Liebe Schwestern und Brüder,
Wie oft erleben wir menschliche Grenzen – bei uns genauso wie bei den anderen. Schon als kleines Kind wird man ständig auf Fehlverhalten und Gefahren hingewiesen. Was müssen wir nicht alles lernen, damit wir mit unseren Grenzen richtig umzugehen wissen.
Im Laufe eines Lebens bauen sich um uns herum Mauern auf: teils errichten wir sie uns selbst, um uns von anderen abzuschotten, teils werden sie von anderen aufgerichtet. Schmerzlich ist dies in jedem Falle.
„Mit meinem Gott überspringe ich Mauern“ hat der Psalmist in einem Dankgebet gejubelt, als er sich der Treue und Zuverlässigkeit Gottes gegenüber seinen Getreuen bewusst wurde (Ps. 18,30). Ich habe bewusst diesen Psalmvers als Jahresleitsatz gewählt, weil er uns vor Augen führt, wie wir die Schwierigkeiten und Begrenzungen unseres Lebens überwinden können.
Unsere Kilianiwallfahrt ist ein solcher Sprung über die Mauern. Wir schauen nämlich auf unsere Frankenapostel, die diesen Psalmvers kannten und schon im siebten Jahrhundert die engen Grenzen ihrer irischen Heimat überwunden haben. Sie haben Familie, Freunde und Heimat verlassen, um dem Anruf Jesu Christi gerecht zu werden als sie hörten: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ (Lk 9,23)
Woher dieser Mut, alles, aber auch alles aufzugeben? Doch nur im Vertrauen, dass Gott sein Wort einlöst, das er Petrus und den Aposteln gegenüber gegeben hat, als sie ihn fragten: „Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen? Jesus erwiderte ihnen: Amen ich sage euch: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen.“ (Mt 19,27.28)
Hier wird ganz klar von Jesus erwartet, dass wir die Realität des Himmels und der Neuschöpfung der Welt am Ende der Zeiten in unserem Leben jetzt schon berücksichtigen. Wer nicht an das Weiterleben nach dem Tode glaubt, kann eine solche Einstellung nicht verstehen.
Natürlich kennen wir auch die Gefahren, sich den Himmel erkaufen zu wollen. Wir können nicht die sogenannten guten Taten Gott gegenüber als Forderungen aufstellen. Der zu Herzen gehende Film, der veruntreute Himmel, hat deutlich gemacht, dass man sich auch nicht den eigenen Seelenfrieden erkaufen – wohl aber von Gott schenken lassen – kann.
Es geht also beim Überspringen der Mauern um das gläubige Vertrauen, dass Gott als der Erschaffer des Himmels und der Erde derjenige ist, der uns aus Liebe in dieses Leben gerufen hat, um uns durch die Prüfungen unseres Lebens an seiner Größe, Vollkommenheit und Ewigkeit teilhaben zu lassen.
Die Ermöglichung und innere Sicherheit, dies auch erreichen zu können, ist uns schon durch die Ganzhingabe Jesu an den Vater geschenkt. Er, Jesus, hat die Mauern unseres Lebens durchbrochen und den Weg zum Vater geöffnet. Von uns aber erwartet der Herr, dass wir ihm nachfolgen und im Vertrauen auf sein Mitgehen unsere Ängstlichkeit, unseren Egoismus, unsere Halbherzigkeit überwinden.
Liebe Schwestern und Brüder, viele von Ihnen engagieren sich schon seit langem in der Kirche. Auf unterschiedliche Weise sind Sie in Gremien und Vereinen, in Gruppen und Pfarrkreisen tätig. Sie erleben auch Mauern im kirchlichen Umfeld, Schwierigkeiten und Grenzen, die viel Optimismus und immer wieder neu guten Willen einfordern. Wie oft möchte man aufgeben und sagen: Jetzt ist es genug!
Die Pfarrhaushälterinnen unter Ihnen haben eine besondere Lebensaufgabe wahrgenommen, den Priestern ein Heim zu schaffen. Ich kann Ihnen dafür nur von Herzen danken! Ich kann Ihnen allen nur Dank sagen, dass Sie sich die Bereitschaft zur Mitarbeit und Ausbreitung des Glaubens erhalten haben.
In den letzten Jahren hat die Kirche in unserem Land durch das Versagen einzelner an Glaubwürdigkeit verloren. Das tut uns allen weh. Nur ein überzeugendes Leben aus dem Glauben kann die Herzen der Menschen zurückgewinnen. Da ist jede und jeder einzelne von uns ganz persönlich angefragt. Die Motivation schenkt uns Christus selbst. Durch seine Lebenshingabe – bis zum Tod am Kreuz – hat er eine Liebe verströmt, die durch alle Jahrhunderte weiter fließt und uns befreit.
Durch diese Liebe entzündet, haben Kilian, Kolonat und Totnan den Sprung von der irischen Insel auf das kontinentale Festland geschafft. Nur im Vertrauen auf Gottes Lohn, den er uns nicht vorenthalten wird, konnten sie alle Mühsal, alle Entbehrungen und Enttäuschungen ertragen. Kann es uns anders gehen?
Heute haben wir Glaubensmangel und darum auch Christenmangel. Die in den Medien immer wieder breit ausgeschlachteten Defizite in unserem kirchlichen Alltag dienen nicht zur Aufdeckung von Wahrheit und Vertiefung des Glaubens, sondern machen die Menschen unsicher, müde und mürbe.
Nur wer den Mut hat – wie der jubilierende Psalmist und unsere Frankenapostel – mit Gott die Mauern zu überspringen, macht die Erfahrung, dass der Lohn nicht allein auf das Jenseits verschoben – und damit auch angezweifelt – werden kann, sondern sich jetzt schon in einem innerlich erfüllten Leben einstellt.
In der ersten Lesung aus dem Buch der Weisheit hörten wir im Blick auf die Verstorbenen: „Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren. In den Augen der Toren sind sie gestorben, ihr Heimgang gilt als Unglück, ihr Scheiden von uns als Vernichtung; sie aber sind in Frieden. In den Augen der Menschen wurden sie gestraft, doch ihre Hoffnung ist voll Unsterblichkeit.“ (Weish 3,1-4)
Trauen wir Gottes Verheißung und überspringen wir mit ihm die Mauern.
Amen.