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„Schieflage nach rechts“

Dr. Josef Schuster über modernen Antisemitismus – Integration der Flüchtlinge als wichtiger Punkt – Auftaktveranstaltung der Reihe „Fokus Religionen“

Würzburg (POW) „Es wäre schön, wenn ich gar nicht über Antisemitismus sprechen müsste. Leider ist die Realität eine andere.“ Das hat Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, am Dienstagabend, 13. November, vor rund 160 Zuhörern im Burkardushaus in Würzburg erklärt. Deutschland befinde sich derzeit in einer „Schieflage nach rechts“. In seinem Vortrag „Jüdisches Leben in Deutschland heute“ schilderte er die unterschiedlichen Formen des Antisemitismus in Deutschland. Ein wichtiger Aspekt war für ihn dabei die Integration der Flüchtlinge. Die Veranstaltung bildete den Auftakt der neuen ökumenischen Reihe „Fokus Religionen“, einer Kooperation von Domschule Würzburg, Rudolf-Alexander-Schröder-Haus und dem Referat Interreligiöser Dialog und Weltanschauungsfragen der Diözese Würzburg.

Das jüdische Leben in Deutschland sei sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder sehr vielfältig, sagte Schuster. Das hänge auch mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1990 und der darauf folgenden Einwanderung von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zusammen. Von den heute knapp 100.000 Mitgliedern der 105 jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik hätten rund 90 Prozent ihre Wurzeln in der Ex-Sowjetunion. „Die jüdischen Gemeinden standen plötzlich vor der Aufgabe, in großer Zahl neue Mitglieder integrieren zu müssen, die vom Judentum oft wenig wussten“, erklärte Schuster. Das sei eine große Herausforderung gewesen, habe jedoch letztlich zu einem fruchtbaren Austausch und einer Weiterentwicklung geführt. Bei der zweiten Generation der 1990 eingewanderten Juden erlebe er ein neues jüdisches Selbstbewusstsein. „Sie verstehen sich als deutsche Juden und betrachten Deutschland als ihr Zuhause.“

Das Interesse an einer guten Integration der Flüchtlinge, die seit 2015 nach Deutschland kommen, sei gerade in den jüdischen Gemeinden groß. Ein großer Teil der Flüchtlinge komme aus Staaten, die mit Israel tief verfeindet seien, erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden. „Wer mit einem solchen Feindbild groß geworden ist, legt es nicht einfach beim Grenzübertritt ab.“ Die antisemitischen Vorfälle der jüngsten Zeit – sowohl Angriffe auf der Straße wie auch Vorfälle in Schulen – seien fast ausschließlich von muslimischen Jugendlichen ausgegangen. „Es liegt uns fern, Muslime pauschal zu verdächtigen. Doch die Frage, ob dieser Antisemitismus in Deutschland zum Normalfall werden wird, muss erlaubt sein.“ Er forderte unter anderem, dass Antisemitismus-Prävention ein Bestandteil der Integrationskurse werden müsse. Zugleich appellierte er dazu, Geduld zu haben: „Nach unserer Erfahrung dauert die Integration von Zuwanderern eine Generation.“ Unmissverständlich stellte Schuster fest: „Verunsicherung ist legitim, Anfeindungen oder gar Gewalt gegen Einwanderer sind es nicht!“

Die Einberufung von Antisemitismusbeauftragten auf Bundes- wie Länderebene sei ein wichtiger Schritt. Aber auch den Schulen komme eine Schlüsselrolle zu. „Es gibt kaum jüdische Schüler auf staatlichen Schulen, die noch nicht Antisemitismus am eigenen Leib erfahren haben“, machte Schuster deutlich. Der Zentralrat der Juden habe deshalb das Projekt „Likrat – Jugend und Dialog“ gestartet. Dafür seien rund 100 Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren ausgebildet worden, die jeweils in Zweierteams Schulklassen besuchen und den Schülern erklären, was Judentum ausmacht und wie ihr jüdischer Alltag aussieht. „Meistens kommen sehr lebhafte Gespräche zustande. Viele Vorurteile fallen dann in sich zusammen.“ Ein Herzensanliegen ist Schuster der Besuch von Gedenkstätten. „An den authentischen Orten können junge Menschen die Dimension der NS-Verbrechen viel besser erfassen als aus dem Schulbuch. Empathie mit den Opfern und Verantwortungsbewusstsein entstehen nicht anhand nackter Zahlen.“ Das gelte auch für Schüler mit Migrationshintergrund, von denen viele ebenfalls Diskriminierung und Rassismus erlebt hätten oder erleben.

Ein weiteres Herzensprojekt seien die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig. Allein in Würzburg seien es schon mehr als 500 Steine. Jeder einzelne Stein mache deutlich, warum „diese Zeit nicht ein ,Vogelschiss‘ in der deutschen Geschichte war, wie uns das ein AfD-Politiker weismachen wollte“. In Deutschland werde es zunehmend wieder Mode, Menschen nach ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe zu beurteilen, sagte Schuster. „Rechtspopulistische Parteien wie die AfD schüren genau diese Stimmung im Land.“ Hier seien Kirchen und Religionsgemeinschaften mit ihrem Menschenbild ebenso als Gegenmodell gefragt wie die übrigen demokratischen Kräfte der Zivilgesellschaft. „Gemeinsam müssen wir nicht nur unsere Stimme erheben, sondern auch aktiv die Menschen unterstützen, die den Mut haben, sich den Feinden der Demokratie in den Weg zu stellen.“ Die Wahlerfolge der AfD seien erschreckend, aber kein Grund zur Hysterie. „Noch vertrauen wir darauf, dass Deutschland als stabile Demokratie die momentane Schieflage korrigieren kann. Wir vertrauen darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung Werte wie Toleranz und Respekt lebt. Dennoch warne ich davor, dass wir uns an die AfD gewöhnen. Es muss das Ziel aller Demokraten bleiben, die AfD wieder aus den Parlamenten zu verbannen.“

Mit ihrer klaren Abgrenzung zur AfD seien die Kirchen wichtige Partner. Dennoch müssten sie weiter an ihrer Haltung zum Judentum arbeiten. „Sich darauf einzulassen, dass der Andere Recht haben könnte, das war über Jahrhunderte in den christlichen Kirchen in Bezug auf das Judentum undenkbar. Erst die Schoa hat in beiden Kirchen dazu geführt, den uralten, eigenen Antijudaismus zu hinterfragen und das Judentum als gleichwertig anzuerkennen“, erklärte Schuster. Als positives Beispiel führte er die Beschneidungsdebatte im Jahr 2012 an. Hier hätten sich die Kirchen öffentlich solidarisch gezeigt und für die Erlaubnis der Beschneidung eingesetzt. „Sie hatten sofort erkannt: Hier geht es um die Zukunft des jüdischen und muslimischen Lebens in Deutschland. Um die Freiheit der Religionsgemeinschaften, eigenständig über ihre Riten zu entscheiden.“

Warum es überhaupt zu Antisemitismus komme, wollte ein Zuhörer in der anschließenden lebhaften Diskussion wissen. Es sei ein Fakt, dass es Antisemitismus seit vielen Jahrhunderten gebe, antwortete Schuster. „Auch die Kirchen hatten einen ganz erheblichen Anteil daran. Aber kein Mensch, kein Kind wird als Antisemit geboren.“

sti (POW)

(4718/1189; E-Mail voraus)

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