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Mitten im Leben

Günter Fries lebt seit 44 Jahren mit der Glasknochenkrankheit – Sein Kopf ist das größte Kapital

Aschaffenburg (POW) Sein kleiner Körper verschwindet fast in dem großen Elektrorollstuhl. Günter Fries misst nur 110 Zentimeter, und obwohl er 44 Jahre alt ist, wiegt er mit 20 Kilo so viel wie ein Kleinkind. Der energiegeladene Mann ist schwerstbehindert. Von seinem Vater, der selbst nicht so stark betroffen war, erbte er Osteogenesis imperfecta, die Glasknochenkrankheit. Wie bei einigen tausend Menschen, die in Deutschland mit dieser Krankheit leben, produziert sein Körper kein knochenerhärtendes Kollagen. Seine Knochen sind weich und können jederzeit brechen, der kleine Mann braucht ständig Hilfe. Als Kind bekam er alle drei bis vier Jahre Stabilisierungsstifte in die Oberschenkel eingesetzt, der Operationstisch wurde ihm ein vertrautes Möbelstück.

Im Gegensatz zu seinem Körper, mit dem er nicht viel machen kann – selbst alleine essen, trinken oder Zähne putzen ist kaum möglich – verfügt er über einen klaren Kopf und scharfen Verstand. Eine höhere Schulbildung blieb ihm dennoch verwehrt. Die Zeit war damals noch nicht reif für solche Menschen wie ihn, sagt er selbst. Der Kindergarten hatte ihm und seinem jüngeren Bruder, bei dem die Krankheit nur ganz leicht ausgeprägt ist, die Aufnahme verweigert. Zu groß war die Unsicherheit bei den Verantwortlichen. Als er in die Schule kommen sollte, stand das Körperbehindertenzentrum in Würzburg zur Diskussion. Dort seien damals Kinder mit unterschiedlichen Formen der Behinderung aufgenommen worden. „Da ich keine geistige Behinderung habe, wollten mich meine Eltern nicht in diesen ‚Gemischtwarenladen‘ stecken“, sagt Fries.

Folglich besuchte er die normale Grundschule in Schweinheim. Sechs Jahre blieb er dort, immer wieder unterbrochen durch Knochenbrüche und Operationen. Seine Mutter war jeden Tag in der Schule dabei – Schulbegleiter kannte man noch nicht. Ein Wechsel auf die Hauptschule war nicht möglich, da die Fachräume nicht barrierefrei waren und die Schulleitung nicht wusste, wie sie mit ihm verfahren sollte. Fries bekam daher zu Hause Einzelunterricht. „Für meine Eltern hat das einen Riesenkampf gegen die Schulbehörde bedeutet.“ Obwohl er alles konnte und vergleichende Tests bestanden hatte, verweigerte ihm die Hauptschule einen ordentlichen Abschluss. Er bekam nur ein Abschlusszeugnis, was ihm den Übergang in den Beruf nicht gerade erleichterte. Doch Fries, der bei einem Besuch im Rehazentrum Köln ein Magnettippfeld kennen gelernt hatte, mit dessen Hilfe er elektrische Schreibmaschinen bedienen konnte, wusste inzwischen, was er wollte. Über das Sozialamt und das Arbeitsamt bekam er die nötige Ausstattung, später bei der Stadt Aschaffenburg eine Halbtagsstelle in der Verwaltung der Volkshochschule. Seinen Job übt er als Telearbeit von zu Hause aus, einmal in der Woche kommt er ins Büro. Inzwischen kann er auf 25 Dienstjahre blicken.

Ob er sich behindert fühlt? „Natürlich habe ich eine schwere Behinderung, doch oft wird man auch von der Umgebung zu einem Behinderten gemacht, zum Beispiel durch Hindernisse wie Stufen und Treppen und bauliche Unzulänglichkeiten, die eigentlich nicht mehr nötig sind. Wenn ich den Glauben – sowohl den festen Glauben an Gott als auch den Glauben an mich selbst – und die wunderbare Fürsorge durch meine Mutter, eine examinierte Krankenschwester, nicht gehabt hätte, hätte ich es nicht geschafft.“

Bis vor vier Jahren lebte Fries alleine in seinem Elternhaus, die Eltern sind Ende der 90er Jahre gestorben. Im Jahr 2008 bezog er eine barrierefreie kommunale Wohnung, doch ohne ständige Hilfe kann er seinen Alltag nicht bewältigen. Morgens kommt die Sozialstation für die Körperpflege, während des Tages helfen ihm Arbeits-, Wohn- und Freizeitassistenten. Bis zu zehn Stunden am Tag kann er sie beanspruchen. Sie halten ihm die Wohnung sauber, kochen und kaufen mit ihm ein oder begleiten ihn auf seine Arbeit, in die Stadt oder zu abendlichen Veranstaltungen. Die Gefahr, dass die Krankheit weiter voranschreitet, ist allgegenwärtig. Fries hat inzwischen Probleme mit dem Herzen, auch Knochenbrüche können immer wieder auftreten. „Doch man soll sich von seiner Behinderung nicht beherrschen lassen“, sagt er. Daher geht der Peter-Maffay-Fan auch gerne in Konzerte. Oder zu einem Kochkurs in die barrierefreie Volkshochschule. Er kann zwar nicht selber kochen, doch dabei zu sein, zuzusehen und alles riechen zu können macht ihm großen Spaß.

Eingeschränkt fühlt sich Fries im Alltag nicht. „Ich bin mit dieser Krankheit aufgewachsen, und habe das Leben daher nie anders kennen gelernt. Es hat alles seinen Sinn im Leben. Jeder von uns hat seine Aufgabe und seine Prüfung zu bewältigen.“ Und er ist sich sicher, gegenüber nichtbehinderten Menschen etwas voraus zu haben. „Mit einer Behinderung wie der meinen lernt man sehr vorausschauend zu denken. Mein Kopf und meine Lebensphilosophie sind mein größtes Kapital.“

Der Kampf mit seiner Umgebung um Anerkennung seiner Fähigkeiten hat ihn viel Kraft gekostet und ungeduldig werden lassen. Die Gesellschaft sei immer noch nicht ganz auf solche Menschen wie ihn eingestellt, ist er sich sicher. Noch immer gebe es viele Probleme, vor allem in der Architektur. Doch Fries, eine Kämpfernatur, hat hier schon viel erreicht. Wie sein Vater engagierte er sich in der Behindertenarbeit der Stadt, zuletzt als Vereinsvorsitzender. Sichtbarer Erfolg dieser Arbeit war ein Aufzug, den die Stadtverwaltung in den großen Sitzungssaal des Aschaffenburger Rathauses einbaute.

Die Mitarbeit in der Behindertenarbeit war Fries nicht genug. In Schweinheim baute er einen integrativen Jugendtreff auf, denn Jugendarbeit, so seine Beobachtung, werde auf vielen Ebenen vernachlässigt. Zweieinhalb Jahre saß Fries im Pfarrgemeinderat, im Vorstand der Aschaffenburger Lebenshilfe ist er auch. Seit 1996 ist er aktives SPD-Mitglied, bei der letzten Kommunalwahl kandidierte er als erster Rollstuhlfahrer um ein Stadtratsmandat. Er hat es verfehlt, konnte sich jedoch – darauf ist er stolz – mit über viertausend Stimmen von Platz 32 auf Platz 28 der Liste vorkämpfen. Die politische Arbeit begleitet er weiterhin im Vorstand des Stadtverbandes und im Unterbezirksvorstand.

Fries fordert andere Menschen mit Behinderung auf, sich im öffentlichen Leben mehr einzumischen. Das fange schon in der Schule an. „Wir brauchen keine speziellen Sonder- oder Förderschulen, sondern integrative Schulen. Wir sollten es sogar erreichen, dass Klassen von ‚normalen‘ Schülern in eine Förderschule integriert werden. Damit die Kinder zumindest in den Pausen Kontakt miteinander haben.“ Durch diese Trennung in der Gesellschaft fehlten vielen Menschen Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung. Viele hätten Hemmschwellen, auf Menschen wie ihn zuzugehen. Daher sei es umso wichtiger, dass Menschen mit Behinderung selbst aktiv auf andere zugehen, ihre Rechte gegenüber nichtbehinderten Menschen vertreten, in die Politik oder in Vereine gehen. „Sie müssen es aber auch wollen und sich nicht in ihre Behinderung zurückziehen“, mahnt Fries.

(1711/0473; E-Mail voraus)

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