Verehrte Angehörige, liebe Schwestern und Brüder!
Wenn ein Mensch stirbt, liegt es gerade bei einer profilierten Persönlichkeit wie Waldemar Zorn nahe, seine Bedeutung zu würdigen. Das ist sicher wichtig und richtig. Aber der christliche Glaube gibt uns eine andere Perspektive vor: Er ruft uns zur Deutung des Daseins aus der Überzeugung heraus, dass jedes Leben von Gott gewollt ist und im Tod nicht untergeht, sondern Ewigkeitswert besitzt. Von dieser Sicht her, die unseren Verstorbenen zutiefst geprägt hat, lässt sich seinem Wirken in einem größeren Horizont erschließen. Als Deutungshilfe dient mir dabei ein Wort, das im Evangelium gleich mehrmals vorkam: Wachsamkeit. Ich meine, dass es Wesentliches über Waldemar Zorn aussagt.
1. Wachsamkeit für die Menschen: In einem Zeitungsartikel anlässlich seines Ausscheidens aus der aktiven Politik wurde Waldemar Zorn unter anderem als „wachsamer Zeitgenosse“ gewürdigt. Das stimmt sicher insofern, als er stets nahe an den Menschen dran war und ihre Probleme und Sorgen aus vielen persönlichen Begegnungen kannte. Aber das allein erklärt noch nicht alles. Wachsamkeit kann ja auch misstrauisch machen. Waldemar Zorn war aber ein Politiker, für den Vertrauen eine wichtige Grundlage seines Handelns war. Auch wenn sein Vertrauen manchmal enttäuscht wurde, blieb es dennoch ungebrochen: Denn er war zutiefst davon überzeugt, dass sich der Wert eines Menschen nicht nach dem Bankkonto oder dem Bekanntheitsgrad bemisst, sondern darin besteht, dass er Gottes Geschöpf ist. Im Gespräch äußerte er einmal: „Weil Gott selbst ein Herz für uns Menschen hat, muss auch in unserem Bemühen der Mensch im Mittelpunkt stehen.“ Er hat diese Einsicht auf verschiedenste Weise verwirklicht: Ganz besonders in seinem Eintreten für soziale Belange und im Mühen um bessere Lebensperspektiven für Benachteiligte – ich erinnere nur an sein Engagement für Kinder und Jugendliche in Afrika und Osteuropa und in vielen anderem mehr. Wir werden Waldemar Zorn nur dann gerecht, wenn wir uns seine Wachsamkeit für die Menschen in der Weise zu eigen machen, wie sie ihm wichtig war: als gegenseitige Wertschätzung, die im letzten von der Zuneigung Gottes zu jedem von uns getragen ist.
2. Wachsamkeit für das Gemeinwohl. Das Engagement von Waldemar Zorn galt aber nicht nur dem Einzelnen, sondern erstreckte sich auf viele Bereiche des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens. Wenn man wissen will, warum ihm das Gemeinwohl so wichtig war, muss man wieder tiefer schauen. Aus seinem christlichen Glauben heraus war er fasziniert von der Einsicht, dass Gott den Menschen nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern auf Gemeinschaft hin geschaffen hat, woraus sich bei allen Spannungen und Unterschieden eine grundlegende Solidarität aller ergibt. Die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zeigten sich in seinem politischen Wirken unter anderem darin, dass er – bei aller Klarheit der eigenen Position – stets das Verbindende vor dem Trennenden und das Gemeinsame vor dem Unterscheidenden sah. Seine Kontakte mit Regionen in Israel und Tschechien z. B. waren von der Überzeugung geprägt, dass echte Versöhnung nicht nur von der Aufarbeitung der Geschichte lebt, sondern genauso gemeinsame Zukunftsaufgaben im Blick haben muss. Diese Wachsamkeit für das Gemeinwesen konnte bei Waldemar Zorn freilich auch die Form des Widerstandes und des Widerspruches annehmen, wenn er Fundamente eines freiheitlichen Zusammenleben gefährdet sah, sei es durch Umtriebe rechtsradikaler Kreise oder im Wirken solcher Vereinigungen, die Menschen letztlich unfrei und abhängig zu machen drohen. Wir können von ihm lernen, dass das Gemeinwohl nie eine abstrakte Größe darstellt, sondern auf allen Ebenen des menschlichen Zusammenlebens wachsam gefördert und geschützt werden muss.
3. Wachsamkeit für Gott: Vor einigen Tagen hat jemand in einem Gespräch sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass Waldemar Zorn aufgrund seiner fortgeschrittenen Krebserkrankung wohl keine lange Lebenserwartung mehr habe. Ich habe damals widersprochen und auf den Satz verwiesen, der im Grußwort an die Landkreisbevölkerung an seinem 70. Geburtstag stand: „Ich weiß nicht, wie lange mir mein Herrgott noch Zeit für dieses Leben gibt. Eines aber weiß ich: Ich bin geborgen in seiner Hand.“ Daraus spricht nicht nur ein tiefes Gottvertrauen, sondern auch die Gewissheit, dass unsere wahre Lebenserwartung sich nicht auf die Spanne des irdischen Daseins eingrenzen lässt. Wer weiß, dass er im Leben und im Tod von Gott gehalten ist, kann nicht nur gelassener sein, sondern in allem Schmerz auch los-lassen – in der Überzeugung, dass unser Leben nicht verlorengeht, sondern in der Ewigkeit Gottes seine bleibende Erfüllung findet. Diese Lebenserwartung ist grenzenlos! Sicher, auch Waldemar Zorn kannte Stunden, in denen er um diese Einsicht hart ringen musste. Aber die Krankheit hat seinen Glauben, wie er mir einmal sagte, reicher und reifer gemacht: Reicher, weil er noch einmal in intensiver Weise erfahren durfte, von wie vielen Menschen – angefangen von seiner Frau, seiner Familie und zahlreichen Freunden und Weggefährten – er begleitet und mitgetragen war. Reifer, weil gerade die letzten Jahre seine Wachsamkeit für das Wirken Gottes noch einmal verstärkt haben, bis hin zu der Erfahrung, dass Gottes Menschwerdung, die wir an Weihnachten bald wieder neu feiern, unser ganzes Leben umfasst – die guten und die schweren Zeiten. Ich zögere nicht, Waldemar Zorn als einen Menschen zu bezeichnen, der anderen Mut gemacht hat, Gott ins Leben einzulassen – mit allen Konsequenzen.
Verehrte Angehörige, liebe Schwestern und Brüder!
Über den Todesanzeige für Waldemar Zorn steht der Satz von Adolph Kolping: „Wer Menschen gewinnen will, muss sein Herz zum Pfande geben.“ Ja, Waldemar Zorn war ein Mann, der sein Herz aus dieser Überzeugung heraus eingesetzt hat, er war ein Mensch, der aus der Antwort des Glaubens heraus seine Verantwortung für die Welt erkannte. Für mich und viele andere hat er überzeugend vorgelebt, dass Treue zur Kirche und Weite des Herzens keine Gegensätze darstellen, sondern einander durchdringen und bedingen. Bitten wir für ihn, dass Gott ihm die Erfüllung dessen schenkt, was er geglaubt und worauf er gehofft hat. Bitten wir auch für uns, dass sein Leben und Sterben uns Mut macht, das eigene Herz in gläubiger Wachsamkeit immer wieder neu auf Gott und die Menschen hin zu öffnen.
Amen.