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Paulus und die Juden

Fastenpredigt von Domkapitular Monsignore Dr. Heinz Geist am Mittwoch, 11. März 2009, im Würzburger Kiliansdom

„Soviel Aufbruch war nie!“ - so lautete das Motto der diesjährigen Woche der Brü-derlichkeit zwischen Juden und Christen. „Soviel Aufbruch war nie“ - ich meine, dies gilt trotz der nicht gerade geglückten Versuche, die Piusbrüder zurückzugewinnen, und der damit verbundenen schmerzlichen Irritationen im Verhältnis von Juden und Christen. Doch ist dieses römische Missgeschick vielleicht Anlass zum Aufbruch.

Dass die Christenheit in der nahen und fernen Vergangenheit erhebliche Schuld gegenüber den Juden auf sich geladen hat, ist spätestens seit dem Schuldbekenntnis Johannes Pauls II. am 1. Fastensonntag des Jahres 2000 nicht zu leugnen. Ob der Apostel Paulus diesen neuen Aufbruch im christlich-jüdischen Verhältnis befördert oder hemmt, heute Abend etwas zu bedenken,darf ich Sie herzlich einladen.

Den meisten von uns ist die figürliche Darstellung zweier Frauengestalten am Straßburger Münster bekannt: die eine mit Krone, Siegesfahne am Zeichen des Kreuzes und einem Kelch in der Rechten, die andere mit einer gebrochenen Lanze, ebenfalls mit einer jetzt aber zerschlissenen Fahne, mit einer Augenbinde und dem nach unten gesenkten Haupt, in der schlaff herab hängenden Linken eine Schriftrolle - die allegorische Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge.

Hinter dieser Darstellung verbirgt sich die christliche und gesellschaftliche Sicht und Beurteilung der Juden über viele Jahrhunderte hinweg. Was der damit zum Aus-druck gebrachte exklusive Heilsanspruch der Kirche, gleich welcher Konfession, den Juden im Laufe der Geschichte an Unglück und Unrecht beschert hat, wissen wir alle: Vertreibung aus angestammten Ländern und Ghettoisierung, Verdächtigung und Verleumdung, Mord und Brandschatzung, Shoa und Holokaust. Kein eingesessener Würzburger, der an der Marienkapelle vorübergeht, wird vergessen, dass diese Kirche ihre Erbauung den tragischen Umständen einer Städtischen Shoa verdankt.

Unsere Frage am heutigen Abend wird darum zuallererst und zu guter Letzt lauten: Hat die Shoa ihren heimlichen Anstifter in einem Juden selbst, dem Apostel Paulus? Auch wenn es - sprachlich gesehen - erwiesenermaßen falsch ist, das Wortspiel „Saulus und Paulus“, das eine lange Tradition und Suggestivkraft besitzt, als Markierung von lebensgeschichtlicher Trennung und religiöser Apostasie auf dem Lebensweg des Apostels zu verstehen, darf, ja muss man dennoch fragen: Ist sehr scharf zwischen dem vorchristlichen Juden aus Tarsus und dem christlichen Völker-apostel zu unterscheiden?

Dazu hören wir einen Text aus dem Brief des Apostels an die Christen in Philippi: 3,5-11

Dieser Text erweckt in der Tat den Eindruck: der Christ Paulus hat seine jüdische Lebensperiode fast ganz abgestoßen. Sein Damaskuserlebnis scheint für ihn ei-nen gänzlich neuen Zugang zu Glaube und Bibel ausgelöst zu haben. Das Judentum erscheint für ihn als religiös nicht mehr diskutabel. Seine Beurteilung der jüdischen Tora und die von ihm propagierte Lehre der Rechtfertigung des Menschen aus dem Glauben legen den Verdacht nahe, dass er den Boden des Judentums verlassen hat: Die bisher von ihm geschätzten Werte erweisen sich als Nachteil und Schaden. Er will nicht mehr die eigene Gerechtigkeit durch die Beobachtung des Gesetzes, der Tora, schaffen, sondern er bemüht sich nur noch um die Gerechtigkeit, die von Gott selbst kommt und die er im Vertrauen auf Jesus Christus empfängt. Dies geschieht dadurch, dass er die Verbundenheit mit dem leidenden und auferstandenen Christus sucht. Paulus betont zwar seine jüdische Herkunft

mehrfach: seine Mitgliedschaft im Volk Israel, seine Zugehörigkeit zum Stamm Benjamin wie König Saul und seine hebräische Prägung und Bildung als „Hebräer von Hebräern“. Dennoch scheint sein fundamentaler Bruch mit dem Judentum seiner Zeit eindeutig zu sein.

Hört man diese Worte, dann wird verständlich, dass eine Reihe von Exegeten feststellen: Paulus habe das Christentum aus den Fesseln der partikulären, provinzlerischen, jüdischen Gesetzesreligion befreit. Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hat ein berühmter evangelischer Bibelgelehrter Paulus als den zwei-ten Stifter des Christentums propagiert. Damit aber wird Paulus zum Kronzeugen der über Jahrhunderte verbreiteten christlichen Einstellung gegenüber der Judenheit. Damit sind zwar Pogrome jeglicher Art gegenüber den Angehörigen des jüdi-schen Volkes und der jüdischen Religion in keinster Weise auch nur im Ansatz gerechtfertigt, aber das exklusive Heilsbewusstsein der Christen würde damit als Frucht paulinischen Denkens mehr als verständlich. Doch so leicht scheint es uns Paulus nicht gemacht zu haben, wenn man bedenkt, dass Paulus nicht gerade selten polemisch geredet und geschrieben hat. Zudem finden wir ganz andere Texte in seinen Briefen.

Wir hören einen Text aus dem Brief an die römischen Christen: 3,28-31

Hier klingen ganz andere Töne an: Hier spricht ein Paulus, der die Tora nicht aufhe-ben, sondern aufrichten will. Er stellt Juden und Heiden gleich, nicht nur weil sie alle Sünder sind, sondern weil sie sich auf Jesus Christus verlassen können. Mit der Propagierung der Treue und dem Glauben Jesu selbst, in dem Gottes Gnade ein für alle Mal sichtbar wurde, erklärt er das jüdische Gesetz aber nicht für ungültig. Wie hier, sagt Paulus auch sonst nichts wirklich Negatives über die Tora. Er bewertet sie anders, aber er lehnt sie nicht ab und befindet sich damit in bester Gesellschaft mit dem Judentum seiner Zeit. Ein Vergleich mit dem Denken seiner jüdischen Zeitgenossen, über das wir heute besser Bescheid wissen als Generationen vor uns, zeigt: Man hat das damalige Judentum sehr bald wie das Judentum überhaupt zu Unrecht als werkgerechte, selbstgerechte, sich selbst vor Gott rechtferti-gende Religion karikiert. Selbst Augustinus und Martin Luther tappten, wohl lebensgeschichtlich mitbedingt wie aufgrund des jeweiligen kirchlichen Umstände, in diese Falle der Missdeutung. Die Pharisäer kannten keine plumpe Werkgerechtigkeit oder Tendenzen zur Selbsterlösung durch eigene Werke. Auch der jüdische Glaube damals wie heute ist eine Gnadenreligion! Gott hat Israel in seinem gnädigen Erbar-men erwählt und einen Bund mit ihm geschlossen. Er hat ihm die Tora, ein Gesetz zum Leben gegeben, damit es durch dessen Einhaltung im Bund bleibt. Ja, Gott räumt Israel immer wieder Versöhnung ein, um dieses Bundesverhältnis aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen. So gesehen ist die Tora nicht der Weg in den Heil gewährenden Bund mit Gott, sondern die von Gott geschenkte Lebensweisung zum Verbleib in diesem Bund. Wenn man heute besser denn je erkennt, dass das Judentum zur Zeit des Paulus eine große Vielgestaltigkeit aufwies, wenn man aus wieder entdeckten Schriften deutlich erkennen kann, dass sowohl bei Paulus wie im damaligen Judentum das, was Tora, Gesetz meinen, unterschiedlich verstanden wird, fragt man: Wogegen genau polemisiert Paulus denn, wenn er das Gesetz attackiert? Im Rahmen der neuen, in rasanter Forschungsarbeit gewonnenen Perspektive, in der man Paulus heute mehrheitlich sieht, erkennt man, das die bei ihm genannten „Werke des Gesetzes“ vor allem mit der Tora verbundene Vorschriften meinen wie die Beschneidung, die Speisegesetze, bestimmte kultische Regelungen. Sie dienten im damaligen Judentum, vor allem in Palästina, dazu, sich durch deren Beobachtung von anderen Völkern abzugrenzen und die eigene exklusive Identität als Gottesvolk zu dokumentieren. Es scheint, dass der junge und wohl strenge Pharisäer Paulus wegen der Missachtung dieser rituellen Vorschriften durch die frühesten Jesusanhänger diese Judenchristen im Abfall vom Gott Israels begriffen sah und sie in der Zeit vor seinem Damaskuserlebnis verfolgte. In seiner Christuserscheinung vor Damaskus wird Paulus wohl nicht von ungefähr gefragt: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ Dieses Erlebnis zwang ihn offensichtlich, den Verfolgten Recht zu geben. Umso mehr war er dann bestrebt, nicht nur die freier denkenden Judenchristen, sondern alle Völker dem Gott Israels zuzuführen, jenem Gott, der eine besondere Geschichte mit Israel hat und zugleich der Gott aller Völker ist und kein Allerweltsgott. Dazu sah er sich gerufen durch das erlösende Leben und Sterben des erhöhten Christus. Auch im damaligen Judentum gibt es im übrigen Gestalten, deren Bedeutung für die Vermittlung des Heils man herausgestellt hat, Henoch zum Beispiel oder die personifizierte Weisheit oder den „Lehrer der Gerechtigkeit“ in Qumran. Paulus sah sich und alle Menschen gerechtfertigt durch den Glauben an Jesus Christus. Das Ziel des Gesetzes, die Vollendung der Tora ist für ihn nämlich Christus. Und jeder, der an ihn glaubt, wird gerecht, wie er an einer späteren Stelle im Römerbrief betont.

Sieht man also genauer hin, dann hat sich Paulus nach seiner Berufungsvision vor Damaskus nicht prinzipiell vom Judentum abgewendet, er verlässt eigentlich nicht die Grenzen dessen, was im damaligen Judentum am Verständnis der Tora und ihrer Befolgung möglich war. Die Tora als Heilsverheißung wie als ethische Wegweisung bleibt für ihn gültig. Seine jüdischen Wurzeln, seine wie auch immer gestaltete jüdische Bildung und Ausbildung waren auch noch für den späteren Christen und Heidenapostel bestimmend. Nicht gegen das Judentum gewinnt Paulus sein Profil, sondern in ihm. So wird auch ein Titel eines jüdischen Buches über ihn verständlich: „Die Heimholung des Ketzers“.

Paulus - Jude und Christ zeit seines Lebens auch nach Damaskus ist für mich einsichtig. Doch was bedeutet das für die christliche Vorstellung, dass alles Heil von Jesus Christus abhängt, auch jenes der Juden?

Wir hören einen weiteren Text aus dem Brief an die römische Christengemeinde: 11,25-32

Paulus macht es uns nicht gerade leicht mit seiner Gedankenwelt. Was ihn umtreibt, ist das Wissen darum, dass Gottes Heilszusage an Israel gilt und zugleich auch den Heiden Gottes Gnade und Heil nicht vorzuenthalten ist. Wenn er auch zutiefst davon überzeugt ist, dass das Heil der Menschen aufs engste mit der Erlösungstat Jesu Christi verbunden und damit allen Völkern zugedacht ist, bedrückt ihn doch sehr, dass ein großer Teil Israels den Gesalbten Gottes ignoriert. Er ent-deckt es bei der Suche nach einer Antwort auf dieses Problems als ein göttliches Geheimnis, dass Gottes Handeln an Israel in engem Zusammenhang steht mit Gottes Handeln an den Völkern. Er meint zu erkennen, dass Gott selbst einen Großteil Israels verhärtet hat, um die Völker in Beziehung zu Gott zu bringen - durch das Evangelium. Was freilich die Heidenchristen mit den Jesus verwerfenden Juden verbindet, ist Gottes grenzenlose Barmherzigkeit. Juden wie Christen warten auf die Vollendung der Geschichte und die Verwandlung der Welt durch den Messias. Darum bilden Juden und Christen eine messianische Weggemeinschaft, wobei die ersteen noch auf den Messias warten, während die letzteren ihn in Jesus gefunden zu haben, überzeugt sind. Darum geht man am besten nebeneinander auf dem Weg zu Gott, ohne den anderen zu missionieren. Nicht zuletzt das Missverständnis des Paulus und seines Denkens führte zur steigenden Entfremdung der Heidenchristen von ihren jüdischen Wurzeln. So wurde aus einer möglichen Begegnungs-geschichte eine „Zergegnungsgeschichte“ (H. Frankemölle). Diese vegessene Bindung der Kirche an Israel ist geradezu ein Kennzeichen der Kirche. „Die Kirche muss wissen, was es um Israel ist, weil sie sonst nicht mehr weiß, was es um sie selbst ist.“ (R. Kampling) Darum hat das vergangene Konzil erklärt: Niemand in der Kirche darf „die Juden als von Gott verworfen oder verflucht darstellen“, und „die Ereignisse seines Leidens weder den damals lebenden Juden noch den heutigen Juden zur Last legen“, auch wenn „die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Jesu gedrungen haben.“ Die Juden sind nach wie vor „von Gott geliebt..sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich.“ „Die Kirche kann nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schösslinge eingepropft sind.“ (Nostra aetate 4)

Der Blick auf Paulus und sein Verhältnis zu Israel und dem Judentum ergibt geradezu zwingend, erst recht aber als Konsequenz aus allen Varianten christlicher Judenfeindschaft oder auch gewahrter Distanz den Dialog der Christen mit den Juden. Und dies nicht nur, weil wir, soviel wir können, gutzumachen haben. Auch innerkirchlich ist der christlich-jüdische Dialog angesagt: Die Kirche als ganze wird gut daran tun im Hinhören und Hinschauen auf die Glaubenstradition der Juden deren Impulse für den eigenen Weg zu nutzen; aber auch der einzelne Christ wird sich aus dem Glauben Israels spirituelle Anregungen geben lassen, vor allem wie dieser uns im Alten Testament entgegentritt, das wir dankbar als Heilige Schrift angenommen haben und annehmen dürfen.

Bleibendes Motiv ist für mich die weltweit ausgestrahlte Szene, da der greise Johannes Paul II. in Ehrfurcht vor der Klagemauer des Jerusalemer Tempels verweilt und mit zittriger Hand sein Gebetsröllchen in eine Fuge der Mauer steckt. Dieses Bild regt auch mich an, jetzt und öfter als nur einmal im Jahr die bisherige Karfreitagsbitte für unsere älteren Brüder zu wiederholen:

„Erhalte sie in der Treue zu ihrem Bund und in der Liebe zu seinem Namen!“

Und ich erhoffe mir auch das Gebet der Juden für meine Kirche. Amen,