Würzburg (POW) Zum Jahreswechsel 2016/2017 tritt Kaplan Christian Kern die Aufgabe als Diözesanjugendpfarrer an. Im folgenden Interview erzählt er, wie er sich auf diese Aufgabe vorbereitet, und erläutert, wo er die Chancen kirchlicher Jugendarbeit sieht.
POW: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie gefragt wurden, ob Sie sich die Aufgabe des Diözesanjugendseelsorgers vorstellen könnten?
Kaplan Christian Kern: Ich war überrascht und habe mich über die Anfrage gefreut, weil darin ein großes Vertrauen und Zutrauen von Seiten des Bischofs und der anderen Personalverantwortlichen des Bistums mir gegenüber ausgedrückt wird. Nach einigem Abwägen und guten Gesprächen – unter anderem mit Mitarbeitern der kirchlichen Jugendarbeit (kja) – habe ich dann gerne zugesagt, weil ich glaube, dass die Stelle neben der Pflicht zur Verwaltung auch viele kreative Räume seelsorgerlicher Gestaltung bietet.
POW: Mit welchen Herausforderungen müssen Sie sich jetzt beschäftigen?
Kern: Für mich stellt sich in den kommenden Monaten zunächst die Herausforderung, zügig meine Dissertation abzuschließen. Mein Doktoratsprojekt dreht sich rund um das Thema „Scheitern“. Welche Theologie entsteht, wenn man sich menschlichen Erfahrungen von Scheitern und Lebensbrüchen an „Orten des Scheiterns“ aussetzt? Welche Spiritualität kann eine Ressource sein im Umgang mit Scheiternserfahrungen? Gott ist niemand, der in die Enge führt oder darin belässt, sondern stets neuen, weiten Raum öffnet. Er ist keine Disziplinarmacht, sondern ein Kreativitätsfaktor zum Leben. Diesen Gott gilt es zu entdecken und zu erleben. Das führt dann auch in eine kritische Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft und einer Kirche, die vielerorts erfolgsorientiert ist und das Scheitern von Lebensentwürfen bisweilen tabuisiert. Die Herausforderung, die sich jetzt außerdem stellt, ist, mich gut in das neue Aufgabenfeld als Jugendpfarrer einzuarbeiten. Ich treffe mich regelmäßig mit meinem Vorgänger Stefan Michelberger und lerne im Austausch mit ihm die neuen Aufgabenbereiche kennen. Ich führe außerdem mit den beiden Kollegen aus der Leitungsspitze der kja, Anna Stankiewicz und Matthias Zöller, regelmäßig Gespräche. Im Sommer werde ich am Klausurtag der kja-Leitung teilnehmen.
POW: Welche Herausforderungen sehen Sie darüber hinaus für sich als Diözesanjugendseelsorger und die kirchliche Jugendarbeit insgesamt?
Kern: Da sehe ich Herausforderungen in zwei Richtungen. Einmal „von innen“, also was die Arbeit der Hauptamtlichen der kja, der Einrichtungen und Strukturen betrifft. Was ich momentan wahrnehme, ist beispielsweise: Einige Mitarbeiterposten in den Regionalstellen sind schon längere Zeit unbesetzt. Insgesamt gibt es in der kja eine recht hohe Personalfluktuation. Das ist gut, weil dadurch die Posten in Bewegung bleiben, es erschwert andererseits vielleicht eine kontinuierliche strukturelle und inhaltliche Entwicklung. Auch die Jugendkirchen in Würzburg und Schweinfurt sind offene Baustellen mit Potential. Was kann sich da an Ideen und Konzepten weiter entwickeln? Welche Überlegungen muss man vielleicht fallen lassen, um weiterzukommen? Zweitens: Seit kurzem gibt es eine vom BDKJ ausgearbeitete „Theologie der Verbände“. Darin werden Jugendverbände als wirkliche und eigentliche „Orte der Kirche“ aufgefasst. Kirche findet nicht nur in den Kirchen und Pfarreiräumen statt, sondern ebenfalls – und ganz authentisch – auf den Zeltlagern, in den Jugendgruppen, bei Fahrten, in den offenen Treffen. Mitten im Leben der jungen Leute. Das ist äußerst innovativ und zukunftsfähig. Was bedeutet das für die Pfarreien und die seelsorgerliche Praxis im Jahr 2030? Ich denke, man sollte bei der Neukonzeption der pastoralen Räume noch viel mehr mit Jugendlichen sprechen und von ihrer Sicht her die Strukturen gestalten.
POW: Die Anfragen „von innen“ sind eines. Was sind Faktoren „von außen“?
Kern: Das sind die Herausforderungen, die sich vom Leben der jungen Leute in der heutigen Gesellschaft her ergeben; von den „Zeichen der Zeit“. Migration und Interreligiösität gehören beispielsweise dazu. Ein Großteil der Flüchtlinge sind junge Erwachsene oder Jugendliche. Sie ringen um ihre Anerkennung und auch darum, überhaupt zu Wort zu kommen. Was kann kirchliche Jugendarbeit für sie und mit ihnen gemeinsam tun – auch und gerade, wenn sie keine Christen sind? Welche Impulse können wir geben für ein offenes Europa, das an humanitären Werten orientiert ist? Zu den Merkmalen unserer Zeit gehört darüber hinaus Körperkultur. Es gibt heute eine ausgeprägte Sensibilität für Körperlichkeit, für Körperoptimierung und individuelle Fitness. Junge Leute leben das mit Leidenschaft. Welche Spiritualität steckt dahinter? Welche Facetten des Glaubens lassen sich von dort her mehr entdecken? Und um eine dritte Herausforderung anzuschneiden: Verletzbarkeit und Schwäche. Menschen von heute müssen viel leisten. Individuelle Stärke und Durchsetzungsvermögen sind ein hohes gesellschaftliches Gut. Aber wo sind demgegenüber Orte, wo ich auch verletzbar sein kann? Wo kann ich scheitern? Auch solche Räume kann kirchliche Jugendarbeit öffnen und anbieten. Solche Räume kann es aber nur geben, wenn sie völlig frei sind von Übergriffigkeit und wenn Vertrauen nicht missbraucht wird. Deshalb halte ich eine effiziente Prävention sexuellen Missbrauchs für eine bleibende und auch primäre Herausforderung.
POW: Auf der Jugendseelsorgetagung 2015 der Diözese Würzburg haben Sie als Gastreferent darüber gesprochen, dass es für Kirche entscheidend und wichtig sei, die Spannungen zwischen der Kirche und ihren Ansprüchen auf der einen Seite und der Jugend und ihrer Lebenswirklichkeit auf der anderen Seite auszuhalten. Was bedeutet das für Ihre Arbeit ganz konkret?
Kern: Genau genommen habe ich nicht gesagt, dass man diese Spannung zwischen Leben und Glauben lediglich aushalten müsse, so als existierten zwei getrennte Bereiche – Leben hier, Glauben da. Ich habe vielmehr dafür geworben, dass man diese Spannung produktiv machen sollte. Es kann tatsächlich zu einer bereichernden Wechselwirkung zwischen Leben und Glauben kommen: Vom Glauben, wie er zum Beispiel in den neutestamentlichen Schriften oder den Positionen des Lehramtes formuliert ist, kann Licht auf das Leben der Jugendlichen in der heutigen Zeit fallen. Umgekehrt – und das ist fundamental wichtig – kann vom Leben der jungen Menschen in unserer Zeit Licht fallen auf den Glauben. Er kann von ihrem Leben her tiefer und weiter verstanden werden. Jugendliche sind eine Autorität für den Glauben. Diesen Prozess der wechselseitigen Entdeckung von Leben und Glauben zum Heil der Menschen von heute hat das Zweite Vatikanische Konzil als „Pastoral“ bezeichnet. „Jugendpastoral“ ist der Raum oder genauer die Praxis, in der das Leben von jungen Leuten von heute und der Glaube der Kirche in diese bereichernde, entdeckerische und kreative Wechselwirkung gebracht werden. Das ist kein Selbstzweck, sondern dient den Jugendlichen und der Entfaltung ihres Lebens und ihres Glaubens. Nur eine Kirche, die Leben und Glauben von Jugendlichen ungetrennt und unvermischt zusammenbringt, ist für diese wirklich „spannend“: Sie wird attraktiv und relevant, weil sie lebensnah und gottvertraut ist.
POW: Was bedeutet „lebensnah und gottvertraut“ in der Praxis?
Kern: Die Jugendseelsorgetagung hat einige konkrete Spannungsfelder thematisiert und Mut gemacht, damit kreativ umzugehen. Zum Beispiel die Diskrepanz zwischen der Sprache der Jugendlichen und der Sprache der Liturgie. Zum Beispiel die Spannungen zwischen dem „klassischen“ Familienbild der katholischen Kirche, dessen Wurzeln unter anderem im 19. Jahrhundert liegen, und den realen Situationen der jungen Leute in Patchworkfamilien von heute. Als Jugendpfarrer möchte ich mithelfen, dass diese „Jugendpastoral kreativer Entdeckungen“ in den Räumen und Angeboten der kja weiterhin möglich ist und in diesen Spannungen besteht. Das heißt einerseits die Lebenswelten der Jugendlichen immer wieder neu entdecken und zulassen und andererseits den Glauben und seine Schätze tiefer verstehen und anbieten. Daran hängt auch die Qualität der Jugendpastoral unseres Bistums.
POW: Wo sehen Sie die größten Chancen der kirchlichen Jugendarbeit?
Kern: Sie ermöglicht es Jugendlichen in vielfältiger Weise, lebendige Gemeinschaft zu entdecken, zu gestalten und zu erleben. Das betrifft die Gemeinschaft der Jugendlichen untereinander. Es betrifft aber auch die Gemeinschaft mit Gott. Sie können ihn kennen lernen. Und sie können sich auf das Wagnis des Vertrauens einlassen, mit diesem inspirierenden und überraschenden Gott ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Mit Gott ins Leben aufzubrechen – darin sehe ich eine der größten Chancen, die die kirchliche Jugendarbeit jungen Leuten ermöglichen kann.
POW: Gibt es einen Satz, den Sie sich für die neue Aufgabe als Leitlinie nehmen?
Kern: Eine erste Idee für eine Leitlinie ist: „Support vor Ort“. Die Angebote und Einrichtungen und Maßnahmen unserer diözesanen Jugendarbeit dienen den Jugendlichen und ihrem Leben. Welche Unterstützung – welchen „support“ – können wir den jungen Leuten an ihren Orten des Lebens und des Glaubens durch unsere professionalisierte Mitarbeit geben; auf den Zeltlagern, in den Gruppenstunden, in den Pfarreien, in den Schulen, an den anderen Orten, wo sich das Leben der Jugendlichen abspielt? An welche Orte können wir eventuell neu gehen, wo wir bisher noch nicht sind?
POW: Zum Schluss eine Bitte: Vervollständigen Sie den folgenden Satz: Diözesanjugendpfarrer im Bistum Würzburg zu sein ist eine wundervolle Aufgabe, weil….
Kern: … in der kja eine große Vielfalt von Mitarbeitern da ist, die menschlich sehr reich und fachlich hoch qualifiziert sind; und weil Jugendliche mich mit ihrer Kreativität und Spiritualität immer wieder überraschen und beschenken.
Interview: Markus Hauck (POW)
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