Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Vor Ihnen steht ein verhinderter Passionsspieler. Ich habe mich nämlich bei der Vorbereitung auf diesen Gottesdienst an ein Erlebnis aus meiner Schulzeit im Kilianeum Würzburg erinnert. Ich war damals 13 Jahre alt; in der Fastenzeit sollte die Leidensgeschichte Jesu szenisch aufgeführt werden. Unsere Erzieher, die uns kannten, hatten am Schwarzen Brett einen Aushang angebracht: „Wer beim Raufen erwischt wird, darf beim Passionsspiel nicht mit machen!“ Das hat uns natürlich erst recht zum jugendlichen Kräftemessen gereizt - prompt wurden wir dabei ertappt und waren zum Zuschauen verdonnert. Vom Pädagogischen her ist eine solche Maßnahme sicher fragwürdig, aber die damit verbundene Absicht verstehe ich heute besser als damals: Man kann bei einem Passionsspiel nicht „einfach so“ dabei sein, indem man bloß eine Rolle übernimmt. Das Mitwirken braucht vielmehr Konsequenzen im Verhalten, ja muss, wenn es wirklich Tiefgang hat, Auswirkungen auf unser Leben insgesamt haben. Bei der Frage, wie das gehen soll, liegen die Antworten vielleicht näher als vermutet. Ich habe mit Aufmerksamkeit die Medienberichte über die Eröffnung der Aufführungen in Sömmersdorf verfolgt und bin dabei auf drei Formulierungen gestoßen, die auf den ersten Blick gar nicht aufregend wirken, beim näheren Hinsehen aber Entscheidendes aufzeigen. Außerdem habe ich entdeckt, dass sich von dort aus Zugänge zum Verständnis der heutigen Sonntagslesungen ergeben. Lassen Sie sich auf diese „Sömmersdorfer Spurensuche“ ein, damit die Zusammenhänge zwischen Leidensgeschichte Jesu und unserer Lebensgeschichte deutlich werden.
1. Eindringliche Wirkung
In mehreren Zeitungsberichten wurde die Wirkung des Sömmersdorfer Passionsspiels mit dem Wort „eindringlich“ beschrieben. Das habe ich auch von Zuschauern bestätigt bekommen, die ich nach ihrem Eindruck von der Premiere fragte. “Eindringlich“ - wenn ich das im Wortsinn verstehe, dann setzt das aber voraus, dass ein Eindruck nicht an der Oberfläche bleibt und rasch wieder vergessen ist, sondern dass ein Geschehen in mich eindringt, mich im Herzen betrifft und von dort her verändert. Genau das ist die Wirkung des Wortes Gottes, wie sie in der alttestamentlichen Jesaja-Lesung beschrieben wird: Es dringt in die Herzen ein und bleibt nicht äußerlich, es zeigt Wirkung, indem es Menschen ergreift und verändert. Nun leben wir im Zeitalter einer regelrechten Wortinflation: In der Medienwelt und in der Werbebranche gilt das Gesetz der Schnelllebigkeit - was heute wichtig ist, kann morgen schon vergessen sein. Viele Botschaften werden nicht verinnerlicht . Damit es Gottes Wort nicht genauso geht, wenn es vielmehr Langzeitwirkung für unser Leben entwickeln soll, dann braucht es offene Herzen. So ist mein erster Wunsch für die Sömmersdorfer Mitwirkenden und die Aufführungen in allen Passionsspielorten, die heute hier vertreten sind: Nehmen Sie sich als erstes das Wort Gottes selber zu Herzen, lassen Sie es in sich eindringen, dann kann es auch eindringliche Wirkung entfalten, die mehr als momentane Ergriffenheit ist, sondern länger anhält und konkrete Auswirkungen im Leben hat.
2. Hoffnungsvoller Beginn
In einer anderen Pressemeldung hieß es, die erste Aufführung vor drei Wochen hier in Sömmersdorf sei ein „hoffnungsvoller Beginn“ gewesen. Mann kann das natürlich zunächst als berechtigtes Lob für die Leistungen der Mitwirkenden verstehen, aber in dieser Formulierung steckt mehr. Denn ein Passionsspiel ist im Grunde genommen die anschauliche Übersetzung der Glaubenserfahrung, dass im Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Gott selbst mit der ganzen Welt und jedem einzelnen von uns einen hoffnungsvollen Neubeginn macht. Jedes Passionsspiel will die Überzeugung vermitteln: Für Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle! Schuld und Tod sind nicht das Letzte, Gott führt unser Leben vielmehr durch alle Krisen und Konflikte zu einem Ziel, das menschlich unausdenkbar ist: zur bleibenden, unzerstörbaren Lebensgemeinschaft mit ihm und allen Erlösten. Das Schlüsselwort des christlichen Glaubens heißt nicht Vernichtung, sondern Vollendung! Das ist auch die Botschaft aus der neutestamentlichen Lesung aus dem Römerbrief: Die Schöpfung insgesamt ist nicht für den Untergang bestimmt, sondern zur Vollendung im Leben Gottes. Wenn auch diese Überzeugung durch das Passionsspiel vermittelt werden soll, dass es Hoffnung nicht nur für den Einzelnen, sondern für die ganze Welt gibt, dann muss deutlich werden: Es genügt nicht, von der Passion Jesu nur persönlich ergriffen zu sein, denn Jesus kam für die ganze Welt und für alle Menschen. Wenn wir uns seiner Botschaft wirklich öffnen, dann braucht es eine umfassende, globale Solidarität mit unserer Schöpfung, die aus dieser Hoffnung lebt und sie im täglichen Verhalten anderen vermittelt. Deshalb ist mein zweiter Wunsch: Dass die Spiele hier in Sömmersdorf und an den anderen Orten in Europa sichtbare Hoffnungszeichen sind, die den Zuschauern eine Ahnung von der Solidarität Gottes vermitteln, der in Jesus die Wege der Welt bis ins Äußerste mitgeht und uns dadurch immer wieder neu Hoffnung und Zuversicht schenkt.
3. Begeisterte Aufnahme
Schließlich habe ich noch in einem Radiokommentar gehört, dass die Sömmersdorfer Passionsspiele bei der diesjährigen Erstaufführung eine „begeisterte Aufnahme“ gefunden hätten. Das ist sicher erfreulich, aber mit der Begeisterung ist das so eine Sache. Sie kann auch an der Oberfläche bleiben und rasch verfliegen; wir kennen das alle aus eigener Erfahrung. Jesus weiß um dieses Risiko sehr genau, wenn er das Gleichnis vom Sämann erzählt, das wir im Evangelium gehört haben. So wie bei jeder Aussaat in der Natur gibt es auch für das Wort Gottes mehr oder weniger günstige Wachstumsbedingungen im menschlichen Leben: Seelische Trockenheit kann genauso wie eine bloß oberflächliche religiöse Stimmung eine nachhaltige Glaubensentwicklung verhindern. Eine „begeisterte Aufnahme“, die wirklich von Dauer ist, muss sich als erstes dem Geist Gottes und seinem Wirken öffnen - dann hat sie Bestand. Es hat mich gefreut, als ich von Mitwirkenden gehört habe: Durch das gemeinsame Passionsspiel herrscht bei uns in Sömmersdorf ein neuer, besserer Geist - nämlich der Geist eines intensiveren Miteinanders auf menschlicher Ebene und einer gesteigerten Offenheit für den Glauben. So werden Sie als Dorfgemeinschaft im besten Sinn „geist - reich“ und können von dieser bereichernden Erfahrung an viele etwas weiterschenken. So ist mein dritter Wunsch, dass wir keine unbeteiligten Zuschauer bleiben, sondern dass möglichst viele von diesem Geist etwas mitbekommen, indem der Funke überspringt. Dann wird die begeisterte Aufnahme, von der im Rundfunk die Rede war, kein oberflächlicher Eindruck bleiben, sondern Wurzeln schlagen, damit unser Glaube reifen und wachsen kann.
Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Als ich gestern am Rande einer Konferenz erzählte, dass ich heute zu den Sömmersdorfer Passionsspielen fahre, meinte eine Teilnehmerin, die von weit her kam, etwas geringschätzig: „Das klingt aber arg fränkisch.“ Wenn man eine solche kritische Bemerkung ins rechte Licht rückt, dann wird sie jedoch zu einem Kompliment: Die Sömmersdorfer Passionsspiele können auf ihre Weise helfen, dass die Botschaft der Leidensgeschichte Jesu bei uns in Franken immer wieder neu ankommt und unser Heimatbewusstsein intensiv mitprägt.
Wenn das durch den hoffnungsvollen Beginn, die eindringliche Wirkung und eine begeisterte Aufnahme deutlich wird, dann bleibt diese Passionsdarstellung kein Spiel, sondern wird ein hilfreicher Weg zum Verständnis des Lebens.
Amen