Würzburg (POW) Die 1976 im Verlauf des an ihr vollzogenen Großen Exorzismus an Unterernährung gestorbene Anneliese Michel aus Klingenberg war nicht von Dämonen besessen. So lautete die Kernaussage von Professor Dr. Ulrich Niemann, Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Jesuitenpater, bei der Veranstaltung „Im Brennpunkt: Exorzismus oder Therapie? Ansätze zur Befreiung vom Bösen“ der Katholischen Akademie Domschule am Mittwoch, 14. Dezember, im Sankt Burkardus-Haus.
Vielmehr habe die Pädagogikstudentin an Epilepsie gelitten, sagte Niemann. Dafür spreche in erster Linie die Beschreibung ihrer Krampfanfälle. Sie dokumentierten die typischen Symptome einer Epilepsie wie Ohnmacht, Zuckungen und Zungenbisse. Ärzte hätten Anneliese Michel Medikamente gegen die epileptischen Anfälle verschrieben. „In seltenen Fällen kann durch die Behandlung mit Antiepileptika eine Psychose ausgelöst werden. Und das war bei Anneliese Michel der Fall.“ Aufgrund der Psychose habe sie sowohl unter optischen als auch unter akkustischen Halluzinationen gelitten, erklärte der Professor. „Sie hat Stimmen gehört, die ihr verboten haben zu essen und ihr befahlen, 600 Kniebeugen am Tag zu machen. Zudem hat sie Fratzen gesehen.“
Schuld am Tod von Anneliese Michel sei nicht der Große Exorzismus gewesen, sondern ihre Unterernährung in Verbindung mit der extremen körperlichen Anstrengung, sagte Niemann. „Bei einer Größe von 1,72 Meter hat sie nur noch 32 Kilo gewogen.“ Die Meinung des Professors: Anneliese Michels einzige Überlebenschance hätte in einer Zusammenarbeit von Ärzten und Seelsorgern gelegen. „Das exorzistische Gebet hätte durch einen Facharzt und/oder einen Psychologen begleitet werden müssen.“ Zwar hätten die Mediziner das Wissen und die Fähigkeiten besessen, um die Pädagogikstudentin zu heilen. Ihnen sei es jedoch nicht gelungen, ihr Vertrauen zu erwerben. Dieses wiederum hätten die Priester genossen. Ihr Defizit: die fehlenden medizinischen Kenntnisse.
Niemann ist der Überzeugung, dass der Glaube an Dämonen und Teufel kein rein kirchliches Problem darstellt, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Als Beweis dafür führte er Untersuchungen der Sekteninformationsstelle in Essen an: Von rund 800 entsprechenden Anfragen im Jahr 2004 sei lediglich ein Drittel von Menschen mit kirchlichem Hintergrund gekommen.
Obwohl die katholische Kirche die Vorschriften des Großen Exorzismus 1999 modifizierte, glaubt der Professor nicht, dass es in Deutschland zu weiteren, von offizieller Seite und damit von einem Bischof genehmigten Teufelsaustreibungen kommen werde. Seit Anneliese Michel sei ihm auch kein solcher Fall mehr bekannt. Er schloss sich in diesem Zusammenhang den Aussagen von Kardinal Karl Lehmann an. Der habe auf andere Möglichkeiten der medizinischen Behandlung in Kombination mit seelsorgerlicher und liturgischer Begleitung verwiesen.
Niemanns Fazit war zugleich ein Appell an die Verantwortlichen: Die frohmachende und befreiende Botschaft des christlichen Glaubens eröffne – in Verbindung mit fachärztlicher und therapeutischer Hilfe – Möglichkeiten zum heilsamen Umgang mit Menschen, die sich dämonisch besessen wähnten. Sie zeige einen Weg „zur Befreiung vom Bösen“. Jesus Christus sei stärker als alles Böse, das einen Menschen bedrohen könne.
Anlass des „Brennpunkts“ der Katholischen Akademie Domschule war der am 24. November in den deutschen Kinos angelaufene Film „Der Exorzismus von Emily Rose“. Dessen Hintergründe basieren auf den Ereignissen von Klingenberg in den Jahren 1975/76.
Eva Wiedemann (POW)
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