Würzburg (POW) An die erste Deportation von Jüdinnen und Juden aus Würzburg am 27. November 1941, vor genau 82 Jahren, haben am Montagabend, 27. November, die Gemeinschaft Sant’Egidio und die Israelitische Kultusgemeinde erinnert. Vom „GedenkOrt Deportationen“ am Würzburger Hauptbahnhof zogen nahezu 180 Menschen bei Kälte und Schneeregen mit Kerzen in den Händen durch die Innenstadt bis zum Rathaushof. Einige trugen Schilder mit den Namen der nationalsozialistischen Konzentrationslager, in denen jüdische Menschen aus Unterfranken getötet wurden. Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Zukunft braucht Erinnerung“.
Vladlena Vakhovska vom Gemeindevorstand der israelitischen Gemeinde Würzburg und Unterfranken verlas das Grußwort von Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dieser begleitete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf einem kurzfristig anberaumten Besuch in Israel. In seinem Grußwort erinnerte Schuster in beklemmenden Worten an die 202 Würzburger Juden, die bei der ersten Deportation in das Vernichtungslager Riga gebracht wurden. „Was bekamen die nichtjüdischen Würzburgerinnen und Würzburger von diesem Elendszug mit? Von Protesten gegen diese unmenschlichen Behandlungen ist nichts bekannt.“ Bei den insgesamt neun Deportationen seien mehr als 2000 Juden aus Würzburg und Unterfranken verschleppt und ermordet worden.
Weitere Bilder
Schuster dankte allen, die die Erinnerung an diese Nacht wachhalten. „Gerade in dieser Zeit brauchen wir Sie alle, Ihre Freundschaft, Ihre Solidarität und Empathie“, appellierte er. Beim Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober seien 1400 Israelis ums Leben gekommen, 240 Geiseln seien in den Gazastreifen verschleppt worden. „Israel und die Juden hierzulande und in aller Welt haben viel Solidarität und Freundschaft erfahren in dieser Zeit. Aber einige, auf deren Solidarität wir gehofft hatten, haben auch donnernd geschwiegen, zum Beispiel die Künstlerinnen und Künstler.“ Auf Pro-Palästina-Demonstrationen habe sich „ungebremster Hass gegen Israel und Juden“ Bahn gebrochen. Seitdem würden Synagogen und jüdische Einrichtungen verstärkt geschützt, jüdische Zeitungen in neutralen Umschlägen verschickt, und mancher verberge die Kippa oder den Davidstern. „Bei vielen Jüdinnen und Juden hierzulande ist ein Gefühl subjektiver Unsicherheit eingetreten. Umso dankbarer bin ich Ihnen allen, die Sie dieses Datums gemeinsam gedenken, an dem die erste Deportation der Würzburger Juden in den Tod stattfand. Ich bin in Gedanken bei Ihnen.“
In seinem Grußwort am „DenkOrt Deportationen“ am Hauptbahnhof warnte Bischof Dr. Franz Jung vor neuen Ausbrüchen von Populismus und Antisemitismus in Europa. „Seit dem 7. Oktober dieses Jahres ist in erschreckender Weise noch deutlicher geworden, dass sich die Geschichte wiederholen kann.“ Mit der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedeten Erklärung „Nostra Aetate“ sei die untrennbare Verbundenheit zu den jüdischen Geschwistern betont worden: „Jeder Angriff gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger ist für uns wie ein Angriff gegen uns selbst, denn wir sind untrennbar eine Familie.“ Viele Würzburger und zu viele Katholiken hätten vor 82 Jahren mitgeholfen oder zumindest weggeschaut, fuhr der Bischof fort. „Dieselbe Gleichgültigkeit bleibt auch heute eine Versuchung, gegen die wir vorgehen müssen. Wir dürfen der verleumderischen Propaganda nicht nachlaufen, die allzu schnell ihre Anhänger findet und in der heutigen Zeit viel mehr Möglichkeiten besitzt, Fake News zu verbreiten.“ Der 27. November 1941 bleibe eine Mahnung, menschlich zu leben und einen barmherzigen Umgang besonders mit Minderheiten, Bedürftigen und Menschen am Rande zu pflegen.
Der evangelische Dekan Dr. Wenrich Slenczka benannte die Angst um den Frieden in der Gesellschaft und konkret um die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. „Wir dürfen nicht schweigen wie damals, als jüdische Menschen durch die Straßen von Würzburg getrieben wurden, um sie in Vernichtungslager zu bringen.“ In Israel tobe ein Krieg, in Deutschland höre man antisemitische Parolen und sehe Schmierereien an Hauswänden. „Wie ist es möglich, dass unter uns solcher Hass entsteht? Wie war es damals möglich, dass der Hass die Gesellschaft selbst ergriffen hat? Wir müssen auf uns selbst sehen, unseren Anteil an dieser Gesellschaft erkennen und umkehren.“ Man dürfe nicht dulden, dass Rassismus und scheinbar alltägliche Stereotype wieder aufkommen, sagte Slenczka. „Wir müssen selbst umkehren und den Weg zurückgehen, den andere hingehen mussten. Indem wir uns selbst erinnern und mahnen, mahnen und erinnern wir auch andere.“
Als das „schlimmste Massaker an den Juden seit der Shoah“ bezeichnete Oberbürgermeister Christian Schuchardt den Angriff der Hamas am 7. Oktober. Es sei erschütternd, wie schnell die Solidarität mit dem israelischen Volk brüchig geworden sei, „dröhnendes Schweigen statt Anteilnahme“ die Antwort gewesen sei, „wie schließlich eine neue Welle des Antisemitismus auch Deutschland überzog“. Israel- und Judenhass trete aber nicht nur unter Rechtsradikalen und Islamisten zutage, auch Kulturschaffende und junge Aktivisten zeigten sich allein mit Palästina solidarisch. „Die Verbrechen einer Terrororganisation an unschuldigen Menschen, die in ihrer Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit kaum in Worte zu fassen sind, blenden viele einfach aus.“ Antisemitische Narrative seien wieder salonfähig geworden, warnte Schuchardt. „Nicht nur unser Staat, jede und jeder Einzelne ist aufgerufen, ein deutliches Zeichen zu setzen gegen jegliche Form von Antisemitismus. Nie wieder ist jetzt!“
In den vergangenen Jahren habe sich ein Klima der Abwertung bestimmter Menschengruppen verbreitet, warnte Pfarrerin Angelika Wagner von der Gemeinschaft Sant’Egidio. Der Terroranschlag gegen Israel vom 7. Oktober habe dieses Klima verschärft. „Lassen wir keinen Hass in unsere Herzen, akzeptieren wir keine Menschenfeindlichkeit auf unseren Straßen“, appellierte sie. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer habe gesagt: „Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“ Die Gemeinschaft Sant’Egidio sehe es als ihre Verpflichtung an, das respektvolle und freundschaftliche Miteinander zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Generationen zu bewahren und zu stärken, sagte Wagner. „Deshalb ist unsere heutige gemeinsame Botschaft: Zukunft braucht Erinnerung. Zukunft geht nur ohne Hass. Zukunft braucht das Gespräch. Zukunft braucht Begegnung, Freundschaft und Zusammenhalt.“
Zum Abschluss traten Clara Kendlbacher und Noah Wunderlich von der Bewegung „Jugend für den Frieden“ von Sant‘Egidio ans Mikrofon. „Wir sind Jugendliche mit einem Traum vom Frieden“, sagte Kendlbacher. Viele der Kinder in den Würzburger Friedensschulen seien aus Kriegsgebieten geflohen. „Wir helfen ihnen, dass sie Freunde finden statt Misstrauen, Vertrauen statt Trennungen. Eine Welt ist möglich, in der jeder Mensch geachtet und umarmt wird. Dafür setzen wir uns ein.“ Wunderlich trug einen Auszug aus dem Buch „Der Junge, der nicht hassen wollte“ von Shlomo Graber vor. Graber wurde mit 17 Jahren nach Auschwitz deportiert und verlor dort bis auf den Vater seine ganze Familie. Die letzten Worte seiner Mutter waren: „Sei stark, mein Junge, und lass keinen Hass in dein Herz. Liebe ist stärker als Hass.“ Obwohl es immer noch so viel Hass gebe, schrieb Graber, habe er die „unerschütterliche Zuversicht, dass wir eines Tages, irgendwann, in einer besseren Welt leben werden… denn Liebe ist stärker als Hass“.
sti (POW)
(4823/1312; E-Mail voraus)
Hinweis für Redaktionen: Fotos abrufbar im Internet