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„Wach bleiben für die geistige Not unserer Zeit“

Eröffnungsvortrag von Bischof Dr. Friedhelm Hofmann bei der Ausstellung „Bernard Schultze – Bildwelten 1982-2004“ am 20. September 2006 im Würzburger Museum am Dom

Mit dieser Ausstellung im Museum am Dom begeben wir uns auf eine Spurensuche, die nicht nur die künstlerische Ausdruckskraft des im vergangenen Jahr verstorbenen Künstlers Bernard Schultze erfasst, sondern unsere Zeit.

Wir begegnen hier Bildern von explodierender Kraft, betörenden Farbkompositionen, spinstigen Linienverflechtungen und geradezu barocken Dramaturgien.

Der Verleger Karl-Heinz Schmid aus Regensburg bezeichnete Bernard Schultze im Frühjahr 2005 im „Informationsdienst Kunst“ als „King of Art“ und Marie-Amélie zu Salm-Salm, Frankfurt, zitierte in ihrer Dissertation (2003) Will Grohmann mit dem Satz „Il est le < pape secret >de informels“.

In der Tat, Bernard Schultze, der vielleicht größte Vertreter des deutschen Informels, macht es dem Rezipienten nicht leicht. Er konfrontiert uns mit Bildern von Farbfäden und sich zu Flächen verdichtenden Farbkörpern, die den Blick des Rezipienten auf sich ziehen. Der Blick findet kaum Halt. Er wird von der Farben sprühenden Bildfläche angezogen, schweift über die Leinwand, das Blatt, oder lässt sich in das Werk hineinziehen.

Das Farbgewoge verästelt sich zu Farbsträngen, lässt skurrile Gebilde erstehen, die sich wie zu rätselhaften Irrgärten aufbauen.

Obwohl fast jedes Bild einen Titel hat, ist daraus zunächst nicht unmittelbar eine Erklärung abzuleiten. Bei näherem Hinschauen stellt die Bildbezeichnung nur bedingt eine Sehhilfe dar, denn der Titel selbst kommt wie ein Knäuel verschiedenster Gedankenfäden einher und eröffnet mehr Rätsel als Entschlüsselungen. Der Künstler selbst macht keinen Hehl daraus, dass seine Titel keine Interpretationen seiner Bilder sind. So schrieb er 2001 über ein Aquarell mit Bleistiftzeichnung: „was es sein soll, weiß ich nicht.“ Die Bildtitel selbst sind of kleine literarische Kunstwerke, die eigene phantastische Räume erschließen, um mit dem bildnerischen Werk eine spannungsvolle Reise in Gefühlswelten zu ermöglichen, die jenseits des sezierenden Verstandes erfahrbar werden.

Bernard Schultze hatte nach seiner Berliner und Düsseldorfer Studienzeit in Frankfurt Karl Otto Götz, Heinz Kreutz und Otto Greis kennen gelernt. Mit ihnen bildete er die Quadriga-Gruppe, eine dem Tachismus verwandte Avantgarde, die maßgeblich für das deutsche Informel steht. Diese Kunstrichtung schöpft aus dem eigenen Unbewussten. Der Zeichner oder Maler hat kein in ihm schlummerndes vorgegebenes Konzept, dem er Gestalt geben möchte. (Man denke nur an Michelangelo, der angab, die im Stein „verborgene“ Figur nur von dem sie einengenden Material befreien zu wollen.) Vielmehr baut sich während des Schaffensprozesses aus den Strichen, Farblinien und Flächen erst allmählich ein Ganzes auf.

Der Künstler begibt sich in seinem Schaffensprozess auf eine Traumreise durch nie erkannte oder entschlüsselte Phantasiewelten. Seine Sicht der Realitäten ist dabei von unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen, Gefühlszuständen und riskanten Aufbrüchen in eine geistige „terra incognita“ bestimmt. Mir scheinen Schultzes Kreationen wie mikroskopische Achterbahnfahrten durch das Innenleben zu sein.

Ich kannte diesen Künstler recht gut. Bei unterschiedlichen Treffen haben wir uns oft und lange über sein Schaffen, seine Motive, seine Sinnsuche unterhalten. Er war ein großer Intellektueller, ein Philosoph, der der Sinnfindung auf der Spur blieb. Er teilte nicht meinen Glauben an den wirkmächtigen Gott, der konkret in unser Leben eingreifen kann. Er fand nicht zum Glauben an den in Wort und Sakrament nahen Jesus Christus. Er blieb vielmehr rastlos auf der Suche danach. Die Fragen nach dem Woher und Wohin trieben ihn und beschwerten ihn. So machte er Anleihen bei der Mythologie und ihren Labyrinthen. Unter eine kleine Zeichnung, die er mir widmete, schrieb er: "Ein Labyrinth für Sie; das ist unser Leben". Das war seine Sicht von Leben.

Wir sprachen des Öfteren über die unterschiedlichen Labyrinthe der verschiedensten Kulturen, vom kretischen Labyrinth, das nach antiker Überlieferung ein von Daidalos für den König Minos geschaffener, unübersichtlicher, ja verwirrender Bau in Knossos war, in dessen Mitte Minotaurus hauste, den Theseus tötete. Mit dem Ariadnefaden fand er wieder aus dem Gewirr zurück. Bernard Schultze blieb zeitlebens auf der Suche nach dem Ariadnefaden. Wir sprachen von den auf römische Vorbilder zurückgehenden in der Buchmalerei beliebten Labyrinthen, die im Mittelalter – so etwa ab 1100 – gerne in den Fußböden der Kathedralen dargestellt wurden, zum Beispiel in Amiens, Chartres, Reims und Pavia. Hier hatte sich nur ein Paradigmenwechsel vollzogen: Christus als der neue Theseus. Im Kölner Dom ist erst in unserer Zeit vor dem Eingang in die Begräbnisgruft der Erzbischöfe das Labyrinth von Chartres dargestellt worden. Seine Mitte aber ist das Jerusalemer Auferstehungskreuz. So werden der Ausweg aus dem Labyrinth und das Ziel unserer Suche angedeutet. Noch auf dem Krankenbett konnte ich mich mit Bernard Schultze darüber unterhalten.

Werner Hofmann wies bei dem Trauergottesdienst für Bernard Schultze am 26. April vergangenen Jahres auf dessen Sicht des Labyrinthes hin: „Die mythische Metapher dieser Augenwanderungen, das ist schon oft gesagt worden, ist das Labyrinth. In der Regel verstehen wir darunter eine verschlungene Raumfolge, die den, der sie betritt, nicht als überschaubare Topographie, sondern als Ablauf voller Überraschungen umfängt. Bernard hat der horizontalen Erstreckung des Labyrinths den Höhenflug in ein imaginäres Labyrinth der Lüfte hinzugefügt.“

Bernard Schultze spricht in seinem Werk das Lebensgefühl vieler Mitmenschen aus. Sie sind auf der Suche nach dem Lebenssinn, irren durch unentwirrbare Gefühlswelten, verlieren sich in Traum- oder Scheinwelten, machen Anleihen bei der antiken Mythologie oder fernöstlichen Religionen. Die Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen ist immer – wenn auch nicht bewusst – die Suche nach Gott. In dieser Suche offenbaren sich auch die Verletzlichkeiten und Hoffnungen des heutigen Menschen.

Auch für uns Christen ist die Suche nach Gott nicht abgeschlossen. Bei allem Großen, das in der Zeit der Kirche an christlicher Kunst entstanden ist, wissen wir, dass wir nur wie in einen zerbrochenen Spiegel schauen. Der heilige Paulus formulierte im 1. Korintherbrief: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ (1 Kor 13,12).

Auf dem Pavillon des Vatikans auf der Expo 2000 in Hannover war zu lesen: „Der Mensch ist der Weg der Kirche, Christus ist der Weg des Menschen.“ Hier entschlüsselt sich die Frage nach der Bedeutung des Werkes von Bernard Schultze für uns Christen. Eine solche Ausstellung vermag uns zu helfen, wach zu bleiben für die geistige Not unserer Zeit, in der auch so mancher Christ steckt. Aber Schultze verliert sich nicht nur in das Surreale und Dunkle. Zwar kannte er Phasen, in denen er wie Bosch und Breughel in die Abgründe menschlichen Lebens abtauchte, aber er rang sich auch immer wieder in das heitere Licht menschlicher Lebenserfahrung durch. Die in den Bildern – trotz aller dargestellten Verworrenheit und Zerbrechlichkeit – sichtbar werdende Schönheit durch Gesamtkomposition und Farbenpracht vermag auch den Betrachter froh und dankbar gegenüber Gott und seiner Schöpfung zu stimmen, in der wir mit dem Blick auf das große Ziel – wo sich alles entschlüsseln wird – leben dürfen.

Ich danke allen von Herzen, die sich am Zustandekommen dieser Ausstellung beteiligt haben: Frau Doris Schultze-Berger, der hier anwesenden Witwe unseres verstorbenen Künstlers, die sehr aufgeschlossen und kundig bei der Bildauswahl und Bereitstellung der einzelnen Arbeiten beteiligt war. Nach dem Tode von Bernards erster Frau Ursula, mit der ihn ein gemeinsames und doch sehr unterschiedliches künstlerisches Schaffen verband, hat sie ihn mit wachem Verstand und hingebungsvoller Anteilnahme gestützt und bis zu seinem Tod begleitet.

Ebenso danke ich den Verantwortlichen der Sammlung Würth und der Galerie Zellermayer für die kooperative Zusammenarbeit.

Ein herzliches Danke möchte ich aber auch unserem Domkapitular Dr. Lenssen, seinem Mitarbeiter Herrn Jürgen Emmert und allen Beteiligten unseres Kunstreferats sagen. Sie haben sich mit großem Einsatz an der Ermöglichung dieser Ausstellung beteiligt.

Allen, die in diesem Museum haupt-, neben- oder ehrenamtlich Dienst tun, möchte ich für ihre wertvolle Mitarbeit danken. Diese Ausstellung wird nur dann den damit verbundenen Aufwand rechtfertigen, wenn sie pädagogisch didaktisch durch fachkundige Helfer begleitet wird, die den Besuchern das große Werk Bernard Schultzes erschließen helfen – gemäß dem bekannten Diktum: Man sieht nur das, was man weiß. Möge diese Ausstellung viele Menschen erreichen und zu guten Gesprächen und geistigem Austausch führen.

Ich danke Ihnen!

(3906/1280)