Eine barmherzige Schwester
Wer Schwester Julitta begegnet, wird von ihr beschenkt. Das haben viele erfahren. Etliche von ihnen leben noch unter uns und können das bezeugen. Manche, die besonders in der Not der Nachkriegszeit beim Kloster in der Ebracher Gasse Hilfe suchten, haben sie durch die Pfortenschwester Julitta erhalten. Auch über die zeitweilige innerdeutsche Grenze hinweg stand die Schwester Menschen bei: Unermüdlich versandte sie Pakete nach drüben; oft haben deren Empfänger darüber gestaunt, dass sie gerade das bekamen, was sie brauchten. Ältere Erlöserschwestern haben nicht vergessen, was sie ihnen im Dienst in der Schule und an der Pforte mit auf den Weg gegeben hat. All das ist typisch für den lebenslangen Einsatz von Schwester Julitta. Er geschah ganz im Zeichen der Barmherzigkeit. Früh schon hatte sie die Liebe Gottes erfahren. Entschieden hat sie sich in den Dienst der Barmherzigkeit gestellt. Immer tiefer wurde sie in das Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit hineingeführt. So sagt uns ihr ganzes Leben und Wirken: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“ (Lk 6,36).
Vergegenwärtigen wir uns zunächst ihren Lebenslauf. Als siebtes Kind der Bauersleute Alois und Maria Eva Ritz wird Schwester Julitta 1882 im nordbadischen Uissigheim geboren und auf den Namen Theresia getauft. Fünf ihrer Kinder mussten die Eltern früh zu Grabe tragen. Von den vier Töchtern, welche die Eltern überleben, gehen drei ins Kloster. Als die Mutter der kleinen Theresia von Gott erzählt, wird die Freude an Gott in ihr wach und sogleich das Verlangen, „dem lieben Gott mein Leben lang recht treu zu dienen.“1 Freude – Treue – Dienst: Das ist der Grundakkord ihres Lebens. Mit 19 Jahren tritt sie in die Kongregation der Töchter des allerheiligsten Erlösers in Würzburg ein. Bald schon wird sie für den Schuldienst bestimmt. Dieser wurde neben der Armenpflege als „die hauptsächlichste caritative Tätigkeit der Schwestern“ angesehen2. Vier Jahre wirkt Schwester Julitta in der Volksschule in Obernau, ein Jahr in der Haushaltungsschule in Lülsfeld. Von 1910 an ist ihr die Betreuung klösterlicher Schülerinnen im Mutterhaus anvertraut. Als durch die Maßnahmen der damaligen Machthaber die Zahl der Schülerinnen zurückgeht, hilft sie an der Pforte mit. Von 1940 an wird der Pfortendienst ihre berufliche Hauptaufgabe. Damit ist ihr ein Platz zwischen Kloster und Welt zugewiesen. Zwei Jahre vor dem Untergang des alten Würzburg wird Schwester Julitta die Zerstörung des Mutterhauses offenbart. Das trifft sie umso mehr, als während des Krieges zusätzlich Schwestern aus anderen Orden, volksdeutsche Umsiedler, 160 Frauen und Kinder aus kriegsgefährdeten Gebieten und schließlich rund 200 verwundete Soldaten im Mutterhaus untergebracht sind.
Am 16. März 1945 vollzieht sich das Geschaute. Schwester Julitta hält fest: „In etwa 18 Minuten brannten alle Gebäude des Mutterhauses und der ganzen Innenstadt. Im Mutterhaus blieben alle durch Gottes gütigen Schutz unversehrt am Leben.“3 Wie ein Wunder erscheint es, dass angesichts der Zerstörung der Stadt unter den rund 5000 Toten kein einziges Todesopfer im Bereich des Mutterhauses zu beklagen ist. Ungefähr 300 Schwestern und 200 Soldaten haben, vom Flammenmeer umgeben, mitten in der zu 90% zerstörten Innenstadt das Inferno überlebt. Nach diesem Luftangriff finden die Schwestern im Kloster Heidenfeld Zuflucht. Schwester Julitta übernimmt dort den Pfortendienst. Vom Oktober 1946 bis zu ihrem Tod nimmt sie nochmals 20 Jahre lang diese Aufgabe im Mutterhaus wahr. Im Alter von 84 Jahren wird sie am 13. November 1966 heimgerufen.
Typisch für ihren Pfortendienst ist ein Erlebnis, das sie ihrem „Geistlichem Vermächtnis“ anvertraut. Eines Tages ist es ihr, als reiße Gott ihr das Herz aus ihrem Leib. Dann gibt er es wieder zurück; „die Liebeswunde hatte die Form einer Pforte angenommen; Gott Vater bedeutete: >Für die Nöte der Zeit<.“4 Die Pforte wird zum Zeichen der Liebe Gottes und zugleich zum Ort, an dem diese weitergegeben wird.
Das lenkt unseren Blick auf die Erfahrungen der Barmherzigkeit Gottes, die Schwester Julitta im Lauf ihres Lebens geschenkt wurden.
Gottes Barmherzigkeit
Erst nach ihrem Tod hat man nach und nach erkennen können, wie intensiv Schwester Julitta gelebt und geliebt hat. Die Hilfen, die sie so vielen Menschen zuteil werden ließ, kamen aus einer tiefen Quelle. Ihre Barmherzigkeit ging aus der Barmherzigkeit Gottes hervor, die sie immer wieder neu erfahren hat. Sie sah es als ein unbegreifliches Wunder der Liebe Gottes an, dass er sich ihrer erbarmte, einer Frau, die von sich aus nichts ist und nichts kann. Zutiefst beeindruckte sie, dass Gott ihr nicht nur Gaben seiner Liebe schenken wollte, sondern sich selbst. Sie sollte nicht nur Liebe empfangen, sondern das Lieben selber. Sie sah sich berufen, eine Mitliebende Gottes zu werden. Das bewegte sie um so mehr als sie erkannte, dass Gott ganz und gar Liebe ist. Vom Feuer der Liebe Gottes erfasst geht ihr auf: Gott kommt nicht irgendwann zur liebenden Tat; er ist von Ewigkeit zu Ewigkeit liebende Tat und so liebende Gemeinschaft. Liebe ist sein Leben; Liebe ist sein Wesen; Liebe ist seine Seligkeit; Liebe ist seine Herrlichkeit.
Gott ist der Vater, der so ganz Liebe ist, dass er alles hingibt. Er schenkt „sich selbst, seine ganze göttliche Wesenheit jeden Augenblick aufs Neue.“5 Da der Vater in Ganzhingabe lebt und „die ganze Fülle seines Seins dem Sohn verleiht als ein Sichschenken an den Sohn“6, ist dieser göttlich groß wie der Vater; er ist ganz der Vater. Daher lebt auch dieselbe Hingabefähigkeit und –bereitschaft in ihm. Vorbehaltlos gibt er das Empfangene dem Vater zurück. Aus der wechselseitigen Liebe von Vater und Sohn geht von Ewigkeit her die dritte göttliche Person hervor, der Heilige Geist. In erkennender Liebe und in liebendem Erkennen leben die drei göttlichen Personen von Ewigkeit zu Ewigkeit miteinander, füreinander, ja: ineinander. „Das Leben Gottes ist flutendes Leben, ist strömende Liebe“7, ist liebendes Miteinander. In ihrem geistlichen Vermächtnis hält Schwester Julitta fest: „Gott Vater erkennt sich in seinem göttlichen Sohn und er liebt ihn, und der Sohn liebt den Vater, und diese Liebe ist gleichsam wesenhaft, ist der Heilige Geist.“8 In einer für uns unvorstellbaren Weise, die alles Menschliche Einswerden und Einssein übersteigt, sind die drei göttlichen Personen eins im Sein und im Tun: „Gott Sohn in Gott Vater, der Heilige Geist in Gott Vater und Gott Sohn; die drei göttlichen Personen also ineinander.“9
An dieser Glückseligkeit soll der Mensch teilhaben. Wie nur wenige mystisch begnadete Menschen im Lauf der Jahrhunderte ist Schwester Julitta von diesem Werk der Barmherzigkeit Gottes bewegt. Immer wieder versucht sie aufs Neue, auf das hinzuweisen, was sich unseren Vorstellungen und Gedanken und erst recht unseren Worten entzieht. Bei all dem verliert sie die Bodenhaftung nicht. Der Aufblick zum dreieinen Gott bedeutet kein Sichabwenden von den Dingen und Aufgaben dieser Welt. Wie die Liebe Gottes jedes Wesen umfängt und umsorgt, so bringt sie allen, die sich von ihr erfassen lassen, die Mitmenschen nahe. Entsprechend heißt Schwester Julittas Devise: „Dem Herrn anhangen und den Mitmenschen dienen und sie für Gott gewinnen, (das) ist erst unsere volle Christenpflicht und Lebensforderung.“10 Biblisch ausgedrückt heißt die Aufgabe: „Martha und Maria vereint als ganzes“ leben. „Dem Herrn hingegeben, von ihm mich lieben lassen … (und) mich verschenken auch an Mitarbeiter im Weinberg des Herrn.“11 Und wiederum: „Von Gott bewegt, den Menschen dienen und hierbei sein heiligstes Antlitz nicht aus dem Auge verlieren.“12
Unsere Barmherzigkeit
Maria und Martha zugleich! Das ist nicht ein Sonderprogramm für auserwählte Seelen, das ist unser aller Aufgabe! Schwester Julitta hat entschieden betont, dass die mystischen Erfahrungen jeden einzelnen Christgläubigen betreffen, dass alle sie durch die Taufgnade erhalten13. In jedem Fall ist das, was sie als Gabe der Barmherzigkeit des Vaters erkennt, uns allen zugedacht. An uns ist es, entsprechend zu handeln. Allenthalben brauchen wir einen Weltdienst, der von der Gottesgemeinschaft beseelt wird, so wie wir Beten und Opfern brauchen, die gelebte Weltverantwortung sind. Wir brauchen Brückenbauer zwischen Kirche und Welt, zwischen den vielen Gemeinschaften wie zwischen den Menschen, die durch vieles voneinander getrennt sind. Mehr noch brauchen wir Menschen, die selber lebendige Brücken sind. Schwester Julitta zählt zu ihnen. Sie kann uns helfen, dass auch wir unsere Berufung entdecken und ihr gemäß leben. Uns allen sagt der Herr: „Seid barmherzig, wie es euer Vater ist“ (Lk 6,36). Uns allen verheißt er: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden“ (Mt 5,7). Amen.