Frustration macht sich breit. Das spricht aus den vielen Rückmeldungen, die mich seit Wochen erreichen, und zwar von Gläubigen wie von Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Immer wieder höre ich, man schäme sich mittlerweile, katholisch zu sein. Der Ansehensverlust von Kirche überträgt sich auf die, die sich für diese Kirche einsetzen und in ihr arbeiten.
In meinem diesjährigen Fastenhirtenbrief möchte ich dem Gefühl der Frustration nachgehen. Was wir mit Frustration bezeichnen, ist in der Geschichte christlicher Spiritualität ein oft beschriebenes Phänomen. Es ist bekannt unter dem Lehrstück vom „Überdruss“ (Akedia). Zuerst frage ich, wann sich das Gefühl des Überdrusses einstellt und in welchen Haltungen er sich zeigt. Dann möchte ich darlegen, wie man dem Überdruss begegnen kann und wie wir als Bistum die momentane Situation bestehen können, ohne uns vom Überdruss lähmen zu lassen.
Der Überdruss in seinen vier Formen
Beginnen wir mit der Frage, wann sich Überdruss im Leben einstellt. Das Gefühl des Überdrusses überkommt uns im Leben immer dann, wenn eine Situation sich krisenhaft zuspitzt und wenn zugleich nicht klar ist, wie eine gute Lösung aussehen könnte.
Die kirchlichen Krisenphänomene sind uns allen sattsam bekannt: der sexuelle Missbrauch und die Art und Geschwindigkeit seiner Aufarbeitung; die Frage nach der Wahrhaftigkeit der Kirchenleitung im Umgang mit den bestehenden Problemen; die Diskussion um die Reform der Kirche und die Frage nach deren möglicher Umsetzung; der epochale Umbruch von der Volkskirche zur Entscheidungskirche mit allen bekannten Mangelerscheinungen. Angesichts all dieser Spannungen zeigt sich der Überdruss in vier Formen.
Erstens: Überdruss als Tunnelblick. In jeder Krise tendieren die bestehenden Probleme dazu, die gesamte Aufmerksamkeit zu absorbieren. Das ist völlig verständlich. Die Konzentration auf die Schwierigkeiten verstellt aber auch den Blick für das Gute, für das Kirche steht und das Kirche tut. Plötzlich erscheint alles in schlechtem Licht und wird fragwürdig.
Zweitens: Überdruss als tiefsitzende Traurigkeit. Die gegenwärtige Kirchenkrise ist für viele Gläubige eine maßlose Enttäuschung. Aufgrund des Fehlverhaltens der Kirchenleitungen und der Amtsträger sehen sie sich getäuscht. Die ernüchternde Erkenntnis, dass auch die Kirche eine Kirche der Sünder ist, quittiert mancher nur noch mit Häme und Verachtung.
Drittens: Überdruss als Ungeduld und innere Rastlosigkeit. Wie bei jeder Krise im Leben wünschen wir uns, dass alles möglichst schnell vorbeigehen möge. Das Bemühen, alle Vorgänge zu beschleunigen, bringt eine wachsende Aggression mit sich, die sich im schärfer werdenden Ton der Debatten offenbart.
Viertens: Überdruss als Antriebslosigkeit. Das scheinbar vergebliche Bemühen um Abhilfe erzeugt eine ungeheure Müdigkeit. Sie wirkt demotivierend und geht einher mit einem Verlust der inneren Spannkraft. Statt sich in Ruhe seiner Arbeit zu widmen, sucht man sein Heil in der Flucht vor der bedrängenden Wirklichkeit.
Die Jünger am Ölberg als Veranschaulichung des Überdrusses in der Kirche
Im Blick auf die vier Haltungen, die mit dem Überdruss einhergehen, drängt sich mir das Bild der Jünger am Ölberg auf (Mt 26,36-46). Die Enttäuschung über das nahe Ende ihres Meisters steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Alles scheint plötzlich seinen Sinn zu verlieren. Dass das Kreuz, von dem Jesus oft gesprochen hatte, jetzt als reale Möglichkeit im Raum steht, verwirrt sie. Sie sind müde und erschöpft. Dreimal hintereinander findet Jesus seine Jünger schlafend. Am liebsten würden sie sich schnell dem Druck der Situation entziehen. Bei der ersten Gelegenheit suchen sie dann ihr Heil in der Flucht. Der Überdruss hat auch die Jünger Jesu in seinen Bann geschlagen.
Das Beispiel Jesu als Ermutigung in widrigen Zeiten
Doch wie soll man dem Überdruss begegnen? Will man der Übermacht des Überdrusses wehren, kann es meines Erachtens helfen, sich an Jesus im Durchleben der Passion zu orientieren. Denn auch Jesus hat mit den vier Begleiterscheinungen des Überdrusses zu kämpfen.
Dem übermächtigen Eindruck, alles sei sinnlos und lohne keinen weiteren Einsatz mehr, gibt Jesus nicht nach. In der Nacht am Ölberg ringt er mit der Frage, ob er nun aufgeben soll. Am Ende erlangt er im Gebet die Gewissheit, seinen Weg weiterzugehen. In ähnlicher Weise ergeht es auch uns. Der Problemdruck sollte uns nicht zu der Ansicht verleiten, kirchliches Engagement habe sich erledigt. Beides ist erforderlich: ein zielgerichtetes Bearbeiten der anstehenden Herausforderungen ohne jedoch in unserem Einsatz nachzulassen, dort, wo uns persönlich Kirche wichtig ist und wo wir unsere persönliche Mission sehen.
Als Bischof versuche ich alles, was in meinen Kräften steht, zu tun, um die anstehenden Herausforderungen anzupacken. Das betrifft die Aufarbeitung des Missbrauchs genauso wie jetzt die Reform des kirchlichen Arbeitsrechtes. Ich bitte Sie: Lassen auch Sie sich nicht entmutigen in Ihrem persönlichen Engagement! Ich bin überzeugt: Sie machen den Unterschied, wenn Sie Kirche auch und gerade jetzt mitgestalten!
Der Verrat in den eigenen Reihen scheint Jesus nicht zu überraschen. Er sagt Petrus schon voraus, dass er ihn verleugnen wird, als der noch vollmundig behauptet, ihm immer treu zur Seite zu stehen. Jesus weiß um die Schwäche der Kirche und ihrer Amtsträger von Beginn an. Und wie Petrus sich nach dem Fall erst bekehren muss, bis er in der Nachfolge Jesu die Kirche leiten kann, so muss auch Kirche sich zuerst selbst bekehren, bevor sie anderen die Umkehr predigt.
Heiligkeit ist deshalb nicht zu verwechseln mit Perfektion. Sondern heilig ist nur der, der weiß, dass er jeden Tag aufs Neue umkehren muss. Nicht die perfekte Kirche, sondern die Kirche, die neu aufbricht, ist die wahre Kirche Jesu Christi. Ihre Schwäche wird dann zur Stärke, wenn sie sie eingesteht und annimmt und neu beginnt. Insofern erleben wir jetzt eine Zeit der Gnade, wie Paulus uns in der zweiten Lesung am Aschermittwoch zurief: „Zur Zeit der Gnade erhöre ich dich, am Tag der Rettung helfe ich dir. Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade, jetzt ist er da, der Tag der Rettung!“ (2 Kor 6,2).
Deswegen setzt auch Jesus am Ölberg gegen Müdigkeit und Resignation auf die Kraft des Gebetes. Ohne Gebet ist alles nichts. Denn das Gebet im Namen Jesu verbindet uns mit Gott und untereinander. Im Geist des Gebetes wird uns geschenkt, die Überlieferung der Kirche umfassender und besser zu verstehen. Das Gebet ist die Kraft, mit der wir uns immer wieder über die Mühen des Alltags erheben. So können wir mit den Augen Gottes neu sehen lernen und uns so gestärkt um die Erneuerung der Kirche bemühen. Das Beten verbindet uns mit dem lebendigen Gott. Es ist der Gott, der nicht die Wiederbelebung des Vergangenen will, sondern ganz auf die Kraft der Auferstehung setzt. Setzten auch wir als Bistum Würzburg in dieser Zeit der Krise nicht auf die Wiederbelebung des Vergangenen, sondern ganz auf eine Erneuerung aus dem Glauben an die Auferstehung!
Gegen die Ungeduld übt sich Jesus in der Beharrlichkeit. Konsequent überwindet er das Böse durch das Gute. Er beschimpft niemanden, schlägt nicht zurück, droht niemandem. Er tritt nicht überheblich auf. Ohne Zynismus geht er souverän seinen Weg, weil er weiß, dass die Macht des Guten siegen wird. Darin ist er uns Vorbild in dem Bemühen, die Kirche zu erneuern. Mit Entschiedenheit sind die nächsten Schritte zu setzen, ohne uns gegenseitig das Katholisch-Sein abzusprechen und ohne uns auseinanderdividieren zu lassen. Denn Erneuerung ohne das Bemühen, die Einheit der Kirche zu wahren, führt in die Spaltung, die niemand will.
Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen
In einem kühnen Wort schreibt der Apostel Paulus im Römerbrief: „Wir rühmen uns der Bedrängnisse; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,3-5).
Bedrängnis ist für Paulus nicht etwas, dessen man sich schämen müsste. Bedrängnis ist vielmehr die Einladung, im Glauben zu wachsen. Sie gebiert Geduld, die gepaart mit Entschiedenheit voranschreitet. Diese Geduld, die anpackt und nicht entmutigt die Hände sinken lässt, wird zur Bewährung. Der lange Atem der Bewährung ist Ausdruck gelebter Hoffnung. Die Hoffnung jedoch lässt nicht zugrunde gehen, denn sie ist der Anker der Seele. Die beiden Hoffnungsanker in meinem Wappen erinnern mich stets daran, dass diese Hoffnung einerseits der irdischen Wirklichkeit verpflichtet sein muss, wenn sie nicht in leere Träumerei abgleiten soll. Dass sie aber zugleich in den Himmel hineinreichen muss, weil wir glauben, dass immer noch mehr möglich ist, seit Christus uns in das himmlische Heiligtum vorausgegangen ist.
Diese freudige Hoffnung wünsche ich Ihnen allen nun beim Eintritt in die österliche Bußzeit. Sie nehme den Überdruss aus unseren Herzen. Sie lasse uns mutig ausschreiten auf dem Weg unserer persönlichen Christusnachfolge. Sie stärke unsere Verbundenheit mit Christus in der Gemeinschaft der Kirche, die den Einsatz unserer besten Kräfte gerade jetzt benötigt. Der Herr helfe uns, uns gemeinsam zu ihm hinzukehren und uns zu bekehren.
Für die Tage auf Ostern hin begleiten Sie dazu meine besten Wünsche. Zugleich danke ich Ihnen allen für das, was Sie persönlich in die Kirche von Würzburg einbringen. So gestalten Sie Tag für Tag das Bild der Kirche von Würzburg neu, das in dieser Zeit so hinterfragt wird wie selten zuvor.
Gott segne unser Bistum Würzburg und Sie alle auf dem Weg der geistlichen Erneuerung!
Ihr
Bischof Franz