Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

„Sein Zeugnis ist für uns Kraft“

Predigt von Generalvikar Dr. Karl Hillenbrand am Gedenktag des seligen Liborius Wagner am 9. Dezember 2005 in Hardheim

Liebe Schwestern, liebe Brüder!

Vor 380 Jahren hat Liborius Wagner als Kaplan in Ihrer Pfarrei gewirkt.

Zunächst trennt uns freilich von seiner Zeit ein breiter geschichtlicher Graben. Dieser verbietet allzu direkte Vergleiche und Übertragungen – seien sie auch noch so gut gemeint, etwa nach dem Motto: „Liborius Wagner hatte Probleme. Auch wir leben in einer schweren Zeit. Also sind wir im Leid vereint.“

So einfach lässt sich über die Distanz von Jahrhunderten hinweg keine Verbindung herstellen. Dennoch gibt es eine viel tiefere Verbundenheit, die uns Liborius Wagner nahe bringt, ohne dabei die veränderten Zeitumstände einzuebnen. Diese Beziehung wurzelt in einer gemeinsamen Glaubensgeschichte, in der immer wieder Menschen unter ganz verschiedenen Bedingungen von Gottes Ruf getroffen werden und sehr ähnliche Grunderfahrungen machen. So kann jeder – um den Text auf der Grabinschrift Liborius Wagners in Heidenfeld aufzugreifen – „des uralten Glaubens neuer Zeuge“ werden. Wenn man davon ausgeht, lässt sich sehr wohl nach Impulsen fragen, die von der Gestalt Liborius Wagners ausgehen und sich für unser Christsein heute auswirken. Mir sind vor allem drei Denkanstöße durch die Vita Liborius Wagners wichtig geworden. Ich benenne sie unter den Stichworten: Lebensentscheidung – Gewissenstreue – Gottvertrauen.

1. Lebensentscheidung

Viele – und nicht nur junge – Menschen haben heute Probleme mit ihrer Lebensentscheidung, weil massive „Bindungsängste“ im Spiel sind. Dies zeigt sich nicht nur im Blick auf den Priesterberuf, sondern genauso in der Frage nach der Ehe als lebenslanger Weggemeinschaft. Zu häufig wird in der eigenen Umgebung das Zerbrechen von Ehen und Freundschaften erlebt. Dazu kommt die Kurzfristigkeit vieler Vorgänge: Trends, die heute „in“ sind, können morgen schon wieder „out“ sein. All das erzeugt bei vielen Jugendlichen eine tief greifende Unsicherheit. Sie äußert sich bei Gesprächen oft in der Frage: „Woher kann ich wissen, dass mein Leben gelingt, kann der Glaube mir garantieren, dass meine Entscheidung richtig ist?“

Das Leben Liborius Wagners bietet bestimmt keine Patentrezepte – aber ich finde doch ermutigende Orientierungshilfen. Wenn er in einem frühen Gedicht seine Situation mit einem Wagenlenker vergleicht, dem der Absturz droht oder wenn er das Bild vom Bootsmann im schwankenden Schiff gebraucht, das von Wind und Wogen hin- und hergetrieben wird, wenn er bekennt, dass ihm die Route seines Lebensweges unklar ist und er auch nicht weiß, wie man ohne Gefahr vorankommt, dann lassen sich in solchen Äußerungen unschwer Parallelen zur Entscheidungssituation junger Menschen heute erkennen. Doch was mich fasziniert: Liborius sieht seine Lebensentscheidung nicht als fertigen Plan, den er vorab in allen Einzelheiten kennt und den er dann nur noch durchzieht. Er ahnt, dass sich das Leben nicht programmieren lässt, sondern dass es einen Weg darstellt, auf dem Überraschungen warten können. Aber er spürt dabei die Gewissheit einer Kraft, die auch im Ungewissen durchträgt: Sie erweist sich als Gottes Geist, der nicht aus unbeteiligter Distanz heraus Ratschläge gibt, mit denen der Mensch dann doch wieder allein gelassen ist. Gottes Geist, so erkennt der junge Student, wirkt vielmehr so im menschlichen Dasein, dass er Lebensgefährte des Unsicheren wird. Diese Erfahrung ermutigt ihn zum Weitersuchen und gibt ihm Kraft, Herausforderungen anzugehen. So kann er – frei wiedergeben – das Wort wagen: „Ob Gottes Geist uns hierher oder dorthin ruft, wir folgen."

Hier wird eines deutlich: Berufung wird im Ansatz missverstanden, wenn sie vom Grundgedanken einer bloß menschlichen Entscheidung her angegangen wird, die mich für mein weiteres Leben festlegt und einengt. Wir brauchen eine neue Einsicht dafür, dass es im Glauben niemals um zufällige Fügung geht, die mich in den Wechselfällen des Lebens einem anonymen Kräftespiel aussetzt. Vielmehr wird für den, der sich auf diesen Weg einlässt, eine Führung durch Gott spürbar, die angstfreie Offenheit für meine eigenen Geschichte wie für die anderer Menschen ermöglicht. Motivierend für eine Lebensentscheidung ist nur die glaubhaft vorgelebte Erfahrung, dass der Verzicht auf andere Möglichkeiten von einem Gewinn an Tiefe aufgefangen und mehr als ausgeglichen wird. Eine christliche Lebensentscheidung ist nur dann möglich, wenn sie als „Unterwegssein mit einer Verheißung“ begriffen wird. Diese Sicht macht mich fähig, Veränderungen konsequent anzugehen in dem Wissen, dass ich dabei von Gott gehalten bin, der mein Leben begleitet.

Die erste Konsequenz aus einer stimmigen Erinnerung an Liborius Wagner wäre, sich wieder einmal verstärkt die Frage zu stellen: Wie steht es um meine eigene Lebensentscheidung?

2. Gewissenstreue

Die Lebensentscheidung für Gott führte Liborius Wagner zur Bindung an die katholische Kirche, deren Erscheinungsbild damals alles andere als glänzend war. Durch die unselige Verquickung von religiösen Absichten und politischen Vorgängen war eine Lage entstanden, die den einzelnen rein äußerlich gesehen hoffnungslos überforderte. Die Briefe Liborius Wagners aus seiner Zeit als Pfarrer in Altenmünster zeichnen ein sehr deutliches Bild davon. Aber was gab ihm letztlich die Kraft, zur Kirche dieser Zeit zu stehen und in ihren Bedingtheiten Gottes Wirken wahrzunehmen?

Wir sprechen heute gern und mit Recht von Liborius Wagner als einem „Vorbild der Gewissenstreue“. Aber das Wort „Gewissen“ wird heute sehr uneinheitlich verwendet. Die Debatte um den Schutz des Lebens hat zum Beispiel gezeigt, wie schnell sich Abtreibungsbefürworter auf eine Gewissensentscheidung berufen, die ja schließlich Sache des Einzelnen sei – an ihm liege es, was er aus seinem Leben mache. Dabei gerät nur zu leicht aus dem Blick, dass Gewissen nie bloß individuell geprägt ist, sondern grundlegend mit Verantwortung zu tun hat.

Christliche Gewissensbildung weiß sich deshalb der Verantwortung vor Gott und den Menschen verpflichtet. Ich möchte das am Beispiel Liborius Wagners verdeutlichen: Seine pastorale Lage war ja auch dadurch gekennzeichnet, dass er als Pfarrer von Altenmünster nach den damaligen Rechtsverhältnissen auch für die lutherischen Dorfbewohner zuständig war. Er nahm die Situation nun nicht etwa als unvermeidliches Übel in Kauf, sondern mühte sich intensiv um die evangelischen Mitchristen. Eine Distanzierung wäre von seiner biographischen Vorprägung her durchaus verständlich gewesen, aber er wusste um seine Verantwortung vorGott für alle ihm Anvertrauten. Seine Briefe, mehr noch seine Handlungen bezeugen das immer wieder. Mich beeindruckt daran, dass Liborius Wagner von sich aus keine Ausgrenzung betrieben hat. Mir ist dies Anlass zur Gewissenserforschung: Wo grenze ich Einzelne oder ganze Gruppen aus meiner Zuwendung aus, weil sie schwierig sind, weil ich Kritik und Widerstände spüre, weil ich mir mit ihnen schwer tue?

Diese Gewissenstreue als Verantwortung vor Gott und den Menschen verwirklichte sich bei Liborius Wagner als Treue zur konkreten Kirche. Dazu braucht es, um es mit einem heutigen Wort zu sagen, Sympathie. Das Wort hat eine doppelte Bedeutung. Es meint zunächst: Mit-leiden. Kann ich – wie in seiner Zeit Liborius Wagner – mitleiden in einer vorläufigen, oft vom Versagen gezeichneten Kirche, weil Jesus um diese Kirche gelitten hat und ihr die Treue hält? Bloße Kritik hält auf Distanz; Mitleiden dagegen lässt Gemeinschaft wachsen. Sympathie beinhaltet aber immer auch „Leidenschaft“ und braucht von daher Liebe: aber weder die Liebe zu einer romantisch verklärten Kirche von gestern noch zu einer erträumten Kirche von morgen, sondern Leidenschaft für eine Kirche der Gegenwart, die in aller Vorläufigkeit doch Vorläuferin auf Gottes Reich hin ist, das sie in seinem Kommen sichtbar bezeugen darf. Die zweite Konsequenz aus der Erinnerung an Liborius Wagner wäre mithin die bleibende Aufgabe der ständigen Gewissensbildung, die zu einer vertieften Glaubenstreue führt.

3. Gottvertrauen

Treue zur Kirche darf aber nie zum Selbstzweck werden. Der entscheidende Grund christlichen Gottvertrauens liegt in der Erfahrung: Wir sind für Gott so viel wert, dass er in Jesus unsere Wege mitgeht – bis hinein in die Verborgenheit, in menschliche Verweigerung und in den Tod. Liborius Wagner ist diesen Weg mitgegangen. Nach außen hin war sein Leben ein ständiger Abstieg: Ausgerüstet mit überdurchschnittlichen Bildungsvoraussetzungen war er zeitweise durch die konfessionellen und politischen Konstellationen in seiner Pfarrei fast zur Untätigkeit verurteilt. Greifbare „Seelsorgserfolge“ wie etwa Konversionen zum katholischen Glauben waren durch den Dorfherrn praktisch unmöglich gemacht. Nach menschlichem Ermessen war Liborius Wagner schon während seiner Tätigkeit an unüberwindliche Grenzen gestoßen. Bereits hier stellt sich die Frage nach dem eigentlichen Lebensgeheimnis dieses Priesters. Es ist nur von einer radikalen Haltung des Vertrauens her zugänglich, die daran glaubt, dass unser bruchstückhaftes Tun von Gott in einen größeren Lebenszusammenhang gestellt ist, der die Grenzen der konkreten Zeitumstände wie die der sichtbaren Existenz als ganzer überschreitet: Gott hat mehr Möglichkeiten, als wir ahnen. Um recht verstanden zu werden: Damit rede ich keiner buckligen Frömmigkeit das Wort, die sich vorschnell mit Schwierigkeiten abfindet und resignatives Unterlassen zur Glaubensergebenheit deutet. Gerade Liborius Wagner eignet sich dafür überhaupt nicht als Gewährsmann: Im schmerzlichen Erfahren pastoraler Behinderungen tat er noch, was er konnte – in der Zuwendung zum Einzelnen, in der Sorge um gerechte materielle Behandlung auch der Andersgläubigen, durch das Verbleiben in der Nähe seiner Pfarrei in aussichtsloser Lage. Es geht in all dem vielmehr um die Konsequenzen aus einer bleibenden Grundspannung des Christseins, von der auch unser Leben geprägt ist. Der zweite Korintherbrief umschreibt dies so (2 Kor 4, 7-9): „Diesen Schatz (des Glaubens) tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß an Kraft von Gott und nicht von uns kommt. Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden nieder gestreckt und doch nicht vernichtet.“ Dieser Text wirkt wie eine Zusammenfassung des Geschickes von Liborius Wagner. Auch wenn sich voreilige und direkte Übertragungen auf unsere Zeit verbieten, stellt sich mir doch die Frage: Setze ich auch in bedrängter Zeit meine begrenzten Kräfte ein, tue ich, was ich kann, aber überlasse es Gott, was er letztlich daraus macht? Ich bin gerade im Blick auf das Leben von Liborius Wagner fest davon überzeugt: Wir brauchen gar nicht bis zu unserem Lebensende alles erreicht und erjagt haben. Was Stückwerk in unserem Dasein geblieben ist, das wird Gott in seinem Erbarmen nach unserem Tod vollenden und erfüllen.

Noch einmal: Gefragt ist eine Lebensentscheidung im Gottvertrauen, das Gewissenstreue im Glauben ermöglicht. Dabei brauchen wir Hilfe. Ich bin davon überzeugt, dass der selige Liborius Wagner auch heute ein wichtiger Helfer sein kann. Deshalb wünsche ich uns allen, dass das Motto des Gedenkjahres zu seinem 350. Todestag auch heute und weiterhin gilt: „Sein Zeugnis ist für uns Kraft.“

(122 Zeilen/5005/1637)