Vorteile bietet die virtuelle Selbsthilfe gegenüber der klassischen Face-to-Face-Selbsthilfe?
Preiß: Virtuelle Selbsthilfe ist immer dann verfügbar, wenn man sie benötigt oder Zeit für einen Austausch hat. Familien mit einem behinderten Kind haben es nicht so leicht, für die Zeit während eines Gruppentreffens einen Babysitter zu finden, der zum Beispiel bei Bedarf Anfallsmedikamente gibt oder die Tochter auch katheterisieren kann. Die hilfreiche Nachbarsfamilie oder die Oma kann eine solche Betreuung oft nicht leisten und Aktivitäten außer Haus sind so schwierig. In der virtuellen Selbsthilfe kann man dagegen jederzeit Erfahrungen anderer Eltern lesen oder Fragen stellen, die einen bewegen. Eine Selbsthilfegruppe ist vielleicht auch nicht jedermanns Sache, weil die Gruppenatmosphäre eventuell unangenehm ist oder man mit seiner persönlichen Situation ungern an die Öffentlichkeit geht. Die Anonymität des Online-Austauschs kann für solche Eltern auch eine Schutzfunktion haben. Im Falle seltener Erkrankungen schließlich finden Eltern vor Ort meist keine Familien in ähnlicher Situation. Über das Internet lassen sich aber auch Eltern finden, die eines von 50 Kindern in Deutschland mit dem gleichen Gendefekt haben. In der Realität bleiben die Kontakte dabei übrigens oft nicht nur virtuell, sondern werden auch auf persönlicher Ebene weitergeführt.
POW: Warum ist das Internetportal www.intakt.info für Sie ein „Paradebeispiel gelungener virtueller Selbsthilfe“?
Preiß: Das Besondere an www.intakt.info ist die Verknüpfung von fachlicher Information, die von den Referentinnen und Referenten sowie fachlich versierten Redakteurinnen und Redakteuren erstellt, geprüft und aktualisiert wird, und der Möglichkeit für Eltern, sich untereinander online auszutauschen. Somit vereint www.intakt.info die Vorteile beider Herangehensweisen an die Lebenssituation von Familien mit einem behinderten Kind. Hinzu kommt: Online-Austausch ist heute zwar über viele Plattformen und soziale Netzwerke kostenlos möglich, bei Intakt können die Nutzer aber sicher sein, dass die doch zum Teil äußerst sensiblen Informationen nicht zum Erstellen von digitalen Benutzerprofilen verwendet werden und der Austausch guten Regeln des sozialen Miteinanders folgt und wertschätzend ist. Dafür sorgen die ehrenamtlichen Moderatorinnen und Moderatoren, die jeden Beitrag lesen und im Notfall auch unterstützend eingreifen.
Das Interview führte Anja Legge
(1020/0257; E-Mail voraus)
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