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Unterfränkische Biografien

Neues Buch zeigt Lebensgeschichten von 45 jüdischen Personen – Detaillierte Einblicke in das selbstverständliche Zusammenleben von Juden und Christen – Buchpräsentation im Jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrum „Shalom Europa“

Würzburg (POW) „Warum immer noch einem verlorenen Lande nachweinen, wenn man doch in einem so schönen anderen leben darf, in dem es uns gut ergeht und das wir von ganzem Herzen lieben.“ So schreibt die Rimparerin Julie Laßmann 1934 rückblickend über ihr kindliches Unverständnis, wenn ihre Mutter am Vorabend des Feiertags Tischa Be-Aw an den Fall Jerusalems und die Zerstörung des Zweiten Tempels, die Vertreibung der Juden aus Spanien und andere Katastrophen erinnerte.

Sie ist eine von 45 Personen, deren Lebensläufe Dr. Roland Flade, langjähriger Redakteur der Main-Post, in seinem Buch „Jüdische Familiengeschichten aus Unterfranken“ beleuchtet. Am Dienstag, 12. Oktober, stellte er das Werk im Jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrum „Shalom Europa“ im Beisein von Dr. Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, vor. „Es ist meine Absicht, das selbstverständliche Zusammenleben von Juden und Christen zu beschreiben. Auf der gelungenen und unumkehrbar scheinenden Integration liegt der Schwerpunkt. Doch es ist undenkbar, nicht auch das Schicksal dieser Menschen nach 1933 zu behandeln“, betonte Flade. An der Veranstaltung nahmen unter anderem Bischof Dr. Friedhelm Hofmann, Universitätspräsident Professor Dr. Alfred Forchel, Würzburgs Bürgermeister Dr. Adolf Bauer, Bezirksheimatpfleger Professor Dr. Klaus Reder und Albrecht Fürst zu Castell-Castell teil.

„Es ist wichtig, Zeichen zu setzen, insbesondere an einem Abend wie heute, wo in der Stadt Wügida wieder unsägliche Parolen verbreitet“, erklärte Main-Post-Chefredakteur Michael Reinhard beim Begrüßen der Gäste. Flades Buch sei dessen fünftes, das sich mit Juden in Unterfranken auseinandersetzt. „Es entstand auf den Vorschlag von Fürst zu Castell-Castell, einmal zu zeigen, dass Juden vor dem Zweiten Weltkrieg ganz selbstverständlich zur unterfränkischen Gesellschaft gehörten. „Entstanden sind Texte, wie sie auch in der Zeitung stehen könnten, basierend auf Flades eigenen Recherchen und Werken von Historikern.“

„Jüdisches Leben gibt es in Deutschland seit Jahrhunderten – und auch nach 1945 wieder“, betonte Schuster. Durch die Porträts in seinem Buch mache Flade deutlich: „Juden waren und sind ganz normale Menschen.“ Das sei wichtig, gerade in einer Zeit, in der wieder Menschen wegen ihrer Religion verfolgt und auf der Flucht seien. „Zu uns kommen Menschen, die fast alles verloren haben, traumatisiert sind und unsere Hilfe brauchen.“ Fürst zu Castell-Castell kritisierte den tiefsitzenden Antisemitismus, aus dessen Wurzel noch immer Triebe von Hass, Gewalt und Zerstörung hervorkämen. „Menschen, die die Kirche verlassen, entziehen sich auch dem Einfluss der lebensbestimmenden Kraft des Evangeliums.“ Das auf seine Initiative entstandene Buch Flades bezeichnete er als lange ihn ihm schlummernden Wunsch. „Möge dadurch mehr Zuwendung, mehr Liebe für die Juden erwachsen.“

Aus den 45 Biografien griff Flade in seinem Vortrag Schicksale wie das von Solms Heymann (1858 bis 1942) aus Bad Kissingen heraus. Dieser betrieb mit seiner Gattin Adle ein Konfektionsgeschäft am Marktplatz. Innerhalb der jüdischen Gemeinde sei er so etwas wie das Faktotum der schöngeistigen Welt gewesen. „Der Theaterbegeisterte brachte sich nicht nur hier ein, sondern auch in der bürgerlichen Gemeinde“, betonte Flade. Unter anderem war Heymann von 1891 bis zu seinem Ausschluss 1933 Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, gründete 1889 die Freiwillige Sanitätskolonne mit und 1908 den SPD-Ortsverein. Auch nachdem Sohn Hartwig, dessen Frau Leni und Enkel Gerhard vor den Nationalsozialisten geflohen waren, blieben Solms Heymann und seine Gattin in Bad Kissingen. „Sie vertrauten darauf, dass ihnen wegen ihres Alters und der Verdienste um die Heimatstadt nichts passieren werde. Es war eine Illusion.“

Wie sehr viele Juden sich als deutsche Patrioten verstanden, verdeutlichte Flade am Beispiel des Studenten Richard Rosenburg (1894 bis 1914). Der meldete sich als 18-Jähriger nach dem ersten Semester seines Studiums freiwillig zum Krieg. „Ich freue mich darauf, fürs Vaterland ein paar Feinde zusammenzuschießen“, zitierte Flade Rosenburg. Wenig später war der junge Student einer von insgesamt 12.000 deutschen Juden, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben ließen. „Von den 398 jüdischen Kriegsteilnehmern aus Würzburg fielen 32. Weitere acht starben später an ihren Verletzungen. Zwei Drittel erhielten Auszeichnungen. Die jüdische Gemeinde Schweinfurt verlor zwölf Mitglieder, die Westheimer drei, die Burgpreppacher sechs, die Veitshöchheimer drei, die Kitzinger elf, um nur einige Beispiele zu nennen“, sagte Flade.

Ebenso kenntnisreich ist Flades Porträt über den Zeller Kaufmann, Fabrikant und Talmudgelehrten Mendel Rosenbaum (1783 bis 1868). In Theilheim geboren, zog dieser nach Zell am Main und betrieb dort einen Gemischtwarenladen sowie eine fabrikähnliche Nagelschmiede. 1845 folgte eine Talmudhochschule, die bald Schüler von auswärts anzog. „Häufige Besuche führten Rosenbaum, der inzwischen zum Sprecher der fränkischen Juden geworden war, nach München, wo man ihn scherzhaft ‚Bischof der Juden‘ nannte.“ Der bayerische Innenminister Theodor von Zwehl, mit dem Rosenbaum freundschaftlich verbunden war, habe diesen 1853 gebeten, zu ihm zu kommen und für sein schwer erkranktes einziges Kind zu beten. Der inzwischen 70-Jährige nahm die mühsame, 27-stündige Reise auf sich und betete am Bett des Jungen. „Der Junge erholte sich und die Dankbarkeit der Zwehls war grenzenlos.“ Anstelle einer Belohnung habe Rosenbaum um eine Audienz beim König gebeten, um mit diesem über die diskriminierenden Bestimmungen für Juden zu sprechen. Diese wurde ihm gewährt. „1868, vier Jahre nach dem Tod des Königs und im Jahr von Mendel Rosenbaums Tod, brachte das Gesetz über die Heimat, Verehelichung und Aufenthalt dann endlich die weitgehende bürgerliche und politische Gleichstellung der bayerischen Juden.“

Wie sehr nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten das jüdische Leben in Bedrängis geraten war, merkte auch die anfangs zitierte Julie Laßmann schnell. In ihren Aufzeichnungen aus dem Jahr 1934 folgt auf das bereits erwähnte Zitat die Botschaft an die im Jahr zuvor gestorbene Mutter: „Dir ist dies erspart geblieben, diesen bitteren Schmerz hast du nicht erleben müssen.“ Laßmann starb 1943 in Auschwitz.

Roland Flade: Jüdische Familiengeschichten aus Unterfranken. 304 Seiten, Main-Post Verlag, 14,95 Euro, Würzburg 2015, ISBN 978-3-925232893.

mh (POW)

(4215/1023; E-Mail voraus)

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