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„Mutter der christlichen Theologie“

Judaist und Exeget Professor em. Dr. Dr. Karlheinz Müller zur Apokalyptik als Start der Christologie – Vortragsreihe innerhalb des Projekts „Endspiel – Würzburger Apokalypse 2010“ lockt viele Interessenten

Würzburg (POW) Auf sehr reges Publikumsinteresse ist die Vortragsreihe über die Apokalypse aus theologischer Sicht des Würzburger Judaisten und Neutestamentlers Professor em. Dr. Dr. Karlheinz Müller gestoßen, die im Rahmen des Projekts „Endspiel – Würzburger Apokalypse 2010“ stattfand. Welche Bedeutung die Apokalypse als Weltanschauung hatte und hat und weshalb die Offenbarung nur einer von vielen apokalyptischen Texten ist, erläutert Müller im folgenden Interview.

POW: Herr Professor Müller, Sie haben im Rahmen des Projekts „Endspiel. Würzburger Apokalypse 2010“ eine theologische Vortragsreihe zum Thema Apokalypse gehalten, zu der im Durchschnitt 150 Personen pro Abend kamen. Wie erklären Sie sich das große Interesse an einem wissenschaftlichen Thema?

Professor em. Dr. Dr. Karlheinz Müller: Ich nehme einmal an, dass es die Überraschung über die unerwartete Ausfaltung des Themas „Apokalyptik“ war, welche die Neugierde meiner Zuhörer an zehn Abenden im Rudolf-Alexander-Schröder-Haus geweckt hat. Denn „Apokalyptik“ meint nicht nur die Johannesapokalypse im Neuen Testament und ihre Bilder. „Apokalyptik“ ist eine hoch differenzierte Weltanschauung, welche am Ausgang des dritten Jahrhunderts vor der Zeitenwende die sehr unterschiedlichen nationalen Hoffnungsspektren der Perser, der Ägypter und schließlich auch der Juden traf und umwandelte. Später prägte die apokalyptische Weltsicht – ebenso maßgebend wie je verschieden – die Verkündigung Johannes des Täufers und die Weltdeutung seines Schülers Jesus von Nazaret. Das apokalyptische Basiswissen forderte und bestimmte dann den Start der Christologie im Neuen Testament, und auf ihm baut die Weltsicht des Paulus sowie des ganzen Urchristentums auf. „Apokalyptik“ ist in der Tat „die Mutter der christlichen Theologie“, wie es der evangelische Neutestamentler Ernst Käsemann – nach wie vor gültig – formulierte.

POW: Was ist unter dem Begriff Apokalyptik zu verstehen? Und gibt es überhaupt „die“ Apokalyptik?

Müller:„Apokalyptik“ ist eine spezifische Sicht auf die Zukunft. Denn man kann auf zwei verschiedene Weisen über Zukunft reden. Zum einen dadurch, dass man Zukunft als eine Wiederbringung des als ideal erinnerten Uralten versteht. In der biblisch-jüdischen Tradition geschah dies in den Schienen des alten „heilsgeschichtlichen“ Denkens – und man sprach zum Beispiel von der „Wiedererrichtung der verfallenen Hütte Davids“, von einem zweiten Exodus oder von einer erneuten Landnahme. Die andere Möglichkeit, von Zukunft zu reden, besteht darin, alles bisher Dagewesene als zukunftsrelevant zu verneinen und die Zukunft als Abrogierung alles Derzeitigen und Schon-Einmal-Erfahrenen zu erwarten – also die alten „heilsgeschichtlichen“ Daten zu verabschieden und sich auf eine streng utopische Hoffnung einzulassen: Man erwartete am „Ende der Tage“ einen fundamentalen Machtwechsel auf Erden und im Kosmos, den Gott selbst und allein auf wunderbare Weise zu seinen Gunsten herbeiführen werde und der Gottes endgültige sowie alleinige Herrschaft zum Ergebnis haben sollte. Diesem endzeitlichen Machtwechsel zugunsten Gottes wird ein einziges großes Gericht vorausgehen, das auch die Toten einbezieht. Da aber Tote nicht gerichtet werden können, setzt dieses Endgericht eine Auferweckung der Toten im Sinne einer Neuschöpfung voraus (erstmals in Daniel 12, 2-3). Und weil die Anhänger der apokalyptischen Weltsicht ihr Leben stets unmittelbar vor diesem „Ende“ anzusiedeln pflegen, ist Naherwartung die normale Begleiterscheinung jedes weltanschaulichen Zugriffs auf das apokalyptische Weltbild. Im Übrigen ist „Apokalyptik“ auf keine literarische Gattung und dauerhaft auch nicht auf eine besondere soziale Gruppierung festgelegt. Sondern die apokalyptische Weltsicht ist eher eine Art Entzündung, die jedes weltanschauliche oder soziale Gewebe befallen kann – wenn die Bedingungen einer grundstürzenden Verfinsterung des aktuellen Erfahrungshorizonts eintreten, wie Kriege, Hungersnöte, Pest, Vergessenheit der Tora und so weiter. All das pflegt die apokalyptische Tradition stets aufzubieten, um ihren Anhängern zu verdeutlichen, dass die erwartete Erlösung den Bruch mit allem Bisherigen voraussetzt und niemals das Ergebnis menschlicher Perspektivpläne sein kann.

POW: Viele denken bei den Worten Apokalypse und Bibel sofort an die Johannesoffenbarung, einen Text, der eine große Wirkungsgeschichte hat. Wie lässt sich dieser Text einordnen? Hört Apokalypse oder vielmehr die apokalyptische Literatur mit der Johannesoffenbarung auf?

Müller: Die Johannes-„Apokalypse“ ist das Buch, welches der „apokalyptischen“ Weltanschauung den Namen gegeben hat. Aber sie ist nur ein Text unter vielen anderen „apokalyptischen“ Texten im Neuen Testament (vgl. Markus 13 parr; 1Thessalonicher 4, 13-18; 1Korinther 15) sowie in der jüdischen Überlieferung, die zum Teil erheblich einflussreicher waren.

POW: Wo liegen Probleme und Gefahren dieses Typus‘?

Müller: Über die Problematik des „apokalyptischen“ Denkens lässt sich unendlich viel sagen. Es kann den Apokalyptiker dazu verführen, die Welt zu verneinen und sich jeder sozialen Verantwortung zu entziehen. Und ruft nicht auch der Prophet Johannes in seiner Apokalypse (18,4) dazu auf, die Stadt Rom zu verlassen? Der apokalyptische Glaube hat stets die Versuchung neben sich, sich mit Realitäts- und Weltverlust zufrieden zu geben: Er kann in Resignation und Pessimismus ausarten und zur ängstlichen Behauptung des Bestehenden ermuntern. Die apokalyptische Weltsicht kann ein unbefriedigendes Leben im Aufschub bewirken, das sich nicht auszugeben versteht und in der Wolke einer illusionären Jenseitshoffnung verdunstet. Es ist aber auch möglich, dass der Apokalyptiker aus der in seinem Bekenntnis angelegten Relativierung der gegenwärtigen Verhältnisse die Berechtigung zu ihrem Umsturz und zur revolutionären Tat ableitet. Dann kann es dazu kommen, dass er die politische Macht bekämpft, um seinem Bekenntnis zur Alleinherrschaft Gottes auf der Bühne der Geschichte zu Ansehen und Recht zu verhelfen. Und so schlummert am Boden des theologischen Basiswissens der Apokalyptik zu allen Zeiten stets ein beträchtliches Quantum gefährlichen Anarchismus’.

POW: Wo sehen Sie Chancen einer Lektüre von apokalyptischen Texten?

Müller: Die Chancen? Im Zentrum des apokalyptischen Denkens steht die Erkenntnis, dass die Erlösung nicht und nirgends in der Geschichte abgesehen werden kann, dass Erlösung niemals das Resultat innergeschichtlicher Entwicklungen sein wird. Der apokalyptische Glaube versagt seinen Anhängern somit jede Möglichkeit, sich an einem Herbei-Drängen-Wollen der Erlösung zu beteiligen. Erlösung bleibt in jeder denkbaren Hinsicht ein absoluter Vorbehalt Gottes. Und das Wissen um diesen Sachverhalt impliziert die Erkenntnis, dass sich eine christliche Kirche unweigerlich aus den Leitkoordinaten der Willensrichtung Jesu von Nazaret entfernt, sobald sie beginnen wollte, die Grenzen ihres unmittelbar kontrollierbaren Einflusses mit den Konturen von Gottes endzeitlicher Herrschaft in eins zu sehen. Diese nüchterne „apokalyptische“ Gewissheit konfrontiert die christlichen Kirchen anhaltend mit der Einsicht in die provisorische Eigenart aller ihnen im Lauf ihrer eigenen Geschichte zugewachsenen Institutionen, Organe und Kompetenzen. Sie ermutigt sie auf Dauer zu dem Entschluss, ihre autoritären Strukturen bis zum Äußersten zurückzunehmen und aus dem notwendig vorläufigen Charakter jeder theologischen Diskussion die harte Folgerung einer grundsätzlich bedachten Toleranz zu ziehen. Wohlwissend, dass sie nur unter der Bedingung eines solchen demütigen und achtungsbereiten Toleranzverhaltens von der endlich säkular gewordenen Gesellschaft als Gesprächspartner akzeptiert werden wird, deren endgültige Zukunft sie ja mitverantwortet.

POW: Sie haben sich sehr ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Müller: Ich habe mich etwa 20 Jahre lang in meinem ersten Leben an der Universität mit der Apokalyptik beschäftigt. Mein Alleinstellungsmerkmal damals war, dass ich als erster versuchte, die gesamte frühjüdische Apokalyptik aus den konkreten zeitgeschichtlichen Anforderungen heraus positiv verständlich zu machen. Das ist mir auch weitgehend gelungen. Inzwischen arbeite ich allerdings längst an anderen Themen: vor allem an der Entwicklung der Halacha im Mittelmeerraum zwischen 500 vor und 100 nach der Zeitenwende.

Zur Person:

Karlheinz Müller wurde 1936 geboren. Er studierte nach dem Abitur Theologie in Bamberg, Würzburg und Heidelberg. 1967 wurde er im Fach Neues Testament bei Professor Dr. Dr. h. c. Rudolf Schnackenburg in Würzburg promoviert. Anschließend wirkte Müller fünf Jahre lang als Assistent bei Schnackenburg. 1972 habilitierte er in Graz zum Thema „Die Juden und die Septuaginta“. Im gleichen Jahr wurde er auf den „Lehrstuhl für Biblische Einleitung und Biblische Hilfswissenschaften“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg berufen. 1982 promovierte Müller, verheiratet und Vater von vier Kindern, im Fach „Judaistik“ bei Professor Dr. Dr. Dr. h. c. Johann Maier in Köln. Der Schwerpunkt von Müllers wissenschaftlicher Arbeit lag auf den Themen historischer Jesus, Entwicklungslinien der neutestamentlichen Christologie, Geschichte des alten Israel und des Frühjudentums, Anfänge und Werdegang der jüdischen Apokalyptik sowie der Erforschung der frühjüdischen Halacha im Mittelmeerraum seit der Perserzeit. Müller arbeitete im Rahmen mehrerer Projekte der „German-Israeli Foundation“ mit israelischen Mediävisten zusammen. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 gehörte er der „Arbeitsgruppe für Fragen des Judentums“ bei der Ökumene-Kommission der Deutschen Bischofskonferenz an und war Katholischer Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken e.V.

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