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Ratlos vor dem Bösen?

Fastenpredigt von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand im Würzburger Dom am Mittwoch, 22. März 2006

Täglich werden wir mit dem Bösen konfrontiert. Sie brauchen nur die Zeitung aufzuschlagen, den Fernseher einzuschalten oder ins Internet zu gehen: Ob irgendwo ein Flugzeug entführt oder Geiseln genommen, ob Kinder missbraucht oder Gefangene gequält werden, ob hier bei uns eine alte Frau wegen ein paar Euro erspartem Geld erschlagen wird oder ob wir an die großen Menschheitsverbrechen denken, für die stellvertretend Namen wie Auschwitz und Hiroschima stehen: Überall tun Menschen einander Böses an und fügen sich oft unsägliches Leid zu. Es wäre zu billig, sich mit der Wahrnehmung dieser unterschiedlichsten Formen des Bösen zu begnügen, auch wenn wir oft ratlos sind. Gerade als Christen kann es uns nicht gleichgültig sein, wie es in unserer Welt zugeht. Wir brauchen die Fragen, die sich stellen, auch gar nicht zu verdrängen. Sie stellen sich für den Glauben in dreifacher Hinsicht: Warum gibt es das Böse? Wie zeigt sich das Böse? Wer befreit uns vom Bösen? Meine Predigt kann freilich nur Richtungen aufzeigen und Denkanstöße geben; wenn dies gelingt, wäre schon viel erreicht.

1. Warum gibt es das Böse?

Der heilige Augustinus sagte einmal (in seiner „Civitas Dei“): „Das Böse ergründen zu wollen hieße den Versuch unternehmen, die Stille zu hören und die Finsternis zu sehen.“ Damit ist gemeint, dass es in der Frage nach dem Grund des Bösen keine schlüssige Beweiskette mit mathematischer Gewissheit geben kann – wir müssen vielmehr von der Erfahrung des Glaubens ausgehen, die das Böse in der Welt wahrnimmt und es als Frage, ja oft – wie es zum Beispiel in den alttestamentlichen Psalmen geschieht – als Klage vor Gott hinträgt. Aber vor einer Antwort wird dabei der Glaube in seinen Grundlagen herausgefordert: Woher kommt das Böse in seinen vielschichtigen Formen, wenn die Welt und ihre Menschen doch von Gott geschaffen sind?

Auf diese Frage gibt es in der Geistesgeschichte unterschiedliche Antwortversuche. Die wichtigsten möchte ich kurz andeuten.

a) Eine Erklärungsweise argumentiert mit der Veranlagung des Menschen, der eben immer wieder Böses tue; solange es Menschen gebe, gebe es Schlechtigkeit und Bosheit, der Mensch sei eben unvollkommen und unter den heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen zumal, die oft in ein reines Konkurrenzverhältnis ausarten, sei ohnehin jeder sich selbst der Nächste. Das Menschsein wäre demnach ein „Kampf ums Überleben“, in dem sich der jeweils Stärkere behauptet. Das Böse insgesamt ist nach dieser Sicht die Summe all des Schlechten, das sich die Menschen gegenseitig antun; und so sagt der französische Philosoph Jean-Paul Sartre in der Verfremdung des herkömmlichen Begriffs: „Die Hölle – das sind die anderen.“ Konsequenterweise werden dann auch die Menschen für das Böse voll verantwortlich gemacht. Doch hier setzt unsere kritische Anfrage ein: Stimmt diese Sicht überhaupt, dass der einzelne Mensch für das Böse immer und überall verantwortlich ist? Nehmen Sie zum Beispiel den Fall des bedeutenden amerikanischen Atomphysikers Robert Oppenheimer, der sich am Ende seines Lebens mit Angstträumen und Selbstzweifeln quälte, weil die von ihm erforschte Atomenergie zur Tötung von Tausenden, ja Millionen von Menschen ausgenutzt wurde. Er fühlte sich schuldig. Aber war das Böse, das da geschah, wirklich allein durch ihn verursacht? Sicher nicht! Man kann jedoch sagen, dass er in einen Zusammenhang des Bösen verwickelt war. Diese Erfahrung macht auch Paulus, wenn er im Römerbrief sagt (Röm 7,19): „Wir tun nicht das Gute, das wir möchten, sondern das Schlechte, das wir eigentlich verabscheuen.“ Es gibt also so etwas wie eine Verstrickung, die unsere Kräfte zu übersteigen droht. Die Liedstrophe zu Beginn (GL 164,2) bringt diese Erfahrung treffend zum Ausdruck: „Ein fremdes, mächtiges Gesetz trieb mich dem Bösen in das Netz.“

b) Aber auch für diesen Zusammenhang des Bösen werden uns aus dem wissenschaftlichen Bereich scheinbar ganz natürliche Lösungen angeboten: Manche Psychologen sehen den Grund dafür in einem angeborenen Aggressionstrieb des Menschen; eine rein soziologische Interpretation erklärt diesen Zusammenhang des Bösen mit Spannungen, die notwendigerweise im Leben jeder Gesellschaft auftauchen und sich an einem bestimmten Punkt „entladen“ müssen, was eben häufig mit Gewalt verbunden sei, die wieder neue Gewalt erzeuge, wodurch der einzelne Mensch und die ganze Gesellschaft im Sog des Bösen stehe, das dann fast wie ein Naturgesetz wirkt. Ja, es gibt sogar theologische Tendenzen, die das Böse als „Kehrseite der Evolution“ bezeichnen (so Teilhard de Chardin mit einem missverständlichen Ausdruck); das Böse wirkt dann wie ein notwendiges Übel, wie ein Schatten der Schöpfung, es ist gewissermaßen der Preis, der für die Weltentwicklung zu zahlen ist. Solche Argumentationen wirken geradezu zynisch und führen letztlich nicht weiter, weil sie den Menschen zum Spielball der Entwicklung machen. Sie übersehen zudem eines: Vom Bösen kann ich ja nur sprechen, wenn ich es als Kontrast zum Guten erfahre. Böses geschieht ja stets als Mangel, als Zerstörung, als Schädigung, als Nichtverwirklichung des Guten – und umgekehrt: in jeder Enttäuschung und Verbitterung über etwas Böses schwingt gleichzeitig irgendwie (oft unausgesprochen) die Sehnsucht nach dem Guten mit. Dieser Umstand wird aber in den bisher genannten Erklärungsversuchen zu wenig berücksichtigt.

c) Hier kommt nun definitiv die Frage nach Gott ins Spiel, den wir ja von der klassischen Theologie und unserem Katechismuswissen her als „Inbegriff des Guten“ bezeichnen. Wie verträgt sich dieses Attribut mit der Erfahrung des Bösen? Ernsthafte Atheisten haben dem christlichen Glauben oft vorgeworfen, er sei ein Widerspruch in sich; der Grundvorwurf lässt sich etwa so formulieren: „Wie könnt ihr Christen an einen guten Gott glauben, wenn er es zulässt, dass so viel Leid geschieht, dass zum Beispiel durch Kriege unschuldige Menschen umkommen?“ Scheinbar sind wir in einer Sackgasse gelandet: Es bieten sich zwar menschliche Lösungen für das Problem des Bösen an, die jedoch in letzter Konsequenz in Sinnlosigkeit ausarten. Aber auch ein Verweis auf Gott scheint nicht viel weiter zu führen, weil dann er für das Böse verantwortlich zu werden droht. Wie kommen wir weiter? Eine Zuordnung der verschiedenen Fragen könnte vielleicht so aussehen:

Im Glauben erfährt der Mensch zu allererst einmal und ganz ursprünglich Gott als den „Sinngrund seines Lebens“ und von daher als gut. Wenn die Aussage der Heiligen Schrift ernst zu nehmen ist, dass Gott den Menschen „nach seinem Bild und Gleichnis“ schafft (Gen 1,27), will Gott auch die Welt als ursprünglich gut. Gutsein drückt sich aber auf personaler Ebene in der Liebe aus – deshalb redet das Christentum von der Liebe Gottes zum Menschen, die der Mensch mit der Liebe zu Gott beantworten soll. Zu echter Liebe aber – das erfahren wir schon im menschlichen Bereich – kann niemand gezwungen werden, sie muss frei sein. Gott schafft also den Menschen frei; das hat aber zur Folge, dass sich der Mensch auch für oder gegen Gott entscheiden kann. Durch den Missbrauch dieser Freiheit entstehen nun Situationen des Bösen. Das ist jedoch noch nicht alles: auf der anderen Seite haben wir ja die Erfahrung gemacht, dass dieses Böse eben nicht bloß aus dem Missbrauch der Freiheit des Einzelnen kommt, sondern dass der Mensch oft genug in einen regelrechten Sog hineingezogen wird, der seine Kräfte übersteigt. Ist dann von all dem her die Annahme sinnlos, dass hinter dem Bösen eine Macht steht, die Unordnung in das Verhältnis des Menschen zu Gott bringt, indem sie seine ihm von Gott gegebene Freiheit zum Bösen hin ausnutzt; eine Macht, die die Freiheit des Menschen nicht aufhebt, sie aber von ihrer eigentlichen Bestimmung – von Gott – ablöst und ins Gegenteil verkehrt? An dieser Stelle ist es sinnvoll, näher darauf zu schauen, in welchen Formen sich die Macht des Bösen zeigt.

2. Wie zeigt sich das Böse?

Wenn wir nach dem Wirken des Bösen fragen, dürfen wir das nicht einfach abstrakt tun, sondern sollten erst in unserer eigenen Erfahrung nach Hinweisen suchen. Dabei zeigt sich eine eigenartige Spannung: Im Blick auf das Böse sind wir immer zugleich Opfer und Täter; wir erleiden das Böse und tun es zugleich.

a) Zunächst stellt sich von dieser Verflechtung her die Frage nach Schuld und Sünde. Für manche scheint diese Rede antiquiert – sie erklären ein Verhalten, das andere schädigt und ihnen Leid zufügt, allein aus Erbanlagen und Umwelteinflüssen. Es entsteht ein regelrechter Unschuldswahn, die persönliche Verantwortung bleibt auf der Strecke. Aber wer Schuld nicht ernst nimmt, wer sich dauernd herausredet und ent-schuldigt, der müsste sich zumindest die „aufdringliche Befragung“ gefallen lassen, die Lothar Zenetti in einem seiner Gedichte stellt (Sieben Farben hat das Licht [ München 1975] 98):

„Also du hast niemandem etwas getan? Auch nichts

Gutes? Nichts umsonst und ohne Grund? Nur so aus Liebe?

Also du hast niemanden umgebracht? Auch nicht

um seinen guten Ruf, um seinen Glauben gebracht

durch dein Verhalten?

Also du hast niemanden betrogen? Auch nicht um

die Hoffnung, in dir vielleicht einem wirklichen Christen

zu begegnen und Gottes Nähe zu erfahren?“

Hier sind wir am entscheidenden Punkt angekommen: Wer Schuld verharmlost und verdrängt, nimmt im letzten Gott nicht ernst. In der Sünde verabsolutiert sich entweder das eigene Ich zu Lasten anderer oder es schafft sich Ersatzgötter: Macht, Geld, Vergnügen. Der Einsatz, mit dem mancher mit legalen und illegalen Mitteln seinem Bankkonto oder seinem Aktienbestand dient, erscheint manchmal wie ein religiöser Ersatzkult, als pervertierte Form der Hingabe, der alles untergeordnet wird. Warum handeln die Menschen so? Könnte der Grund nicht in der unausrottbaren Angst liegen, im Leben etwas zu verpassen und sich dann nur auf innerweltliche Erfüllung zu fixieren? Der Mensch hängt dabei sein Herz an vordergründige Sicherheiten, die er zum absoluten Maßstab für das Gelingen des Lebens macht – und so zeigt sich Sünde als ein Gemisch aus Angst, Misstrauen, Abwehr und Auflehnung. All das entfremdet von Gott und führt zu menschlicher Eigenmächtigkeit, aus der dann das Böse entsteht, das anderen schadet.

b) Es kommt jedoch bei der Erfahrung des Bösen noch etwas hinzu. Wenn es auch stets der einzelne ist, der sündigt, so beginnt Schuld doch nicht am Nullpunkt. Sie ist auf vielfältige Weise in die Gemeinschaft der Menschen und ihre Geschichte hineinverflochten. Jedes Kind wird mit bestimmten Anlagen und Begabungen in seine Umgebung hineingeboren; es gibt Prägungen positiver oder negativer Art, die uns oft gar nicht bewusst sind. Solche Vorgaben können auf die Entwicklung der Persönlichkeit einen guten Einfluss haben; sie können einen Menschen aber auch einengen und bis an sein Lebensende zum Schlechten hin beeinflussen. Wir alle leben mit Situationen, in die wir hineingestellt und für die wir zunächst nicht selbst verantwortlich sind. Ein besonders drastisches Beispiel sind etwa die so genannten Kindersoldaten in Afrika und Lateinamerika, die von klein an auf Gewalt abgerichtet und dafür missbraucht werden. Zu den Vorgegebenheiten der einzelnen gehört stets auch die Sünde der anderen. Diese hebt die Freiheit des einzelnen nicht auf, stellt sie aber in ganz bestimmte Zwänge hinein. Die kirchliche Lehre nimmt diese Erfahrung auf, wenn sie von der Erbschuld spricht. Dieser oft missverstandene Ausdruck meint aber über diese äußeren negativen Bedingtheiten hinaus, die das menschliche Leben prägen können, dass jeder Mensch von Anfang an in einer Unheilssituation steht, die sein Leben und auch seinen Glauben auf verschiedenste Weise einengt, bedroht und gefährdet. Erbsünde ist also keine persönliche Schuld und auch keine Naturanlage, sondern eine allgemeine Situation der Heillosigkeit, die geschichtlich gewachsen ist und in der sich jeder Mensch von Geburt an vorfindet. Gerade in unserer Zeit, in der wir die vielfältigen Verflechtungen politischer, psychologischer und kultureller Art, aber auch die weltweite Bedrohung durch Formen des Terrorismus und der Verzweckung einzelner Menschen und ganzer Völker neu erfahren, dürfte das Verständnis der Erbschuld als eines globalen Unheilszusammenhangs leichter fallen als früher. Nochmals: Diese Erbschuld umfasst nicht nur die äußeren Umstände unseres Handelns und Unterlassens, sondern genauso eine innere Gefährdung und Zerbrechlichkeit des Menschen, die er von sich aus nicht überwinden kann. Als bisheriges Fazit der Frage nach den Erscheinungsformen des Bösen lässt sich also festhalten, dass es nicht nur in Form persönlicher Schuld auftritt, sondern ebenso als ein Zustand, welcher der eigenen Freiheitstat vorausliegt und in den wir hineingestellt sind. Nun drängt sich aber die weitere Frage auf: Sind damit die Möglichkeiten des Bösen schon erschöpft? Ist das Wort vom „Teufelskreis“ nur eine Redensart oder steckt dahinter mehr? Gibt es nur „das Böse“ oder auch „den“ Bösen?

c) Viele werden auf diese Frage ohne Umschweife antworten, nach all dem Schlimmen, was Menschen einander im Lauf der Geschichte angetan haben, bestehe gar kein Bedarf zum Weiterfragen, ob es darüber hinaus noch Böses gäbe. Wenn die Bibel und damit auch Jesus vom Teufel sprächen – und das tun sie doch relativ häufig – dann übernähmen sie den Sprachgebrauch ihrer Zeit, der heute überholt sei. Daran ist sicher richtig, dass es in jeder Epoche zeitgebundene Aussageformen und Vorstellungsweisen gibt, die man nicht absolut setzen darf. Auch hat man die Rede vom Teufel und der Hölle zu manchen Zeiten leider als Mittel eingesetzt, um moralischen Druck zu erzeugen oder gar Ängste zu schüren, so dass aus der Frohbotschaft nicht selten eine Drohbotschaft wurde. Hat man nicht auch bei unerklärlichen Krankheiten und seelischen Störungen vorschnell mit Teufel und Besessenheit argumentiert, anstatt sich um medizinische Hilfe zu bemühen? Dies zuzugeben gebietet schon die Ehrlichkeit. Aber kann man aus all dem schon folgern, dass die Frage heute erledigt ist? Lässt sich das Böse nur als anonyme Macht oder als Summe von vielen falschen Einzelentscheidungen der Menschen darstellen? Bei aller zeitbedingten Redeweise biblischer Sprachformen bleibt doch ein Kern, der sich so darstellt: Wenn Schrift und Tradition von einem „personalen“ Bösen sprechen, ist in keinem Fall der Glaube an den Teufel gefordert – Glauben kann ich nur an Gott. Wohl aber kann ich glauben, dass es den Teufel als eine Macht gibt, die sich Gottes Liebe widersetzt und sie zu stören versucht und die mich in diese Verweigerung mit hineinzieht, bis dahin, dass sie persönlichkeitszerstörend wirkt. Das deutsche Wort „Teufel“ kommt vom griechischen „diabolos“ und meint den, der alles durcheinander bringt – damit ist seine Funktion ziemlich treffend umschrieben. Das Johannesevangelium kann den Teufel deshalb auch als „Vater der Lüge“ bezeichnen (Joh 8,44). Unser jetziger Papst hat schon früher in einer seiner Schriften betont, dass man vom Teufel allenfalls als „Un-Person“ sprechen könne – oder, um es mit Goethe in seinem „Faust“ zu sagen, als dem „Geist, der stets verneint“. Sie spüren den gewaltigen Gegensatz zwischen „glauben an“ und „glauben, dass...“! Der grundlegende Unterschied in der Wahrnehmung Gottes und seines Widersachers zeigt sich sehr deutlich im Taufritus. In den einzelnen Formulierungen wird geradezu überklar, dass die Kirche die Existenz des Teufels nicht auf die gleiche Stufe stellt wie das Leben und Wirken Gottes. Geht es um den Glauben an Gott, werden bei der Kindertaufe Eltern und Paten gefragt: „Glaubt ihr an Gott, den Vater, den Allmächtigen? Glaubt ihr an Jesus Christus, seinen Sohn, unseren Herrn? Glaubt ihr an den Heiligen Geist?“ Die Antwort lautet jeweils: „Wir glauben.“ Mit anderen Worten: Der Glaube an Gott mündet in ein Bekenntnis, in eine Zusage. Geht es aber um die Haltung gegenüber der Macht des Bösen, dann wird ganz anders gefragt, nämlich: „Widersagt ihr dem Bösen, um in der Freiheit der Kinder Gottes leben zu können? Widersagt ihr dem Satan als dem Urheber des Bösen?“ Die Antwort lautet dann jeweils: „Wir widersagen.“ Der Glaube, dass es den Teufel als gegengöttliche und Menschen zerstörende Macht gibt, führt also nie zum Bekenntnis, sondern kann für Christen immer nur die Form der Absage annehmen. Halten wir also fest: Zu allererst ist das Böse greifbar in unserem eigenen Tun, in der persönlichen Sünde. Aber wir erfahren es auch als Unheilszusammenhang und als zerstörerische Macht, die über unsere persönliche Schuld hinausgeht. Wir erfahren, dass mitunter eine übermenschliche Kraft unsere Gottesbeziehung stört und uns in ihren Bann zieht. Von daher stellt sich die Frage: Wer befreit uns vom Bösen? Womit kann ich ihm wirksam begegnen?

3. Wer befreit uns vom Bösen?

Die Fähigkeit zum Bösen ist die Kehrseite der Freiheit, ihr Missbrauch. Das Böse ist jedoch keine Übermacht, der Gott selbst unterworfen wäre. Festzuhalten bleibt die Einsicht: Wer den Teufel zu sehr aufwertet (was nicht heißt, dass man ihn verharmlosen könnte!), der läuft Gefahr, Gott abzuwerten. Nicht umsonst hat der englische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton einmal den tiefsinnigen Vorwurf erhoben: „Die Christen haben die Hölle interessanter gemacht als den Himmel und den Teufel oft wichtiger genommen als den lieben Gott“. Das Böse ist der Macht der Liebe Gottes nicht gleichrangig. Gott ist im letzten konkurrenzlos.

a) Das ist keine Trotzbehauptung des Glaubens, sondern eine Erfahrung aus der Geschichte Gottes mit unserer Welt, die ganz konkret in einer Person zur Erfüllung gekommen ist: In Jesus Christus hat sich gezeigt, dass die Macht Gottes stärker ist als die Macht des Bösen, die die Freiheit des Menschen vereinnahmt. Jesus hat sich dieser Macht ausgesetzt, als Mensch wie wir, er hat diese Macht erfahren und erlitten – in Versuchung, Verleumdung, Misshandlung und schließlich in seinem gewaltsamen Tod. Aber gerade an diesem Punkt erweist sich, dass Gottes Liebe stärker ist und dass die im Tod aufscheinende Macht des Bösen nicht das letzte Wort hat: Durch die Auferstehung Jesu, die zeichenhaft für das von Gott gewollte Schicksal aller Menschen ist, wird dieser Teufelskreis gebrochen. Seine Auswirkungen freilich gehen noch weiter, schmerzlich weiter, aber die letzte „tödliche“ Schärfe ist genommen. Leben, Sterben und Auferstehung Jesu sind gewissermaßen ein für allemal die bleibende Versicherung Gottes, dass das Böse kein unentrinnbares Schicksal darstellt. Der bekannte Theologe Karl Barth hat die Situation des Bösen nach Jesus Christus einmal so umschrieben: Es sei wie eine Wespe, die noch steche, aber kein tödliches Gift mehr besitzt. Der Glaube sagt uns: Wir sind erlöst, wir brauchen die Befreiung vom Bösen nicht selbst zu schaffen, wir dürfen in aller Anfechtung, die bleibt, doch Zeugen dafür sein, dass Gottes Liebe stärker ist als alle Versuche, sie aus der Welt zu drängen. Jesus macht uns in aller Gebrochenheit und Vorläufigkeit zu Vorläufern auf das Endgültige, auf Gott und sein Reich hin. Jesus macht uns Mut, gerade als versagende Menschen unser Leben aus dem Vertrauen zum Vater heraus zu gestalten, der uns immer wieder die Möglichkeit zur Umkehr gibt, wenn wir dem Bösen erlegen sind. Verdrängen von Schuld ist dagegen Misstrauen gegenüber Gott und Zweifel daran, dass er mit mir und uns allen immer etwas Neues anfangen kann.

b) Wer aus dem Vertrauen auf Gottes rettende Macht lebt, braucht das Böse weder zu verharmlosen noch zu verselbständigen. Er kann es realistisch einschätzen. Eine hervorragende Möglichkeit dazu ist das Gebet, das Karl Rahner einmal als „Ernstfall des Glaubens“ bezeichnet hat. Im Beten kann ich mich immer wieder neu auf Gott und sein liebendes Wirken hin öffnen. Ich erfahre darin stets neu den Vertrauensvorschuss Gottes, der mir hilft, aus seiner Zuwendung heraus mein Leben zu gestalten und wie der erste Petrusbrief es ausdrückt, dem Bösen gegenüber „nüchtern und wachsam“ zu sein (1 Petr 5,8). Solches Beten ist kein „Alibi“ und darf nie und nimmer als Ersatz für das eigene Handeln gesehen werden – es will mir ja gerade Kraft dazu geben und schenkt mir immer neu die Mut machende Begegnung mit Jesus. Er hat die Herausforderungen unseres menschlichen Daseins angenommen, auch in Form der Versuchung, die er durchlebt und durchlitten hat. Diese Versuchung bestand darin, menschlichen Willen und Selbstbehauptung auf Kosten anderer gegen den Willen Gottes zu setzen. Jesus hat sich nicht blenden lassen und konnte widerstehen, weil er aus dem Vertrauen zum Vater heraus keine Angst haben musste, im Leben zu kurz zu kommen. Der Hebräerbrief sagt: „Da er selbst in Versuchung geführt wurde und gelitten hat, kann er denen helfen, die in Versuchung geführt werden“ (Hebr 2,18).

c) Aber weil Jesus unsere freie Entscheidung für oder gegen ihn respektiert, leben wir in einer eigenartigen Spannung: Er hat sich dem Bösen ausgesetzt und in seinem Leiden und Sterben dessen ganze Wucht durchlitten, in seiner Auferstehung ist der Weg zur Befreiung vom Bösen bleibend eröffnet. Wir können diesen Weg weitergehen oder uns ihm verweigern und andere Richtungen einschlagen. Der Mensch lebt auch als Erlöster in der Gefahr, die „Freiheit der Kinder Gottes“ zu missbrauchen. Das Wissen darum soll uns keine falsche Angst einjagen, aber es kann uns bescheiden und demütig machen. Selbstsicherheit ist fehl am Platz. Wir sind vielleicht oft ratlos vor dem Bösen, das uns bedrängt, aber wir sind nicht haltlos: Denn wir dürfen uns getragen wissen vom Gebet Jesu, das er für seine Jünger an den Vater gerichtet hat: „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst“ (Joh 17,15). Wir machen diese Bitte Jesu zu unserer eigenen, wenn wir immer wieder im Gebet des Herrn sprechen: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen" (vgl. Mt 6,13). Amen.

(1306/0462)